Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
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Zeit und
Zufall
"Alles, was Geräusche erzeugen kann, ist Musik." Dieses Bekenntnis
stammt von John Cage, der mit der Umsetzung dieses Grundsatzes nicht
zuletzt durch sein radikales Werk 4'33'', in dem gerade die Absenz von
Klang als Musik begriffen wird, zu den besonders experimentellen
Künstlern des 20. Jahrhunderts zählt und dessen Musicircus im Oktober
2018 über 800 Mitwirkende aus über 50 Ensembles in der Dortmunder Innenstadt zu
einem großen musikalischen Happening vereint hat (siehe auch
unsere Rezension). 1987 erhielt er von der
Frankfurter Oper einen Kompositionsauftrag, obwohl er bis dahin noch nie eine
Oper kreiert hatte. Entstanden ist ein Projekt unter dem Titel Europeras 1 &
2, für das Cage keine Note selbst komponierte. Stattdessen destillierte er
aus insgesamt 64 Opern und Operetten aus 200 Jahren Operngeschichte einzelne
Stimmen der Instrumente und Solisten heraus und fügte sie in zufällig
festgelegten Zeiteinheiten zusammen. Später erweiterte er diese Serie noch um
drei weitere, wesentlich kürzer gehaltene und kammermusikalisch angelegte
Stücke. Obwohl Cage selbst einmal geäußert haben soll, dass dieses Projekt eines
der wenigen Entscheidungen sei, die er bereue, hielt es Heiner Goebbels nicht
davon ab, die Ruhrtriennale 2012 mit diesem Werk zu eröffnen (siehe auch
unsere Rezension). Auch
der Wuppertaler Opernintendant Berthold Schneider, der in den vergangenen
Spielzeiten mit der Kombination von Richard Wagners drittem Akt der
Götterdämmerung mit Heiner Goebbels' Surrogate Cities und Helmut
Oehrings AscheMond immer wieder neue Wege fernab des gängigen
Musiktheaterrepertoires eingeschlagen hat, hat nun die postdramatische
Theatergruppe Rimini Protokoll eingeladen, um die Stadt an der Wupper erneut mit
experimentellem Musiktheater zu konfrontieren.
Spiel des Zufalls auf 64 Feldern: von links: Mark
Bowman-Hester, Sangmin Jeon, Iris Marie Sojer und Ralitsa Ralinova
Der Titel lässt sich als Wortspiel aus den Begriffen "Europe" und "your operas"
verstehen. So ist das Projekt in den späten 80er Jahren als ein Versuch des US-Amerikaners
Cage zu verstehen gewesen, den Europäern "ihre Opern", mit denen sie 200 Jahre
lang auch die Vereinigten Staaten geprägt haben, in etwas anderer Form
zurückzugeben. Dazu hat er insgesamt 64 Opern ausgewählt und zu einem Potpourri
der besonderen Art zusammengestellt. Es erklingen keine vollständigen
Arien oder Orchesterpassagen, sondern nach dem Zufallsprinzip werden einzelne
Stellen einzelner Instrumente oder Sänger ausgewählt. Außerdem wird
ausgewürfelt, zu welchem Zeitpunkt und wie lange die jeweiligen Passagen
vorgetragen werden. Dabei überschneiden sich einzelne Passagen, so dass der
eigentliche "Wohlklang" der Oper verloren geht. Man hat bisweilen das Gefühl,
atonale Musik zu hören, und erkennt nicht immer, dass es sich um große
Komponisten wie Wagner, Bizet oder Verdi handelt. Cage hat es dabei
freigestellt, ob der Ablauf eines Abends bei einer Produktion jedes Mal neu
ausgelost wird. Da der Verlauf aber sowieso schon kompliziert genug ist, da ja
auch die komplette Bühnenmaschinerie einbezogen wird, hat man sich in Wuppertal
entschieden, einmal einen Verlauf durch den Zufall festlegen zu lassen und bei allen weiteren
Aufführungen dabei zu bleiben. Dabei beginnt man mit dem 45-minütigen
Europera 2.
