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Musiktheater
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Fidelio
Oper in zwei Akten
Libretto von Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke nach Jean Nicolas Bouilly
Musik von Ludwig van Beethoven
Musikalische Bearbeitung des Finales von Annette Schlünz
Weiterentwickelte Übernahme vom Theater Bremen

In deutscher Sprache mit Übertiteln

Premiere am 26. Oktober 2019 im Theater Darmstadt

Aufführungsdauer: ca. 2h 50' (eine Pause)


Homepage

Staatstheater Darmstadt
(Homepage)
Wer ist Fidelio?

Von Joachim Lange / Fotos von Nils Heck

Darf man sich an einem musikalischen Heiligtum wie Beethovens Fidelio vergreifen? Was die gesprochenen Texte betrifft, da hat bekanntlich kaum ein Interpetenteam Skrupel. Wenn man sie ersatzlos streicht, dann stellt sich gleichwohl ein Phantomschmerz ein. Ersetzt man die so entstandenen Lücken bspw. durch elektronische Klangfläche (wie Claus Guth es in Salzburg gemacht hat), dann riskiert man einen Aufstand im Parkett und ein Naserümpfen im Feuilleton. Wenn man neue Texte einfügt und die Geschichte so in Richtung Gegenwart überschreibt, dann geht auch das nur selten wirklich gut, wie ausnahmsweise bei Martin Mosebachs Beitrag für eine Pariser Inszenierung vor elf Jahren. Das Problem sind die Hörgewohnheiten, die früher oder später (wie bei der Zauberflöte oder dem Freischütz) jeden Widerstand aufgeben und das Gewohnte für das genau Richtige nehmen. Außerdem besteht Beethovens Musik nun mal auf der besonderen Melange aus Singspiel und Befreiungsoper.

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Fidelio, Leningrad 1928

Dass die Zeitläufte und ihre Wendungen noch allemal verstanden haben, vor allem das ausufernde (Befeiungs-)Pathos für sich zu vereinnahmen, das wird das Prinzip der szenischen Umsetzung in der Inszenierung von Georg Paul Dittrich, die vor einem Jahr in Bremen herauskam und die er jetzt für das Staatstheater Darmstadt vor allem am Ende noch einmal grundsätzlich überarbeitet hat. Er erzählt die Geschichte zunächst dicht an der Vorlage in wechselnden Bildern. Sozusagen in einem Wechselrahmen im Hintergrund der Bühne von Lena Schmid. Leonore ist von Anfang an wie ein Fremdenführer durch diese Zeitreise außerhalb der Szene präsent. Ohne Ehrgeiz, wie der Mann Fidelio auszusehen, in dessen Maske sich ja Leonore bei Rocco im Staatsgefängnis eingeschlichen hat, um an ihn heranzukommen. Und ihn zu befreien. Allerdings ohne wirklich überzeugenden Plan, "Töt' erst sein Weib" ist es ja wohl kaum. Aus Pizarro Sicht käme es weder auf einen zweiten Mord an, noch würde er sich von einem Revolver in Frauenhand abschrecken lassen. Anna Rudolph hat für die Leonore Katrin Gerstenberger einen goldglitzernden Hosenanzug kreiert, der auf das Inkognito als Mann deutet. Aber das halbierte Oberteil ist auf der einen Seite weiblich schulterfrei, so dass die Orte und Jahreszahlen, die schon auf dem Bilderrahmen stehen, wie ein Riesen-Tattoo auf der Haut zu erkennen sind. Über dem Portal werden die Daten dann korrekt und vollständig eingeblendet.

Vergrößerung Fidelio, Aachen 1938

Die erste Szene erinnert an die Uraufführung vom 23. Mai 1814 im Theater am Kärtnertor in Wien. Die Zeit war da schon über den ursprünglichen revolutionären Furor hinweggegangen und Napoleon der besiegte Eroberer kurz vor der Verbannung, so dass die Teilnehmer des Wiener Kongresses das Befreiungspathos einfach auf sich bezogen. Der erste Szenenwechsel landet im Mai 1860 in Théâtre Lyrique in Paris. Da erzwang die Zensur eine Verlegung der Handlung ins Jahr 1495 und nach Mailand.

Die nächste Station ist eine Proletkult-Version der Oper im Theater der Werktätigen in Leningrad von 1928 - mit einem Eisenstein-Zitat, jener berühmten Treppe in Odessa mit dem herab holpernden Kinderwagen. Pizarros Auftritt passt dann in eine Bebilderung, die im Stadttheater Aachen u.a. am 20. April 1938 als Geburtstagsständchen für Hitler mit Herbert von Karajan am Pult (miss-)verstanden werden wollte. Logisch, dass danach eine Inszenierung in den Trümmern des von Hitler angezettelten Krieges in Erinnerung gerufen wird. Am 4. September 1945 war Fidelio die erste Oper, die in Berlin nach dem Krieg aufgeführt wurde - der Zerstörungsnot gehorchend im provisorisch als Oper genutzten Theater des Westens. Alle diese Szenen werden von markanten Originalaufnahmen der jeweiligen Zeit überblendet und flankiert. Samt Kaiser, Hitler und Stalin und Konsorten. Als dann Dutschke und die Studentenrevolten flimmern, geht es Richtung 68er-Revolte im Westen Deutschlands. Mit einer entsprechend ambitionierte Inszenierung des Stadttheaters Kassel vom 15. September 1968 mischte sich Ulrich Melchinger in den gesellschaftlichen Aufruhr ein.

