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Zwischen Tagträumen und Nachtgedanken
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Ein tänzerischer Dialog von Neuer und Alter Welt: Auf ausgesprochen charmante Weise hat George Balanchine, ein Georgier mit russischer Ausbildung und Pariser Karriere in New York, 1957 den amerikanischen und den europäischen Tanz miteinander verwoben. Square Dance greift, wie der Titel andeutet, Elemente des amerikanischen Volkstanzes auf, eben des "Square Dance", bei dem vier anfangs im Quadrat ("Square") aufgestellte Paare auf Ansage des "Callers" bestimmte Figuren tanzen. Balanchine spielt ziemlich frei mit diesem Modell (greift vor allem die Idee des formalisierten Gruppentanzes mit wechselnden Figuren auf, nicht die Figuren selbst), verwendet dabei das Vokabular des (neo-)klassischen, europäischen Balletts, ersetzt die traditionelle Fidel spitzbübig durch das barocke Concerto grosso - und vereinnahmt den Volkstanz somit durch die hohe Ballettkunst. In der ersten Fassung hat es noch mehr "amerikanische" Elemente gegeben, nämlich tatsächlich noch einen "Caller", sogar einen Heuballen als Requisite - in der revidierten Fassung von 1972, die jetzt in Duisburg getanzt wird, ist das weggefallen. Das Spiel mit den verschiedenen Ebenen ist dadurch natürlich subtiler, der Rahmen abstrakter. Aber Balanchines Neoklassizismus, durch das Überlagern der Formen mit feiner Ironie unterlegt, ist vom folkloristischen Beigeschmack befreit. Die Herren im Trikot, die Damen mit Röckchen und knappem Oberteil sehr weiblich, alles in strahlendstem Weiß, auf leerer Bühne (vor ätherisch bläulichem Hintergrund) - das zeigt Balanchines Vorstellung vom "Ballett pur", dem "reinen", auch von Handlungselementen befreiten Tanz als ästhetischem Selbstwert. Square Dance ist von zeitlos betörender Schönheit.
Ohne Balanchine ist der Choreograph Martin Schläpfer nicht zu denken, und wohl auch deshalb hat dieser in seiner in ein paar Monaten endenden Zeit als künstlerischer Leiter des Ballett am Rhein keinen anderen Choreographen so oft auf das Programm gesetzt wie Balanchine. Nach Serenade, The Four Temperaments, Agon, Concerto Barocco, Episodes, Duo Concertant, Mozartiana und Stravinsky Violin Concerto ist Square Dance die neunte Arbeit im Repertoire. Es ist aber mehr als eine Verneigung vor einem der größten Choreographen überhaupt; es ist immer auch ein fruchtbares Abstecken der Bedingungen gewesen, unter denen Schläpfers eigene Werke entstanden sind. Und so korrespondiert auch Square Dance vielschichtig mit manchem, was man in der Ära Schläpfer gesehen hat, oft auch in den Abgrenzungen wie in Reformationssymphonie - dazu unten mehr. Sonja Dvorak tanzt den weiblichen Solopart püppchenhaft leichtfüßig und mit jugendlicher Eleganz, besitzt dabei eben das richtige Maß an Unbeschwertheit. In der späten Fassung hat Balanchine noch ein großes Solo für seinen Startänzer Bart Croft (der hier die Einstudierung übernommen hat) eingefügt. Orazio di Bella tanzt akkurat, aber recht neutral - ein wenig mehr Persönlichkeit darf er noch entwickeln. Square Dance: Sonia Dvořák, Orazio di Bella, Ensemble Nach der strengen, klaren Ästhetik Balanchines setzt die Uraufführung von Remus Şucheanăs Symphonic Poem geradezu auf visuelle Überwältigungsästhetik. Drei Schlagzeuger schweben auf hochgezogenen Podesten in einem nachtschwarzen Himmel oberhalb der Bühne, die von einem schwarz-weißen Hintergrund, ein Gewirr von schwarzen Linien auf weißem Grund, begrenzt wird (die dritte Ebene stellt der Orchestergraben dar, war in der Einführung zu hören, sodass Untergrund, Erde und Himmel präsent sind). Spektakulär eigenwillig sind die Fantasiekostüme (Mylla Ek): Die Damen in knappen Kleidchen mit Strumpfhosen, an den Armen flügelartige Erweiterungen, und neckische Hütchen, für jede Tänzerin anders, auch in der Farbe - das erinnert an Kobolde, Harlekine (und ein bisschen auch an Kindergeburtstag), sieht mitunter auch arg nach Modeschau aus. Die Herren tragen ärmellose, unten weite Kutten, die stark an buddhistische Mönche denken lassen. Viel Stoff jedenfalls, und die Choreographie mit etlichen Drehungen von Armen, Beinen und ganzen Körpern hat offensichtlich viel Freude an flatternden und wehenden Stoffbahnen.