Europera 2: Opernfragmente auf der
Video-Leinwand
Europera 2 arbeitet mit Videosequenzen, in denen insgesamt neun
Sängerinnen und Sänger in jeweils einer europäischen Stadt eingeblendet werden
und zum live spielenden Orchester vorher festgelegte Opernfragmente singen. Wann
welcher Sänger auf welcher Leinwand eingeblendet wird, ist genauso ausgewürfelt
worden, wie die Entscheidung, wie die einzelnen Leinwände angeordnet sind. Dazu
hat das Regie-Team um Daniel Wetzel den Wuppertaler Wirt der Brückenschenke an
der Wupper nahe der Oper konsultiert und ihn auslosen lassen, aus wie vielen
Teilen Europera 2 in dieser Inszenierung bestehen soll. Die Wahl
ist zufällig auf die Zahl 27 gefallen. Da die eingeblendeten Solisten auf
öffentlichen Plätzen in den verschiedenen europäischen Städten stehen, wird ihr
Gesang von typischen Alltagsgeräuschen beeinträchtigt, so dass es sehr
schwer auszumachen ist, was sie eigentlich singen, zumal das Sinfonieorchester
Wuppertal aus dem Graben, von der Bühne und von den Eingängen zum Saal noch
weitere Instrumentalfetzen beisteuert. Das ist alles sehr ermüdend, da sich in
der wahllosen Abfolge der Bilder keinerlei Struktur erkennen lässt und selbst
der Versuch, "Erkennen Sie die Melodie?" zu spielen, häufig nicht von Erfolg
gekrönt wird. Da hilft es auch nichts, dass Lucia Lucas auf der Bühne auftritt
und auf der Seitenbühne in einem kleinen Miniaturtheater die Hintergründe neu
anordnet, die dann ebenfalls auf eine Leinwand projiziert werden, auf der
sie dann einen Auszug aus dem Wotan-Monolog des zweiten Aufzugs der Walküre
vorträgt. Rechts und links von der Bühne sind zwei Stoppuhren angebracht, die
genau anzeigen, wie lange es noch dauert, bis die ersten 45 Minuten vorbei sind.
Europera 1: Countertenor Denis Lakey in
langem Gewand, links vorne: Sangmin Jeon
In der Pause mag sich mancher Besucher gefragt haben, ob er den zweiten Teil mit
der doppelten Länge noch erträgt. Aber in der zweiten Aufführung weiß das
Publikum schon eher als bei der Premiere, worauf es sich eingelassen hat, und
ist dementsprechend vorbereitet. Da im zweiten Teil die Solisten nun live
auftreten, ist dieser Teil auch wesentlich spannender. Die Kostüme und
Requisiten, mit denen die Sängerinnen und Sänger in einzelne Quadrate der als
Schachbrett angeordneten 64 Felder treten, haben zwar nichts mit den Fragmenten zu
tun, die sie anschließend vortragen, aber sie sind ja genauso vom Zufall
bestimmt worden wie der Rest und müssen zwangsläufig nicht zusammenpassen. Beim
Live-Gesang hat man den Eindruck ein bisschen mehr aus den ausgewählten Opern wiederzuerkennen. Es fehlen aber auch im Gegensatz zu den Videosequenzen die
entsprechenden Nebengeräusche. Für die erkrankte Ralitsa Ralinova ist die
Sopranistin Elizabeth Wiles eingesprungen, die sich sehr gut in die Inszenierung
einfindet. Für komische Momente sorgen die elf Statisten, die nicht nur
Requisiten oder Bühnenbilder von einem Ort zum anderen transportieren müssen,
sondern auch mit einem großen Plakat eine Stimme über ihre Arbeit im Theater
bekommen.
Europera 1: Nina Koufochristou auf dem
Trampolin (links und rechts: Statisterie)
Ein wenig albern mutet der Einfall an, das Publikum ebenfalls in diese
Produktion mit einzubeziehen. Deswegen sind unter zahlreichen Sitzen vor der
Vorstellung Karten verteilt worden, die dem jeweiligen Gast einen
Regie-Anweisung
geben, was zu einer bestimmten Zeit während der folgenden 90 Minuten zu tun ist
und wie lange diese Aktion andauern soll. Da müssen dann plötzlich zahlreiche
Besucher aufstehen, sich recken und strecken oder zur Tür gehen und die Tür
laut knallen. Ein Zuschauer muss sogar auf die Bühne laufen und im Off
verschwinden. Ob die Hustengeräusche aus dem Publikum oder das Knistern von
Bonbonpapier ebenfalls auf einem Zettel standen, lässt sich allerdings nicht eindeutig festlegen. Das Publikum macht größtenteils die
Spielchen geduldig mit, empfindet vielleicht sogar ein bisschen Gefallen daran.
Beinahe gewagt scheint die Anweisung, eine politische Forderung in den Saal zu
rufen. Aber der Akteur verzichtet auf eventuelle Provokation. So vergehen mit
diesen Spielchen die 90 Minuten nach der Pause gefühlt schneller als der erste
Teil. Die zehn Solisten und das Sinfonieorchester unter der Leitung von Johannes
Pell geben alles, auch wenn sich bei den unterschiedlichen Fetzen natürlich kaum
ein Opernwohlklang einzustellen vermag. Das Publikum zeigt sich aber trotzdem
begeistert von der Produktion und spendet großen Beifall.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung
Regie
Bühne und Kostüme Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Statisterie der Wuppertaler Bühnen Solisten*rezensierte Aufführung Europera 2 Europera 1
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- Fine -