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Musiktheater
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Play* Europeras 1 & 2

Musiktheater von John Cage
*von Daniel Wetzel / Rimini-Protokoll

Aufführungsdauer: ca. 2h 45' (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Wuppertal am 2. Februar 2019
(rezensierte Aufführung: 10.02.2019)


Wuppertaler Bühnen
(Homepage)
Zeit und Zufall


Von Thomas Molke / Fotos: © Jens Großmann

"Alles, was Geräusche erzeugen kann, ist Musik." Dieses Bekenntnis stammt von John Cage, der mit der Umsetzung dieses Grundsatzes nicht zuletzt durch sein radikales Werk 4'33'', in dem gerade die Absenz von Klang als Musik begriffen wird, zu den besonders experimentellen Künstlern des 20. Jahrhunderts zählt und dessen Musicircus im Oktober 2018 über 800 Mitwirkende aus über 50 Ensembles in der Dortmunder Innenstadt zu einem großen musikalischen Happening vereint hat (siehe auch unsere Rezension). 1987 erhielt er von der Frankfurter Oper einen Kompositionsauftrag, obwohl er bis dahin noch nie eine Oper kreiert hatte. Entstanden ist ein Projekt unter dem Titel Europeras 1 & 2, für das Cage keine Note selbst komponierte. Stattdessen destillierte er aus insgesamt 64 Opern und Operetten aus 200 Jahren Operngeschichte einzelne Stimmen der Instrumente und Solisten heraus und fügte sie in zufällig festgelegten Zeiteinheiten zusammen. Später erweiterte er diese Serie noch um drei weitere, wesentlich kürzer gehaltene und kammermusikalisch angelegte Stücke. Obwohl Cage selbst einmal geäußert haben soll, dass dieses Projekt eines der wenigen Entscheidungen sei, die er bereue, hielt es Heiner Goebbels nicht davon ab, die Ruhrtriennale 2012 mit diesem Werk zu eröffnen (siehe auch unsere Rezension). Auch der Wuppertaler Opernintendant Berthold Schneider, der in den vergangenen Spielzeiten mit der Kombination von Richard Wagners drittem Akt der Götterdämmerung mit Heiner Goebbels' Surrogate Cities und Helmut Oehrings AscheMond immer wieder neue Wege fernab des gängigen Musiktheaterrepertoires eingeschlagen hat, hat nun die postdramatische Theatergruppe Rimini Protokoll eingeladen, um die Stadt an der Wupper erneut mit experimentellem Musiktheater zu konfrontieren.

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Spiel des Zufalls auf 64 Feldern: von links: Mark Bowman-Hester, Sangmin Jeon, Iris Marie Sojer und Ralitsa Ralinova

Der Titel lässt sich als Wortspiel aus den Begriffen "Europe" und "your operas" verstehen. So ist das Projekt in den späten 80er Jahren als ein Versuch des US-Amerikaners Cage zu verstehen gewesen, den Europäern "ihre Opern", mit denen sie 200 Jahre lang auch die Vereinigten Staaten geprägt haben, in etwas anderer Form zurückzugeben. Dazu hat er insgesamt 64 Opern ausgewählt und zu einem Potpourri der besonderen Art zusammengestellt. Es erklingen keine vollständigen Arien oder Orchesterpassagen, sondern nach dem Zufallsprinzip werden einzelne Stellen einzelner Instrumente oder Sänger ausgewählt. Außerdem wird ausgewürfelt, zu welchem Zeitpunkt und wie lange die jeweiligen Passagen vorgetragen werden. Dabei überschneiden sich einzelne Passagen, so dass der eigentliche "Wohlklang" der Oper verloren geht. Man hat bisweilen das Gefühl, atonale Musik zu hören, und erkennt nicht immer, dass es sich um große Komponisten wie Wagner, Bizet oder Verdi handelt. Cage hat es dabei freigestellt, ob der Ablauf eines Abends bei einer Produktion jedes Mal neu ausgelost wird. Da der Verlauf aber sowieso schon kompliziert genug ist, da ja auch die komplette Bühnenmaschinerie einbezogen wird, hat man sich in Wuppertal entschieden, einmal einen Verlauf durch den Zufall festlegen zu lassen und bei allen weiteren Aufführungen dabei zu bleiben. Dabei beginnt man mit dem 45-minütigen Europera 2.

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Europera 2: Opernfragmente auf der Video-Leinwand

Europera 2 arbeitet mit Videosequenzen, in denen insgesamt neun Sängerinnen und Sänger in jeweils einer europäischen Stadt eingeblendet werden und zum live spielenden Orchester vorher festgelegte Opernfragmente singen. Wann welcher Sänger auf welcher Leinwand eingeblendet wird, ist genauso ausgewürfelt worden, wie die Entscheidung, wie die einzelnen Leinwände angeordnet sind. Dazu hat das Regie-Team um Daniel Wetzel den Wuppertaler Wirt der Brückenschenke an der Wupper nahe der Oper konsultiert und ihn auslosen lassen, aus wie vielen Teilen Europera 2 in dieser Inszenierung bestehen soll. Die Wahl ist zufällig auf die Zahl 27 gefallen. Da die eingeblendeten Solisten auf öffentlichen Plätzen in den verschiedenen europäischen Städten stehen, wird ihr Gesang von typischen Alltagsgeräuschen beeinträchtigt, so dass es sehr schwer auszumachen ist, was sie eigentlich singen, zumal das Sinfonieorchester Wuppertal aus dem Graben, von der Bühne und von den Eingängen zum Saal noch weitere Instrumentalfetzen beisteuert. Das ist alles sehr ermüdend, da sich in der wahllosen Abfolge der Bilder keinerlei Struktur erkennen lässt und selbst der Versuch, "Erkennen Sie die Melodie?" zu spielen, häufig nicht von Erfolg gekrönt wird. Da hilft es auch nichts, dass Lucia Lucas auf der Bühne auftritt und auf der Seitenbühne in einem kleinen Miniaturtheater die Hintergründe neu anordnet, die dann ebenfalls auf eine Leinwand projiziert werden, auf der sie dann einen Auszug aus dem Wotan-Monolog des zweiten Aufzugs der Walküre vorträgt. Rechts und links von der Bühne sind zwei Stoppuhren angebracht, die genau anzeigen, wie lange es noch dauert, bis die ersten 45 Minuten vorbei sind.

