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Visionen in der Leichenhalle
Erich Wolfgang Korngold trägt seinen Zweitnamen nicht nur aufgrund der Verehrung
seiner Eltern für Mozart. Der Anfang seiner Karriere ließ die Musikwelt ein
neues Wunderkind entdecken, das bereits mit elf Jahren als erstes Bühnenwerk
eine Ballettpantomime komponierte, die zwei Jahre später in der Orchestrierung
seines Lehrers Alexander von Zemlinsky an der Hofoper Wien uraufgeführt wurde.
Mit seinen im zarten Alter von 16 Jahren unter dem Einfluss seines ehrgeizigen
Vaters Julius Korngold entstandenen Operneinaktern Der Ring des Polykrates
und Violanta zählte er bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit Richard
Strauss zu den bedeutendsten und am häufigsten gespielten zeitgenössischen
Komponisten. Seinen größten Erfolg erzielte er mit seiner Oper Die tote Stadt,
die am 4. Dezember 1920 gleichzeitig an den Stadttheatern Hamburg und Köln
uraufgeführt wurde. Auch die Filmmusik in Hollywood hat Korngold in den 30er
und 40er Jahren entscheidend geprägt, bevor er dann in den 50er Jahren erkennen
musste, dass seine spätromantische farbige Orchestrierung nicht mehr gefragt
war. So geriet das einstige Wiener Wunderkind am Ende seines Lebens 1957 in
Vergessenheit und rückt erst seit den letzten Jahrzehnten wieder mehr ins
musikalische Bewusstsein. Die Wuppertaler Bühnen bringen nun zum Ende der
Spielzeit Korngolds berühmtestes Werk, Die tote Stadt, heraus, das vor
allem durch die als musikalisches Leitmotiv fungierende Arie der Marie, "Glück,
das mir verblieb", und die schwärmerisch-melancholische Bariton-Romanze des
Fritz, "Mein Sehnen, mein Wähnen", noch einen
gewissen Bekanntheitsgrad besitzt.
Paul (Jason Wickson) sieht in Marietta (Susanne
Serfling) seine verstorbene Frau Marie.
Das Libretto, an dem Korngolds Vater Julius unter dem Pseudonym Paul Schott
mitgearbeitet hat, basiert auf dem 1892 erschienenen Roman Das tote Brügge
(Bruge-la-Morte), in dem der trauernde Witwer Hugues Vianes sich in
die Tänzerin Jane Scott verliebt, die seiner verstorbenen Frau so ähnlich
sieht, dass er sie als eine Reinkarnation seiner toten Gattin betrachtet und ein
Verhältnis mit ihr beginnt. Jane lässt sich auf die Beziehung ein, ist aber
nicht bereit, in die Rolle der Verstorbenen zu schlüpfen. Als sie sich
schließlich zum Spaß einen Zopf der Toten, den Hugues in einem Schrein
aufbewahrt, um den Hals legt, verliert Hugues die Beherrschung und erdrosselt
Jane. Im Gegensatz zum Roman wird in der Oper die Begegnung des Witwers, der
hier Paul heißt, mit der Tänzerin, die in Anlehnung an seine verstorbene Gattin
Marie den Namen Marietta trägt, nur als Vision geschildert. Die Ermordung findet
also nicht wirklich statt, sondern löst nur eine Art Reinigungsprozess aus. Paul
erkennt am Ende, dass er in Brügge, das sinnbildlich als Stadt genauso tot ist
wie seine Frau, nicht länger leben kann und will, und verlässt mit seinem Freund
Frank die "tote Stadt".
"Glück, das mir verblieb": Paul (Jason Wickson)
lauscht Maries / Mariettas (Susanne Serfling, links hinten in der Mitte) Gesang.
Das Regie-Team um Immo Karaman und Fabian Posca taucht tief in die Visionen
Pauls ein und konzipiert den Bühnenraum als eine Leichenhalle in einem
abgeschlossenen klaustrophobischen Kubus auf der Bühne. Die graue Farbe an den
Wänden spricht für die Tristesse des Ortes. Schon im ersten Bild wirkt der Ort
absolut irreal, da sich in dem Kubus nur ein Leichenfach in der Rückwand
befindet. In diesem Fach sieht man eine tote Frau mit langem blondem Haar. Paul
kauert trauernd auf einem Stuhl neben der Toten und schneidet ihr schließlich
eine Haarsträhne ab, die er als Reliquie verehrt. Zwei an der Vorderseite des
Kubus herabgelassene schwarze Vorhänge verwandeln den Raum und lassen Menschen
gewissermaßen aus dem Nichts auftreten und wieder verschwinden. Da ist zunächst
Pauls Haushälterin Brigitta zu nennen, die sich am Ende als eine Ärztin oder
Schwester in der Leichenhalle entpuppt. Sie führt hinter dem Vorhang Maries
Doppelgängerin Marietta herein, die Pauls Einladung gefolgt ist, um einen
Blumenstrauß entgegenzunehmen und sich selbst auf Maries Laute zu einem Lied zu
begleiten. Dann taucht Pauls Freund Frank auf, der versucht, Paul ins wahre
Leben zurückzuholen und die Leichenkammer mit Marie schließt. Später schlüpft er
allerdings in die Rolle des Fritz, der als Pierrot der Theatertruppe, mit der
Marietta unterwegs ist, ebenfalls unsterblich in die Tänzerin verliebt ist, und
damit zu Pauls Rivale wird.
