Surreale
Lebensbeichte
Von
Bernd
Stopka / Fotos von Wilfried
Hösl
Karl
V. war das erste
abendfüllende
Musiktheaterwerk, das
durchweg in Zwölftontechnik
komponiert wurde. Diese, von
Schönberg und seinen
Kollegen der Zweiten Wiener
Schule erdachte,
sachlich-akademische
Sichtweise auf eine
Gleichberechtigung der
12 Töne der
chromatischen Skala, die in
beliebige Reihenfolgen
gestellt immer wieder
variiert werden, hat der
Komponist Ernst Krenek nicht
zufällig für Karl V.,
Bühnenwerk mit Musik in
zwei Teilen, gewählt.
Die finale Einsicht des
Kaisers des Heiligen
Römischen Reichs Deutscher
Nation, dass die
Gleichberechtigung
verschiedener Sichtweisen,
Glaubensrichtungen und
Lebenshaltungen elementar
ist, spiegelt sich in diesem
Kompositionsprinzip wider.
Krenek – der auch das
anspruchsvolle Libretto
schrieb – hält sich bis auf
wenige Ausnahmen sehr nah an
die geschichtlichen Fakten.
Er kombiniert gesungene,
gesprochene und im
Sprechgesang gehaltene
Passagen, so dass die
Textverständlichkeit sehr
gut ist und man der Handlung
jederzeit folgen kann.
Karl (Bo Skovhus) vor Tizians "Das Jüngste
Gericht"
Nachdem Karl V. abgedankt
hatte, zog er
sich ins
Kloster San
Geronimo de
Yuste zurück
und legt nun
auf Nachfrage
Gottes und
quasi als
Generalprobe
für das
Jüngste
Gericht dem
jungen Mönch
Juan de Regla
seine
Lebensbeichte
ab - in
Rückschauen,
die uns durch
die wichtigen
Stationen der
ersten Hälfte
des 16.
Jahrhunderts
führen. Krenek
zeigt einzelne
Episoden, die
Marksteine im
Leben eines
Herrschers
waren, der
seinen, nach
eigener
Überzeugung
von Gott
gegebenen,
Auftrag darin
sah, die Welt
unter dem
Himmel des
christlichen
(des
katholischen!)
Glaubens zu
vereinen und
fremde
Einflüsse,
insbesondere
reformatorische
und
osmanische, zu
bekämpfen. Im
Rahmen seiner
Rückschau
durchlebt Karl
sein Leben
erneut,
betrachtet
kritisch seine
Entscheidungen
und Haltungen,
erkennt
Irrtümer und
Fehler. Sein
Scheitern in
Sachen
christliches
Weltreich
führt er
darauf zurück,
dass man die
Vielfalt
(„Vielheit“)
der Welt, des
Glaubens, der
individuellen
Menschlichkeit
und die Frage
des Rechts
nicht mit
Gewalt unter
eine Glocke
drücken kann,
sondern sich
mit Toleranz
aufeinander zu
entwickeln
lassen muss.
Krenek legt
damit den
Fokus auf das
Scheitern von
Karls
Weltmachtstreben
und bezieht
die Geschichte
auf die
politische und
gesellschaftliche
Gegenwart der
Entstehungszeit
(der
martialische
deutsche
Nationalismus
wird dabei
besonders
scharf
gezeichnet).
Das 1933
vollendete
Werk wurde
nicht wie
geplant in
Wien
uraufgeführt,
denn Krenek
stand wegen
Jonny
spielt auf
auf der
schwarzen
Liste der
Nationalsozialisten
und wurde von
der
aufkommenden
österreichischen
„Heimwehr“
verpönt. Erst
1938 wurde
Karl V. im
noch nicht
annektierten
Prag
uraufgeführt,
um dann bis
1950 von den
Bühnen der
Welt zu
verschwinden,
auf denen es
auch danach
nur noch
wenige Male
wiederzufinden
war. Umso
beeindruckender
ist es, dass
das Münchner
Nationaltheater
Karl V.
nun, 2019,
nach einer
Produktion im
Jahr 1965 zum
zweiten Mal
auf den
Spielplan
gesetzt hat.