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Europera 1: Countertenor Denis Lakey in langem Gewand, links vorne: Sangmin Jeon

In der Pause mag sich mancher Besucher gefragt haben, ob er den zweiten Teil mit der doppelten Länge noch erträgt. Aber in der zweiten Aufführung weiß das Publikum schon eher als bei der Premiere, worauf es sich eingelassen hat, und ist dementsprechend vorbereitet. Da im zweiten Teil die Solisten nun live auftreten, ist dieser Teil auch wesentlich spannender. Die Kostüme und Requisiten, mit denen die Sängerinnen und Sänger in einzelne Quadrate der als Schachbrett angeordneten 64 Felder treten, haben zwar nichts mit den Fragmenten zu tun, die sie anschließend vortragen, aber sie sind ja genauso vom Zufall bestimmt worden wie der Rest und müssen zwangsläufig nicht zusammenpassen. Beim Live-Gesang hat man den Eindruck ein bisschen mehr aus den ausgewählten Opern wiederzuerkennen. Es fehlen aber auch im Gegensatz zu den Videosequenzen die entsprechenden Nebengeräusche. Für die erkrankte Ralitsa Ralinova ist die Sopranistin Elizabeth Wiles eingesprungen, die sich sehr gut in die Inszenierung einfindet. Für komische Momente sorgen die elf Statisten, die nicht nur Requisiten oder Bühnenbilder von einem Ort zum anderen transportieren müssen, sondern auch mit einem großen Plakat eine Stimme über ihre Arbeit im Theater bekommen.

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Europera 1: Nina Koufochristou auf dem Trampolin (links und rechts: Statisterie)

Ein wenig albern mutet der Einfall an, das Publikum ebenfalls in diese Produktion mit einzubeziehen. Deswegen sind unter zahlreichen Sitzen vor der Vorstellung Karten verteilt worden, die dem jeweiligen Gast einen Regie-Anweisung geben, was zu einer bestimmten Zeit während der folgenden 90 Minuten zu tun ist und wie lange diese Aktion andauern soll. Da müssen dann plötzlich zahlreiche Besucher aufstehen, sich recken und strecken oder zur Tür gehen und die Tür laut knallen. Ein Zuschauer muss sogar auf die Bühne laufen und im Off verschwinden. Ob die Hustengeräusche aus dem Publikum oder das Knistern von Bonbonpapier ebenfalls auf einem Zettel standen, lässt sich allerdings nicht eindeutig festlegen. Das Publikum macht größtenteils die Spielchen geduldig mit, empfindet vielleicht sogar ein bisschen Gefallen daran. Beinahe gewagt scheint die Anweisung, eine politische Forderung in den Saal zu rufen. Aber der Akteur verzichtet auf eventuelle Provokation. So vergehen mit diesen Spielchen die 90 Minuten nach der Pause gefühlt schneller als der erste Teil. Die zehn Solisten und das Sinfonieorchester unter der Leitung von Johannes Pell geben alles, auch wenn sich bei den unterschiedlichen Fetzen natürlich kaum ein Opernwohlklang einzustellen vermag. Das Publikum zeigt sich aber trotzdem begeistert von der Produktion und spendet großen Beifall.

FAZIT

Wer in die Oper geht, um "schöne" Musik zu hören, ist bei diesem Potpourri der besonderen Art sicherlich falsch. Für Freunde der experimentellen Musik hat der Abend einiges zu bieten.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Johannes Pell

Inszenierung
Rimini Protokoll*

Regie
Daniel Wetzel

Bühne und Kostüme
Kathrin Wittig

Dramaturgie
Alexander Fahima

 

Sinfonieorchester Wuppertal

Statisterie der Wuppertaler Bühnen


Solisten

*rezensierte Aufführung

Europera 2
Ceren Aydin Akkoç, Istanbul
Roman Arndt, St. Petersburg
Silvia De Stefano, Neapel
Anush Hovhannisyan, London
Lucia Lucas, Wuppertal
Aphroditi Patoulidou, Athen
Sebastià Peris, Valencia
Johannes Schwendinger, Wien
Armands Silinds, Riga

Europera 1
Mark Bowman-Hester
Sebastian Campione
Jasmin Etezadzadeh
Sangmin Jeon
Nina Koufochristou
Denis Lakey
Lucia Lucas
Ralitsa Ralinova /
*Elizabeth Wiles
Liudmila Slepneva
Iris Marie Sojer

 


Weitere Informationen
erhalten Sie von den
Wuppertaler Bühnen
(Homepage)



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