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Eine Mordsrevue
Von Stefan Schmöe / Fotos © Oliver Berg, Theater Münster ,Man wird nicht glauben, wie viele Leute sich ein Bild mit dem elektrischen Stuhl ins Zimmer hängen - vor allem, wenn die Farbe des Bildes mit den Vorhängen übereinstimmt!" So soll das Andy Warhol gesagt haben, der dem Hinrichtungsinstrument den Einzug in die Kunstgeschichte sicherte. Irgendwie passt der Satz zu dieser Neuinszenierung von Kurt Weills Street Scene, die das Regieteam mit Henrik Müller (Inszenierung), Rifail Ajdarpasic (Bühne), Katharina Weissenborn (Kostüme) und Andrea Danae Kingston (Choreographie) als bunte Revue anlegt. Dabei handelt es sich doch um eine ziemlich tragische Geschichte, die in einem Doppelmord aus Eifersucht kulminiert. Wobei Street Scene mit dem Genre der schwarze Komödie denkbar wenig zu tun hat. Vielmehr ist das Stück ein Sozialdrama: Geschickt werden hier auf engstem Raum (ein Haus in Manhatten) und in knappster Zeit (eine Nacht und der folgende Tag) verschiedene Handlungsstränge, mitunter nicht mehr als Genreszenen, miteinander verknüpft. Die Hauptlinie: In einer multikulturellen Hausgemeinschaft, in der man ein Abbild der heterogenen amerikanischen Großstadtgesellschaft sehen darf, tyrannisiert der weiße und ultrarechte Alkoholiker Frank Murrant seine sich nach ein bisschen Glück sehnende Frau Anne und die Kinder Rose und Willie so lange, bis Anne ein erotisches Verhältnis zum Milchmann Sankay beginnt. Frank überrascht die beiden und erschießt sie. Tochter Rose, die gerade eine zarte Liebesgeschichte zum Nachbarn Sam Kaplan begonnen hat, dem strebsamen und klugen Sohn eines jüdischen Ehepaars, verlässt - allein - das trostlose Viertel. Eigentlich kein sonderlich unterhaltsames Thema. Nur beim gemeinsamen Eisessen kann man von guter Nachbarschaft sprechen
Die Problematik reicht freilich noch tiefer. Kurt Weill wollte mit Street Scene eine "amerikanische Oper" schreiben, die das eingängliche Broadway-Musical mit der europäischen Operntradition verschmelzen sollte. Die Musiknummern sind nicht als unterhaltsame Unterbrechung des gesprochenen Textes angelegt, sondern führen diesen fort - wo die Sprache als Ausdrucksmedium versagt, springt die Musik ein. Die darf, der amerikanischen Tradition entsprechend, durchaus unterhaltsam sein. In Münster kehrt die Inszenierung dieses Verfahren allerdings wieder um. Aus dem Hausmeister wird ein Conferencier a la Cabaret im pailettenbesetzten Jackett, und einige (nicht alle) Musiknummern unterbrechen sehr bewusst die Handlung - und verorten das Werk damit wieder da, wo es Weill eben nicht sehen wollte. Mord (es gibt nur einen, weil der Milchmann wohl keine reale Gestalt, sondern ein erotisches Traumbild ist), Herzschmerz und Gewalt (die Sitten sind rau in dieser Straße) fügen sich irgendwie ein: Alles ist Revue. Unter diesem Gesichtspunkt interpretieren das sehr gute Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Stefan Veselka die Partitur durch und durch überzeugend, nämlich ganz im Geiste einer Showband mit einer gehörigen Portion Schmiss wie Sentiment und unverhohlenem Pathos, wenn es darauf ankommt. Man ahnt den Broadway (die Sänger haben sehr viel mehr Schwierigkeiten damit). Und das Publikum zeigt sich begeistert. Wie war das gleich mit dem elektrischen Stuhl? Den gibt es auch, denn als Videoeinblendung sieht man die Hinrichtung von Frank Murrant in Großaufnahme - ein Missgriff in jeder Hinsicht. Weill hätte nicht nur deshalb womöglich weniger begeistert applaudiert als das Premierenpublikum. Keine glückliche Familie: Frank, Anna und Willie Murrant