Franz I. (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke),
Statisten
Regisseur
Carlus
Padrissa,
Mitglied und
Mitbegründer
der
Theatergruppe
La Fura dels
Baus,
betrachtet die
weltpolitischen
Fragen wie
auch den
individuellen
Menschen Karl
gleichermaßen
und geht mit
Lita Cabellut,
die für
Bühnenbild,
Kostüme und
Videos
verantwortlich
zeichnet,
einen Schritt
weiter. Sie
stellen die
derzeit wieder
höchst
aktuellen
Fragen, die
das Werk
aufwirft, als
zu jeder Zeit,
in jedem Raum
und in jeder
Gesellschaft
elementar dar,
indem sie die
Geschichte in
eine surreale,
fantastische
Welt stellen,
in der reale
Bilder
übermalt,
gedehnt,
verzerrt,
verschoben –
und vor allem
bühnenhoch und
-breit
gespiegelt
werden. „Die
Welt muss
vielfältig
sein, darin
spiegelt sich
ihr Reichtum“
kann als das
Credo des
Regisseurs
verstanden
werden.
„Globalisierung
mit nur einer
Denkweise“ ist
nicht möglich,
ja verheerend.
Und das ist
höchstaktuell.
In eine
fiktive Welt
gestellt,
entsteht eine
Distanz, die
Nähe bewirkt
(ein oft
erklärter
Regie-Ansatz,
der hier
tatsächlich
auch gelingt).
Zudem stehen
diese Bilder
in ihrer
surrealen
Modernität im
harmonischen
Einklang der
(unharmonischen)
Musik. Als
opulente
historisierende
Ausstattungsoper
würde das
nicht
funktionieren.
Mit einer
geradezu
überbordenden
Fülle
emotionalisierender
Bilder gelingt
es hier, auch
Skeptiker der
Projektionstechnik
von diesem
Gestaltungsmittel
zu überzeugen,
weil es als
Weg, etwas
darzustellen
eingesetzt
wird, nicht um
seiner selbst
willen und
nicht, um
parallel eine
andere
Geschichte zu
erzählen,
insbesondere
im kongenialen
Zusammenschluss
weiterer
theatertechnischer
Mittel. Der
Film- und
Kinoenthusiast
Krenek hätte
sicher seine
helle Freude
daran gehabt.
Überdimensionales
und
Miniaturhaftes,
Schrilles und
Geheimnisvolles,
vielfach
Gespiegeltes
und gigantisch
Aufgeblasenes
ist da auf
einer von
Wasser
gefluteten
Bühne zu sehen
(wichtigste
praktische
Requisiten der
Kostüme:
Variationen
von
Gummistiefeln).
Sind das schon
die Wasser der
Lethe? Ach
nein, wir sind
ja in der
christlichen
Welt. Tizians
„Jüngstes
Gericht“
scheint
lebendig zu
werden, indem
eine
lurchähnliche
Gestalt an ihm
hinaufklettert.
Mit
staatsanwaltlicher
Genauigkeit
zählt
Mechthild
Grossmann aus
dem Off Karls
Titel auf, was
an die
habsburgische
Anklopfzeremonie
erinnert und
so steht er
denn auch da,
in der Oper
nur noch Karl
genannt, nicht
nur ein Mensch
wie alle,
sondern ein
armes
Menschlein in
seinem kurzen
Hemd, auf das
eine
Uhr-Spirale
gedruckt ist,
in uhrzeitlich
bedruckten
Strumpfhosen
und mit 5
harten, hoch
aufstehenden
goldgelben
Zöpfen, die
für den
surrealen
Anteil sorgen.
Mit „Feuer,
Wasser, Luft
und Erden“
führt uns Karl
durch seine
Lebensbeichte.
Spätestens
seit der Zauberflöte
weiß der
Opernbesucher,
dass man
dadurch „rein“
werden kann.
Ein gewaltiger
Wasserschwall
fällt aus
einem Knäuel
scheinbar
nackter
Menschen, die
an Seilen auf
verschiedenen
und
wechselnden
Ebenen von der
Bühne
herabhängen
und sich im
Laufe des
Abends
szenenbezogen
in immer
wieder neuen
Gebilden
zusammenfügen,
bis hin zu
einem
DNA-ähnlichen
Gebilde am
Ende, wenn es
zurück an den
Ursprung
geht.
Frangipani
(Kevin
Conners), Franz
I. (Wolfgang
Ablinger-Sperrhacke)
In solch einem
Menschenknäuel
sieht man
Karls Erzfeind
Franz I., der
später selbst
hochelegant
auf ein
Urnen-Vasen-Säulen-Gebilde
schwebt, das
seinen
Gefängnisturm
darstellt.
