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Die Hölle, das sind die NachbarnVon Stefan Schmöe / Fotos von Paul Leclaire
Geographisch und noch mehr musikalisch ist der Broadway ganz nah. Und doch ist er mit seiner Glamour-Sphäre unendlich weit entfernt für die Menschen in der Lower East Side, die Kurt Weill in dieser Oper portraitiert hat - eine fremde, unerreichbare Welt. Stattdessen: Ein Wohnblock im kleinbürgerlichen Einwanderermilieu, man hält sich eben so über Wasser. (Oder auch nicht; die deutschstämmige Familie Hildebrand wird wegen Zahlungsunfähigkeit kurzerhand auf die Straße gesetzt.) Der soziale Druck ist ebenso groß wie die nachbarschaftliche Überwachung - nichts bleibt ungesehen in diesem Mikrokosmos. Auch nicht die kurze Affäre von Anne Murrant mit dem Milchmann Sankey. Annes Mann Frank, ein rauhbeiniger Alkoholiker, überrascht die beiden und erschießt sie. Die Aufregung dauert nicht lange an, da geht das Leben schon weiter. Ensemble
Regisseur John Fulljames zeigt die Oper weitestgehend ungebrochen als Genrestück der frühen 1930er-Jahre, in der Ausstattung von Dick Bird und dem Lichtdesign von James Farncombe in historisierende Sepia-Farben gehüllt. Die Kostüme haben genauen Zeitbezug, der Wohnblock dagegen ist stilisiert dargestellt durch ein Metallgestell - dieser Verzicht auf ein realistischeres Bühnenbild sichert, dass die Inszenierung nicht zu stark in Richtung Ausstattungsoper abrutscht. Die transparente Bauweise unterstreicht gleichzeitig, dass hier nichts verborgen bleiben kann. Im Hintergrund schimmert die beleuchtete Skyline durch, wenn es Nacht geworden ist. Mülltonnen und ein Hydrant verdichten die Atmosphäre. Vom Band kommen immer wieder Einspielungen von Straßenlärm. Als Spielfläche bleibt, neben dem Auf und Ab im Wohnblock, nur ein relativ schmaler Streifen - aber den nutzt Fulljames mit unglaublicher Virtuosität in der Personenregie, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet ist. v.l.n.r.: Carl Olsen (Scott Wilde), Henry Davis (Mandisinde Mbuyazwe), Lippo Fiorentino (Martin Koch), Olga Olsen (Adriana Bastidas-Gamboa), George Jones (James McOran-Campbell), Greta Fiorentino (Claudia Rohrbach)
Auch wenn Chor und Kinderchor auf der Bühne sind, hat jeder Akteur seine individuelle Aufgabe - das besitzt eine Präzision, wie man sie vom Film, weniger von der Oper kennt. Nie sind die Bilder statisch, auch bei Massenszenen ist immer irgendetwas in Bewegung. Fulljames entwickelt die Regie ausgehend von den (in englischer Sprache) gesprochenen Passagen, die sehr sorgfältig durchgestaltet sind. Offensichtlich wurde bei der Auswahl der Darsteller viel Wert daraufgelegt, dass Erscheinungsbild wie schauspielerische Fähigkeiten möglichst perfekt der jeweiligen Rolle entsprechen - und bis hin zu den von Kindern übernommenen Partien wird das Konzept hervorragend umgesetzt. Handwerklich ist diese Regie eine Meisterleistung.. Anna Maurrant (Allison Oakes), Frank Maurrant (Kyle Albertson), Emma Jones (Dalia Schaechter), Greta Fiorentino (Claudia Rohrbach)
Fulljames unterschlägt auch nicht die Revue-Elemente, die einen Bogen von der europäischen Operntradition zum Broadway-Musical schlagen. Immer wieder wird zu einzelnen Nummern getanzt, wenigstens andeutungsweise (Choreographie: Arthur Pita), und der lineare Ablauf damit unterbrochen. Passend dazu schlägt Dirigent Tim Murray mit dem sehr guten Gürzenich Orchester, hinter der Bühne platziert, einen satten Musical-Sound an, Pathos nicht scheuend, gerne im Stil einer Bigband. Ein wenig Kitsch darf dabei auch sein. Ganz großes Kino sozusagen, und es sind die Genauigkeit der Regie und das Gefühl für Tempo, die ein Abgleiten in nostalgische Gefälligkeit verhindern. Kinderchor
Dazu wird auf hohem Niveau gesungen, nicht zuletzt von Chor und Kinderchor (Einstudierung: Rustan Samedov). Vom jungen Paar Rose Murrant (Katherine Henly) und Nachbar Sam Kaplan (Jack Swanson) hätte man sich mitunter etwas größere Stimmen gewünscht, aber das lyrische, ein wenig zerbrechliche Element passt natürlich zu den beiden, denen nach der Ermordung von Roses Mutter durch den eigenen Vater keine gemeinsame Zukunft beschieden ist. Oliver Zwarg verleiht dem Frank Murrant imposante Wucht, hinter der man die Angst ahnt, ein beeindruckendes Rollenportrait. Allison Oakes singt dessen Frau Anne mit anrührender Intensität, wenn auch eine Spur zu sehr in Leidenspose. Auch die weiteren Partien sind durchweg gut besetzt. Diese exzellente Ensembleleistung trägt maßgeblich bei zu einer sehr dichten und spannenden Aufführung, bei der manches aus dem New York von 1930 wie etwa die hassverzerrten Tiraden gegen Zugezogene und deren vermeintlich unzureichende Anpassungsfähigkeit bestürzend aktuell klingen.
Ebenso sehens- wie hörenswert: Die detailbesessene Regie von John Fulljames entwickelt erhebliche Sogkraft, die sehr gute musikalische Umsetzung verortet Street Scene wirkungsvoll als Broadway Opera. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Mitarbeit Regie, Einstudierung
Bühne und Kostüme
Lichtdesign
Choreographie
Choreographische Einstudierung
Klangregie
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Frank Maurrant
Anna Maurrant
Rose Maurrant
Willie Maurrant
Abraham Kaplan
Sam Kaplan
Shirley Kaplan
George Jones
Emma Jones
Mae Jones / Erstes Kindermädchen
Vincent Jones / Neuer Mieter / Krankenwagenfahrer
Greta Fiorentino
Lippo Fiorentino
Carl Olsen
Olga Olsen
Daniel Buchanan
Henry Davis
Mrs. Davis
Mrs. Hildebrand
Charlie Hildebrand
Jennie Hildebrand
Harry Easter
Dick Mcgann
Steve Sankey
Zweites Kindermädchen
Mutter / Neue Mieterin
Dr. Wilson / Arbeiter
Offizier Murphy, Milchmann
City Marshall
Fred Cullen / Polizist
Polizist / Arbeiter
Polizist / Krankenwagenfahrer
Joe
Tänzerinnen und Tänzer
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