Der optische Clou der Inszenierung ist das Bühnenbild. Rifail Ajdarpasic hat die Hausfront horizontal auf die Bühne gelegt und eine gigantische Spiegelfläche schräg darüber gestellt, sodass das Publikum die Fassade im Spiegelbild sieht - und wenn die Darsteller auf der Bühne herumlaufen, sitzen oder liegen, dann sieht es so aus, als hingen sie kopfüber in den Fenstern oder kletterten waghalsig auf den Simsen herum. Das gibt immer wieder verblüffende Bildeffekte (die allerdings von der Handlung ablenken und sich auch abnutzen). Da aber diese Fassade nun auf der Bühne liegt, bleibt den Darstellern kaum Spielfläche. Auf schmalen Stegen müssen Auf- und Abtritte, teilweise auch Choreographien organisiert werden, und Choreograph wie Regisseur verdienen einen gewissen Respekt dafür, dass sie das völlige Desaster verhindert haben. Trotzdem erfolgen diverse Auftritte umständlich über den Bühnenrand, und der Chor ist auf den Oberrang verbannt, was dramaturgisch ziemlich albern und mitunter unfreiwillig komisch ist. So geht Musical: Dick McGann (Jendrik Sigwart) und Mae Jones (Kara Kemeny) lassen sich auch vom bewegungshemmenden Bühnenbild nicht aufhalten
Noch so ein Missgriff: Man singt und spricht (fast immer) in einer deutschen Übersetzung. Nun ist Street Scene eine ziemlich gute amerikanische, aber eine ziemlich schlechte deutsche Oper - weil das Stück eben mit der amerikanischen Tradition spielt und nicht mit der deutschen (mit der hatte Weill ja bereits in der Dreigroschenoper erfolgreich abgerechnet). Mit der Übersetzung tilgt man ein ganz wesentliches "amerikanisches" Element. Die wenigen im Original gespielten Passagen wirken ungleich authentischer. Aber an Authentizität scheint dem Regieteam ohnehin nichts gelegen. Die im Text (und in der Musik) ständig erwähnte Hitze und Schwüle wird nicht inszeniert, sondern zum (schlechten) running gag degradiert. Der Drugstore auf Rädern erinnert mehr an Frank Castorfs legendären Imbissbudenwagen in der Bayreuther Götterdämmerung denn an New Yorker Kleingewerbe, und die Cops sind Witzfiguren wie fast alle auf der Bühne. Als american opera wird das Werk hier nicht ernst genug genommen. Sam Kaplan (vorne) wird nicht nicht mit seiner angebeteten Rose zusammenkommen, die hinten bei ihrer erschossenen Mutter Anna kniet. Der Mann hinten im rot glitzernden Jackett ist der Hausmeister, im Gespräch mit dem italoamerikanischen Nachbarn Lippo Fiorentino
Gesungen wird sehr engagiert, wobei die Tücke darin liegt, den Tonfall der Musik zu treffen, und der ist, verstärkt noch einmal durch die orchestrale Interpretation, eben nicht opernhaft, sondern mehr in Richtung Unterhaltungsmusik. Wie das geht, zeigt Jendrik Sigwart in der an sich unbedeutenden Nebenrolle des Dick MacGann mit einer hinreißenden, sehr akrobatischen Showeinlage, bei der Partnerin Kara Kemeny als Mae Jones das hohe Tempo nicht ganz mithalten kann. Wenn schon Revue, dann bitteschön so. Aber Kristi Anna Isene in der Partie der Anna Murrant ist eine Operndiva mit großer Stimme, die ihre Figur eindrucksvoll gestaltet, aber die Brüche zwischen den Genres nicht wirklich überbrücken kann. Gregor Dalal gibt den Frank Murrant als tumben Wüterich, was wohl (auch) der Regie geschuldet ist; ein paar Zwischentöne würden die Figur spannender machen. Den stärksten Eindruck unter den Hauptdarstellern hinterlässt Kathrin Filip als Tochter Rose Murrant, mit leichter, schöner Stimme - und dem Mut, daraus auszubrechen und bei Bedarf tonlos oder zurückgenommen zu singen. Tenor Garrie Davislim in der Partie des in Rose verliebten Sam Kaplan lies sich als indisponiert entschuldigen, was man ihm kaum anhörte - bei vollen Kräften gelingt ihm der Stilmix vielleicht noch besser. Chor und Kinderchor singen präzise und klangschön, die vielen kleineren Partien sind durchweg ordentlich besetzt.
Regieteam und Dirigent zurren Weill in der Revue- und Musicalecke fest, wo er mit Street Scene gar nicht nicht hinwollte. Es spricht für die Qualität der Oper, dass es dem Premierenpublikum trotzdem gefallen hat. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Choreographie
Chor
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten
Anna Maurrant
Frank Maurrant
Willie Maurrant
Rose Maurrant
Sam Kaplan
Abraham Kaplan
Shirley Kaplan
Harry Easter
Henry Davis
Vincent Jones
Lippo Fiorentino
Mary Hildebrand
George Jones
Carl Olsen
Mrs. Greta Fiorentino
Emma Jones
Mrs. Olga Olsen
Daniel Buchanan
Jenny Hildebrand / 1. Nurse
Charlie Hildebrand
Mrs. Hildebrand
2. Nurse
Dick McGann
Mae Jones
Mr. Sankey
Dr. Wilson
Officer Murphy
City Marshall
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