Zwischen Dystopie und Illusion
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
Das Theater Osnabrück gräbt immer mal wieder nahezu unbekannte
Opern- bzw. Musik-Raritäten aus und widmet ihnen ein
umfangreiches Begleitprogramm. In der Spielzeit 2018/19 ist es
die Oper Guercœur des französischen Komponisten Albéric
Magnard – ein Außenseiter, politisch und künstlerisch
eigenwilliger Zeitgenosse Debussys. Vielleicht verhinderte der
frühe Tod des 1865 in Paris geborenen Komponisten eine größere
Verbreitung seiner Werke, vielleicht sind es die
Begleitumstände seines Todes, vielleicht der starke, auf Paris
fixierte Zentralismus Frankreichs, vielleicht seine, die
deutsche Spätromantik rezipierende Musiksprache und ein allzu
moralisierendes Libretto?
1. Akt: Guercœur (Rhys Jenkins) im Jenseits
Magnard, der seit dem Sommer 1904 abseits vom Pariser Künstler-
und Kulturtrubel in Baron lebte und arbeitete, wurde 10 Jahre
später, im September 1914 bei einem Schusswechsel getötet. Er
hatte versucht, sich und seinen Landsitz gegen die anrückenden
deutschen Soldaten zu verteidigen. Es kostete ihn nicht nur das
Leben. Anschließend steckten sie sein Haus in Brand, sodass viele
seiner Werke, darunter auch die Partitur des ersten und dritten
Aktes seiner zweiten Oper „Guercœur“ vernichtet wurden. Freund und
Komponistenkollege Guy Ropartz, der den dritten Akt 1908 in Nancy
konzertant aufgeführt hatte, rekonstruierte die Partitur anhand
eines Klavierauszugs. 1931 kommt es schließlich zur posthumen
Uraufführung an der Opéra Garnier in Paris.
Auch das Libretto der zwischen 1897 und 1900 entstandenen Oper
stammt von Magnard. Ungewohnt für die Gattung der dramatische
Aufbau. Im ersten Akt begegnen dem bereits toten Guercœur die
allegorischen Gottheiten Beauté (Schönheit), Bonté (Güte) und
Souffrance (Leid). Trotz einer entrückten, friedlichen Sphäre der
Auserwählten will er – voller Enthusiasmus - zurück ins Leben,
sich weiterhin politisch einmischen, sein Lebenswerk der
Demokratisierung vorantreiben und die junge Geliebte wiederfinden.
Souffrance will ihn für seine Eitelkeit bestrafen, Er solle leben,
um zu leiden. Vérité (Wahrheit) willigt schließlich ein.
2. Akt: Der zum Leben erweckte Guercœur (Rhys Jenkins) besucht seine Frau Giselle (Susann
Vent-Wunderlich)
Der zweite Akt trägt die Züge einer Anti-Revolutionsoper. Zurück
im Leben muss Guercœur feststellen, dass seine Frau Gisèle seinen
ehemaligen Schüler Heurtal liebt. Die junge Republik endet in
Verelendung und Chaos. Und der machtgierige Heurtal lässt sich zum
Diktator ausrufen. Als Guercœur sich in die aufgebrachte
öffentliche Debatte einmischen will, hält man ihn für einen
Hochstapler und tötet ihn erneut. Reumütig kehrt er im dritten Akt
ins Jeneits zurück. Im großen Monolog über die Hoffnung auf eine
bessere und demokratische Welt endet die Oper.
Dirk Schmeding setzt sich in seiner Inszenierung weniger mit den
politischen Verhältnissen des ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts in Frankreich auseinander sondern mit dem Tabu Tod.
Dabei folgt er der Struktur des Werkes. Martina Segna verlegt den
oratorienhaften ersten Akt in die harmonische Weite des
Weltraums, in dem Guercœur und die allegorischen Gottheiten
körperlos zu schweben scheinen. Der zweite Akt findet komprimiert
auf einem kreisförmigen Podest statt. Das zweite Bild, Heurtals
öffentlicher Auftritt wird dabei etwas zu bildgewaltig mit
Anspielungen auf heutige polarisierende Politiker video-untermalt.
Im dritten Akt verwandelt sich der Podest in einen weißen Altar,
der sich je nach Zeremonie in Totenbahre, Ausstellungspodest für
den Sarg und Krematorium verwandelt.
2. Akt: Heurtal im Kreise seiner
Anhänger
Die spätromantische Musik Magnards ist eine Entdeckung. Der große,
musikalische Spannungsbogen wird leitmotivisch zusammengehalten
vom musikalischen Themenmaterial der Souffrance, das u.a. von der
Bassklarinette gleich zu Beginn der Einleitung vorgestellt wird.
Wunderbar die Charakterisierung der beiden Sphären, die
Chorpartien, die im Theater Osnabrück mal entrückt aus weiter
Ferne, mal streitend und kämpfend coram publico zu erleben sind.
Wunderbar auch die ausgedehnten, symphonisch-programmatischen
Zwischenspiele, die das Osnabrücker Sinfonieorchester unter der
Leitung von Andreas Hotz ausdrucksstark darbietet. Dazu
präsentiert Osnabrück ein musikalisch überzeugendes
Gesangssolistenensemble. Allen voran Susann Vent-Wunderlich, die
die widersprüchliche Haltung Giselles im zweiten Akt klangvoll und
anrührend vor Augen führt sowie Lina Liu in ihrem weihevoll
fließenden Monolog im dritten Akt. Rhys Jenkins ist eher der
kraftvolle, heldenhafte, weniger ein leidender Guercœur.
Da die Oper Guercœur seit ihrer Uraufführung 1931 offenbar
nie zu sehen war, feiert man im Theater Osnabrück nicht nur die
deutsche Erstaufführung sondern auch die erste Wiederaufführung
seit 88 Jahren. Die Premiere wurde vom Deutschlandfunk Kultur
mitgeschnitten und ist am 22. Juni mitzuerleben.
FAZIT
Magnards Persönlichkeit und Musik ist eine jenseits aller
nationalen Schulen des 19. Jahrhunderts wohltuende Entdeckung.