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Fidelio, Kassel 1968

Das tat auch Christine Mielitz mit ihrer Variante am 7. Oktober 1989 in der Semperoper Dresden. Also zu einer Zeit und an einem Ort, als sich Zeitgeschichte und Kunst so nahe wie nur selten kamen. An eine Viertelstunde stehende Ovationen nach dem Gefangenenchor erinnern Zeugen im Programmheft. Für die erste Premiere lag es für Dittrich auf der Hand, die Zeitreise in Bremen durchs Ziel gehen zu lassen. Was auch nicht schwer fiel, denn so wie Johann Kresnik dort am 3. Oktober 1997 das ganze Theater enterte und den Konkurs der Vulkan-Werft zum Thema machte, wurde das zu einer der aufregendsten Fidelio-Inszenierungen der letzten Jahrzehnte. Obendrein eine, die sogar szenischen Witz hatte. Man könnte einwenden, dass man sich mit dieser Methode der Interpretation alle ambitionierte Werke der Opernliteratur vornehmen könnte. Was auch stimmt. Man muss es aber erstmal machen. Und können. Dittrich kann.

Vergrößerung Fidelio, Dresden 1989

Damit ist aber erst der historische Teil der selbst gestellten Aufgabe einer Fidelio-Hinterfragung gelöst. Bleibt immer noch die nach dem Hier und Heute. Und da wird die Antwort radikal, verlässt die Ebene der Bebilderung und macht auch vor der Musik nicht halt. Nach der Kamera sind wir im Hier und Jetzt. Die vierte Wand ist durchbrochen, ein Teil der Zuschauer sitzt auf der Bühne um eine Riesentafel herum. Auf der Pizarro Florestan "serviert". Und die Zuschauer zum revoltierenden Mittun animiert werden. Samt der Frage in großen Lettern: "Bewegt es dich?". Was Dittrich bis hierher an Stilmitteln verwendet, ist nicht umstürzend neu, auch nicht, was die Verweigerung der Bebilderung des Finales betrifft. Aber es ist gekonnt und mehr oder (bei dem Bild mit der Tafel) weniger konsequent und schlüssig. Neu ist aber der Mut zum Aufbrechen des Notentextes. Annette Schlünz hat nämlich die Musik der Finales neu bearbeitet. Die in Dessau geborene Komponistin hat u.a. bei Udo Zimmermann und beim Komponisten-Vater des Regisseur Paul-Heinz Dittrich Komposition studiert. Sie bricht das Finale an einigen Stellen für Momente auf und eröffnet in Raum und Zeit vorausgreifende assoziative Räume, die die hemmungslos jubelnde Utopie von Freiheit und Gattenliebe zwar nicht bloßstellen, aber doch hinterfragen, um dann immer wieder auf Beethoven zurückzukommen. Ein interessantes Experiment, dem auch die meisten Zuschauer mit Interesse folgten. Damit landet die Zeitreise der szenischen Interpretation nicht nur punktgenau in der Gegenwart der Premiere in Darmstadt, sondern verweist sogar in die Zukunft. Ohne so zu tun, als wäre sie eine Antwort auf die Frage "Fidelio wer?". Die Frage, ob es bewegt, kann jeder für sich an Ort und Stelle beantworten.

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Fidelio, Darmstadt 2019

Daniel Cohen wirft sich mit seinem Orchester mit Lust in diese Abenteuerreise. Samt der eingefügten dritten Leonoren-Ouvertüre und den aufbrechenden Novitäten, die ein ziemliches Maß an koordinierendem Überblick erfordern. Kerstin Gerstenberg in der Titelrolle setzt ihre gesamte gereifte stimmliche und darstellerische Autorität für ihre Leonore ein, der jede Hosenrollenpeinlichkeit erspart bleibt. Heiko Börner ist vokal standfester Florestan. Michael Pegher (Jaquino) und Jana Baumeister (Marzelline) agieren souverän, zumal sie sich mehr auf den Wandel der Zeiten als auf die Psychologie der Gefühle bzw. im Falle von Marzelline auf deren Verwirrung konzentrieren können. Imposant ist Wieland Satters Pizarro, seriös solide Dong-Won Seo als Rocco. Bei dem von Sören Eckhoff einstudierte Chor wird die Koordination bei seiner Verteilung im Raum sicher noch wachsen.


FAZIT

Paul Georg Dietrich hat Fidelio in einer Zeitreise in Darmstadt von außen betrachtet. Er hat die Rezeptionsgeschichte von Beethovens einziger Oper damit eindrucksvoll in Szene gesetzt und ihr zugleich ein eigenes Kapitel hinzugefügt.


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Produktionsteam


Musikalische Leitung
Daniel Cohen

Inszenierung
Paul-Georg Dittrich

Bühne
Lena Schmidt

Kostüme
Anna Rudolph

Video
Kai Wido Meyer

Chor
Sören Eckhoff

Dramaturgie
Carolin Müller-Dohle



Opernchor des Staatstheaters Darmstadt

Staatsorchester Darmstadt


Solisten

Leonore
Katrin Gerstenberger

Florestan
Heiko Börner

Rocco
Dong-Won Seo

Pizarro
Wieland Satter

Marzelline
Jana Baumeister

Jaquino
Michael Pegher

Don Fernando
Werner Volker Meyer

1. Gefangener
Daniel Ewald

2. Gefangener
Werner Volker Meyer



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Staatstheater Darmstadt
(Homepage)



Da capo al Fine

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