Paul (Jason Wickson) gefällt Mariettas (Susanne
Serfling, links) Lebenswandel nicht (rechts vorne: Juliette (Anne Martha
Schuitemaker), hinten rechts: Lucienne (Iris Marie Sojer)).
Im zweiten Bild wird die Rückwand des Kubus in den Schnürboden emporgezogen und
gibt den Blick auf ein verunglücktes brennendes Auto frei. Man kann vermuten,
dass Marie bei diesem Unfall umgekommen ist. Neben dem Auto liegen weitere
Tote, die sich im weiteren Verlauf als die Tänzerinnen Juliette, Lucienne, der
Regisseur Victorin und der Graf Albert entpuppen und zu Mariettas Theatergruppe
gehören. Hier beobachtet Paul das improvisierte Spiel, in dem Marietta die von
den Toten auferstehende Helene aus Meyerbeers Oper Robert le Diable
darstellt. Nach der Pause ist Marietta mit Paul in die abgeschlossene
Leichenhalle zurückgekehrt. Aus dem Hintergrund tritt der Chor auf, der das
gleiche Kostüm wie Paul und eine Strumpfmaske über dem Kopf trägt. Marietta wird
gewissermaßen komplett von Paul eingenommen. Interessant ist auch das Wortspiel
auf dem Vorhang. Zuerst erscheint der Name "Marie", hinter den ein
Kreuz
gesetzt wird. Mit einem weiteren Kreuz und einem "a" verwandelt sich der
Name in "Marietta". Marietta ist Pauls Frömmigkeit unheimlich. Sie kann sich von
ihm befreien, und die Rückwand des Kubus wird wieder emporgezogen. Noch einmal sieht
man den Wagen, nun allerdings vor dem Unfall. Marietta steigt hinein, oder ist
es Marie, die in den Tod fährt?
In der Realität angekommen? Paul (Jason Wickson)
in der Leichenhalle
Danach scheint der Traum zu Ende zu sein. Nun befindet man sich in einer
wirklichen Leichenhalle mit mehreren Leichenkammern, einer Tür im Hintergrund
und zwei Eingängen in den Kubus. Brigitta und Frank treten nun in weißen Kitteln
auf. Paul ist scheinbar gerade in die Leichenhalle zu seiner verstorbenen Frau
gerufen worden. Danach hört man die anderen Figuren nur noch aus dem Off. Sie
dringen also nicht mehr zu Paul vor. Marietta, die erneut auftritt, um den
Strauß abzuholen, bleibt genauso unsichtbar wie Frank, der Paul bittet, mit ihm
Brügge zu verlassen. Paul verlässt den Raum, und man hört ein letztes Mal Maries
Lied "Glück, das mir verblieb", das nun von Paul beim Abgehen angestimmt wird.
Karaman findet für die Geschichte surreale Bilder, die Pauls Visionen zu einem
regelrechten Psycho-Trip werden lassen, bei dem er versucht, den Verlust seiner
Frau und die Angst vor dem, was kommt, zu verarbeiten. Besonders das Schlussbild
geht in seiner Unerbittlichkeit unter die Haut.
Das Sinfonieorchester Wuppertal leistet unter der musikalischen Leitung von
Johannes Pell Gewaltiges. Sehr expressiv arbeitet Pell mit den Musikern die
opulenten Klänge der Partitur heraus und löst beim Zuhörer ein Wechselbad der
Gefühle aus. Jason Wickson meistert die Partie des Paul mit kräftigem Tenor, der
in den Höhen über enorme Strahlkraft verfügt. Susanne Serfling verfügt als Marie
/ Marietta über einen leuchtenden Sopran, der auch in den Höhen großes Volumen
besitzt. Auch darstellerisch begeistert sie mit großem Ausdruck und wechselt
glaubhaft zwischen Marietta und der toten Marie, was auch mit zahlreichen
schnellen Kostümwechseln verbunden ist. Die berühmte Arie "Glück, das mir
verblieb" zeichnet sie mit lyrischer Innbrunst und bewegendem Spiel. Simon
Stricker punktet als Frank / Fritz mit kräftigem Bariton. Seine innige Interpretation
der berühmten Romanze "Mein Sehnen, mein Wähnen" avanciert zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends. Ariana Lucas legt
die Partie der Brigitta mit etwas zu starkem Vibrato an. Die kleineren Partien
sind gut besetzt, und auch der von Markus Baisch einstudierte Chor überzeugt, so
dass es am Ende großen und verdienten Beifall für alle Beteiligten gibt.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Regie und Bühne
Kostüme und Choreographie
Licht
Chor Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Opernchor und Kinderchor der Wuppertaler Bühnen SolistenPaul Marietta / Marie Frank / Fritz Brigitta Juliette Lucienne Victorin / Gaston Graf Albert Statisterie
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- Fine -