Sein
königlicher
Kopfschmuck
ähnelt dem
Karls – er
sieht damit
aber eher wie
eine Mischung
aus
80er-Jahre-Punker
und
Karnevalsprinz
aus. An einer
Stelle tritt
auch der
Beichtvater-Mönch
leibhaftig in
Karls
Erinnerung,
was doch ein
bisschen viel
des Surrealen
ist.
Die
Erscheinung
der Mutter als
zunächst
verhängte
Pietà gelingt
höchst
eindrucksvoll.
Dass die Regie
auf den
wurmstichigen
Apfel
verzichtet,
mit dem die
Mutter dem
Sohn deutlich
macht, dass
der Tod in
allem steckt,
und sie ihm
gleich eine
gläserne
Weltkugel mit
Wurm
überreichen
lässt, nimmt
die später
zerschellende,
Vertragspapiere
und
dergleichen
freigebende
Weltkugel
vorweg. Die
Glaskugel
steht dann
durchweg als
stetige
Mahnung auf
dem
Souffleurkasten.
„Von innen
zerbricht die
mühsam gefügte
Welt - eine
Kugel von
Glas“ ist der
Hinweis aus
dem Libretto
zu diesem
Bild.
Zur
Darstellung
des Reichstags
zu Worms tritt
Luther durch
den
Zuschauerraum
vor die erste
Parkettreihe,
wirft
Flugblätter
ins Publikum
(die 95
Thesen?), die
den
Opernbesuchern
von seinen
Gegnern gleich
wieder
entrissen
werden. Dass
Karl Luther
freiließ,
sehen der
junge Mönch
und später
auch der
Jesuit
Francisco
Borgia (mit
Totenschädel
auf der Kutte)
als seinen
größten Fehler
an.
Auch für das
Plündern der
Neuen Welt
muss sich Karl
verantworten.
Nutzte er das
Gold auch als
Kapital zur
Christianisierung,
konnte dies
vielleicht vor
seinem
Gewissen
standhalten,
nicht aber vor
dem Volk, das
seinen Anteil
haben will und
„wo ist das
Gold“ zischend
auf den
Armlehnen das
Parkett
hinaufklettert,
was zur
goldenen
Beleuchtung
des
Zuschauerraumes
einen enormen
Effekt macht.
Der Schmerz
über den Tod
seiner
geliebten Frau
lässt Karl für
einen Moment
sein Motto
„Immer weiter“
in „nicht mehr
weiter“
ändern, eine
höchst
menschliche
Szene.
Die
Erscheinung
der vier
Geister lässt
die Regie ganz
auf sich
gestellt
wirken und
gönnt dem
Publikum einen
visuellen
Ruhepunkt. Das
Auftreten der
vier Uhren am
Ende (die Uhr
der Einheit
der Welt, die
Uhr des Amtes,
die Uhr des
Lebens, die
Uhr der Welt)
geht aber
leider
irgendwie
unter. Sultan
Soliman
triumphiert
mit
überdimensionalem
Turban über
das
Missglücken
der
christlichen
Einheit und
freut sich
darüber, dass
sich die
Völker
weiterhin die
Köpfe
einschlagen.
Zuvor hatte
dies das
deutsche Volk
eindringlich
bewiesen: Sie
wollen
weiterhin
Deutsche sein
und keine
Weltbürger.
Mit
martialisch-militanter
Musik
erschreckt
diese Szene
zutiefst und
es wundert
nicht, dass
diese Oper von
den
Nationalsozialisten
verboten
wurde.
Franz I. (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke),
Eleonore (Gun-Brit Barkmin), Karl (Bo
Skovhus)
Unter 12 schnelllaufenden
Uhren, die
unterschiedliche
Zeiten des
Weltreichs
anzeigen,
liegt Karl –
historisch
belegter
Uhrenfanatiker,
der sich
wünschte alle
Uhren der Welt
gleich laufen
zu lassen und
gleichzeitig
zum Schlagen
zu bringen.
Als ob der
Sterbende
nicht genug
mit sich
selbst
auszumachen
hätte, legt
auch noch der
erneut
erscheinende
Luther
seinerseits
seine
Lebensbeichte
an Karls
Sterbebett ab,
ebenso Karls
Schwester
Eleonore. Sie
jubelte -
unter den
durch ihre
Kostüme und
mit einer
musikalischen
Wendung an
Klingsors
Blumenmädchen
erinnernden
Verehrerinnen
– Franz I.,
dem Erzfeind
ihres Bruders
zu und wurde
als
Friedenspfand
an ihn
verschachert.
Leider ging
die Rechnung
nicht auf und
Franz I.
erwies sich
als nicht
vertrauenswürdig.
