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Brudermord als Kinderspiel
Von Roberto Becker / Fotos von Bernd Uhlig / Opéra national de Paris Es ist schon etwas verwunderlich, dass der Chef der Opéra National de Paris Stéphane Lissner nicht etwa ein Werk von Jean-Baptiste Lully oder Jean-Philippe Rameau zum 350. Gründungsjubiläum der Académie Royale de musique auf den Spielplan des Palais Garnier gesetzt hat. Neben den (die Treffsicherheit der Inszenierung hin oder her) allemal großformatigen Trojanern von Héctor Berlioz an der Opéra Bastille wirkte das parallel angesetzte und als Musiktheater inszenierte Oratorium von Alessandro Scarlatti (1660-1725) vergleichsweise bescheiden. Obwohl es dabei ja unter dem Titel Il primo omicidio um den ersten, biblisch verbürgten Brudermord von Kain an Abel geht. Uraufgeführt wurde das Werk 1707 in Venedig - heute wird es gelegentlich im Rahmen der Bemühungen auch um entlegenere Werke der sogenannten Alte Musik reanimiert. Da sich allerdings beispielsweise Tatjana Gürbaca und Andrea Moses schon des Stückes angenommen haben, muss es offensichtlich auch für ambitionierte Regisseurinnen seinen Reiz haben. Kain und Abel - noch im Paradies?
Zur Inszenierung des italienischen Gesamtkunstwerkers Romeo Castellucci gehören sie zwar nicht, doch würden die riesigen vergoldeten Traktorenräder, mit denen Claude Lévêque das Prunktreppenhaus des Palais Garnier "verschönert" hat, zu der Art von metaphorischer Behauptung passen, mit denen der Italiener seine szenischen Arbeiten gerne anreichert. Moderne Kunst am und im Bau (von unten leuchtet es im Treppenhaus rosa und blau) gehört hier zur Jubiläumsverpackung, die Lissner dem Prunkbau (wohldosiert) verpasst hat. Die Ähnlichkeit des Goldschimmers der Räder mit dem Gelb der Wutwesten, die in Paris für auffällig viele beschädigte Fensterscheiben gesorgt haben, ist wohl eher ein subversiver Zufall. Auf der Bühne hat sich Castellucci diesmal allerdings auch sehr deutlich von Heroen der bildenden Kunst inspirieren lassen. Zumindest im ersten Teil des Abends. Da hantiert er mit dem Licht, als wollte er die Lichträume James Turrells beschwören. Oder den Farbflächenkombinationen eines Marc Rothko mit ihren Horizonten Bewegung einhauchen. Was entsteht, ist eine Faszination des Abstrakten, in der sich Adam und Eva recht wenig im neblig Diffusen bewegen. Oder mit Orangen spielen und dabei in halbszenischer Habacht-Stellung singen. Einmal senkt sich ein mittelalterlicher Verkündigungsaltar kopfüber in die Szene. Aus diesem Paradies werden sie vertrieben.
Nach der Pause finden sie sich auf einem nächtlichen Feld wieder. Im zweiten Teil geht es dann um den berühmten ersten Brudermord, seine unmittelbare Vorgeschichte, den Tathergang und die Folgen. Gott hatte Abels Opfer für ihn höher geschätzt als die härtere Arbeit Kains. Wegen der Frustration über diese empfundene Ungerechtigkeit findet der Teufel bei Kain ein offenes Ohr und rät zum Mord. Die göttliche Strafe für die Tat sind Verbannung und eine fortwährende Rast- und Heimatlosigkeit. Seine Einsicht kommt spät und aus der Ferne. Das Fazit ist, dass die Chancen auf das Gute und die Verführungen zum Bösen immer lauern, wo Menschen leben. Der Raum, in dem das alles geschieht, ist jetzt poetisch konkret. Über einem dürren Feld ist ein Sternenhimmel aufgespannt. Auch hier sind die überirdischen und menschlichen Protagonisten wie unauffällige Zeitgenossen gekleidet. Allerdings werden alle Akteure jetzt von Kinderdarstellern gedoubelt und die Sänger verziehen sich in den Graben. Oder die Seitenloge. Das mit Eifer gespielte Playback auf der Bühne verblüfft anfangs durch den Verfremdungseffekt, der, wie bei einem hochprofessionellen Puppenspiel, den Blick alsbald von den Sängern auf die doubelnden Als-ob Sänger ablenkt. Der wird aber schnell zum Selbstzweck, ohne eine wirklich zusätzliche Ebene zu bieten. Es hat im Detail seinen Reiz, kommt aber insgesamt nicht über das Stadium einer - zugegeben ästhetisch gelungenen - Bebilderung hinaus. Der Brudermord ...
Wenn der Kinder-Abel von den anderen Kindern gewaschen wird, als wär' es der Heiland, und Kain eine Krone aufs schuldbeladene Haupt gesetzt bekommt, damit er nicht aus Versehen erschlagen wird, sondern lebend als Unbehauster büßen kann, dann touchiert das Ganze doch zu deutlich ein Laienspiel. Alles endet mit vielen neu hinzukommenden Kindern, die den Schauplatz dieses ersten Mordes mit einer Plane verdecken. René Jacobs ist als Dirigent ein leidenschaftlicher Barockspezialist und mit dem Werk schon Jahrzehnte vertraut. Am Pult des belgischen B'Rock Orchestra kostet er das andächtig Getragene der Musik aus, vermag aber auch mit Zuspitzungen bis hin zum gewaltigen Theaterdonner und dem Einsatz der barocken Windmaschine zu beeindrucken. Das junge Instrumentalisten-Ensemble wurde 2005 in Gent mit dem Ehrgeiz gegründet, die Welt der alten Musik zu verjüngen. René Jacobs, der zu einem ihrer favorisierten Gastdirigenten gehört, leitet mit Hingabe durch die Musik und überdeckt nie die Stimmen seiner Protagonisten auf der Bühne.
Bei denen ist ein ausgeglichenes Ensemble beisammen. Dabei statten Kristina Hammarström und Olivia Verbeulen die beiden Brüder Kain und Abel mit samtigem Mezzo aus. Birgitte Christensen ist deren einfühlsam und melancholisch leidende Mutter Eva. Bei Thomas Walkers Adam stört eine etwas belegt klingende Gaumigkeit. Dafür ist der deutsche Countertenor Benno Schachtner eine geschmeidige Stimme Gottes, dem der markante Bass von Robert Gleadow als Kain den Brudermord einflüsternder Luzifer als Kontrast gegenübersteht.
Der erste Mord entfaltet dank René Jacobs musikalisches Charisma. Bei der szenischen Umsetzung gelingen Romeo Castellucci einzelne poetische Bilder. Einen szenischen Gesamtwurf bleibt er schuldig. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Ausstattung
Dramaturgie
Solisten
Caino
Abele
Eva
Adamo
Voce di Dio
Voce di Lucifero
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