Zur nun auch
final
erklingenden
markanten
Stimme aus dem
Off (ebenso
wie die
Titelaufzählung
zu Beginn eine
Textbeigabe
der Regie) mit
der Devise des
spanischen
Wappens und
Karls
persönlichem
Wahlspruch
„Plus Ultra“ –
„Immer weiter“
– liegt
Karl nicht auf
seinem
Sterbebett wie
oft im zweiten
Teil, sondern
steht aufrecht
da, schaut ins
Publikum und
erwartet nicht
nur das
Jüngste
Gericht,
sondern auch
das Urteil der
Nachgeborenen,
unsere
Einschätzung,
unsere Ideen,
unser
Bessermachen.
Mit Bo Skovhus
steht ein Karl
auf der Bühne,
der diese
Figur bis in
die
Fingerspitzen
durchlebt, der
glaubhaft
leidet und
zweifelt – und
der die Partie
nicht nur
ausdrucksvoll,
sondern auch
wunderschön
singt. Als
seine Mutter,
Johanna die
Wahnsinnige,
bewegt Okka
von der
Damerau mit
sicher
geführtem Alt.
Wolfgang
Ablinger-Sperrhacke
bewältigt die
undankbare
Partie des
unsympathischen
Franz I.
bravourös.
Gun-Brit
Barkmin wirft
sich mit viel
Leidenschaft
in die Partie
der immer
leidenden
Eleonore.
Scott
McAllister
pocht als
Francisco
Borgia
klangvoll und
eindringlich
auf Buße und
Reue. Michael
Kraus ist ein
mit
machtvoller
Stimme
überzeugender
Luther und
Janus Torp ist
eine
Idealbesetzung
für die
Sprechrolle
des Juan de
Regla, der als
junger Mönch
unter der
gewaltigen
Beichte schier
zusammenbricht.
Staatsorchester
und Chor
bestehen die
Herausforderung
der
zwölftönigen
Partitur mit
Bravour. Erik
Nielsen hält
die Fäden,
oder besser
die Reihen, in
sicheren
Händen und
beweist, wie
eindringlich
und
ausdrucksvoll
in
Zwölftontechnik
Komponiertes
klingen kann.
Denn auch wenn
man die Reihen
in ihren
Varianten
nicht
(wieder)erkennt,
spürt man
doch, dass es
eine Ordnung
gibt und die
Klänge nicht
willkürlich
zusammengeworfen
wurden.
FAZIT
Immer
ist irgendwo der Wurm drin, vermittelt Karls Mutter.
Hier nicht. Eine im wahrsten Sinne fantastische,
grandiose Produktion, in der musikalisch und
szenisch alles zusammenpasst und stimmig ist.
Ihre
Meinung ?
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Erik Nielsen
Inszenierung
Carlus Padrissa -
La Fura dels Baus
Regie Mitarbeit
Esteban Muñoz
Bühne, Kostüme, Videokonzept
Lita Cabellut
Videodesign
Marc Molinos
Spezialeffekte
Thomas Bautenbacher
Licht
Michael Bauer
Chöre
Stellario Fagone
Dramaturgie
Benedikt Stampfli
Chor der
Bayerischen Staatsoper
Statisterie der
Bayerischen Staatsoper
Bayerisches
Staatsorchester
Solisten
Karl V.
Bo Skovhus
Juana, seine Mutter
Okka von der Damerau
Eleonore, seine Schwester
Gun-Brit Barkmin
Ferdinand, sein Bruder
Dean Power
Isabella, seine Gattin
Anne Schwanewilms
Juan de Regla, sein Beichtvater
Janus Torp
Francisco Borgia, Jesuit
Scott MacAllister
Pizarro
Kevin Conners
Franz I.
Wolfgang Ablinger-Sperrhacke
Frangipani
Kevin Conners
Luther
Michael Kraus
Ein Anhänger Luthers
Dean Power
Sultan Soliman
Peter Lobert
Sein Hofastrolog
Kevin Conners
Erster Geist / Erste Uhr
Mirjam Mesak
Zweiter Geist / Zweite Uhr
Anaïs Mejías
Dritter Geist / Dritte Uhr
Natalia Kutateladze
Vierter Geist / Vierte Uhr
Noa Beinart
Henri Mathys,
Papst Clemens,
Moritz von Sachsen,
Alacron,
Alba,
Kardinal
(Toneinspielungen)
Mechthild Großmann
Weitere Informationen:
Bayerische
Staatsoper München
(Homepage)
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