Die knapp eine Viertelstunde lange Komposition Metacosmos der 1977 geborenen isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir ist eine verschwommen flächige Musik, aus der sich immer wieder inselartig rhythmische oder melodische Strukturen herausbilden und wieder verschwinden. Şucheană antwortet darauf mit einer fließenden Choreographie, wie eine große Bewegung, von der die Tänzerinnen und Tänzer aufgesogen werden, in der sich Gruppen bilden und lösen. Ein wenig naiv wirkt das mitunter, allzu sehr der Musik folgend (ohne Akzente zu setzen und einen allzu großen Mehrwert zu erzeugen), ist aber hübsch anzusehen. Unter den wallenden Kostümen gehen die Tänzerpersönlichkeiten allerdings ziemlich verloren, und so erhält das Symphonic Poem einen Überhang ins Dekorative. Symphonic Poem: Ensemble
Geplant war es vermutlich nicht so, aber Martin Schläpfers Choreographie zu Felix Mendelssohn-Bartholdys Reformationssymphonie, am balletmainz uraufgeführt und bereits in Düsseldorf und Duisburg gezeigt, u.a. in reprise.01, wirkt wie ein extrem körperlicher Gegenentwurf und gleichzeitig ein Korrektiv zu Şucheanăs Kostümexessen. Tänzerinnen und Tänzer tragen hautenge, knappe Trikots, schwarz mit gerade noch sichtbaren goldenen Streifen. Im harten Streiflicht treten die muskulösen Körper hervor. Wuchtig und kantig treten die Tänzer auf, stampfen ringen geradezu mit der Schwerkraft. Später, wenn die Damen dazukommen, wird der Spitzenschuh immer wieder in den Boden gerammt, und das wiederum ergibt ein interessanten Spannungsbogen zu Balanchines Square Dance, wo Tanz auf Spitze auch pointiert eingesetzt wird, nur eben in einer aufreizend klassischen Form. Schläpfer deutet nicht nur dieses Element um; das klassische Vokabular wird geradezu als Kampfmittel eingesetzt. Der Tanz ist athletisch, sehr energiegeladen, die Bewegungen von messerscharfer Präzision. Im zweiten Satz agieren die Tänzerinnen und Tänzer dann slapstickhaft wie Puppen oder Marionetten, erst in den letzten beiden Sätzen darf der Tanz tatsächlich auch einmal "schön" sein, wenn auch weit entfernt von Balanchines ungetrübter Schönheit an sich.
Reformationssymphonie ist ein Nachtstück. Immer wieder treten die Akteure aus dem Dunkel des Bühnenhintergrunds heraus und verschwinden irgendwann wieder darin. Bei allem Bedauern, dass Schläpfer kein neues, nicht einmal ein noch nicht in Düsseldorf und Duisburg gezeigtes Ballett ausgewählt hat: Beim Wiedersehen imponiert die Eindringlichkeit ebenso wie die sprudelnde Kreativität, auch das Maß an Frechheit, an Unkonventionalität, an Frische. Täuscht der Eindruck, oder ist Schläpfer in den zehn Jahren am Ballett am Rhein doch einiges von dieser Unverbrauchtheit abhandengekommen? Schwierig bleibt indes das Bild eines am Boden knienden, betenden Mannes im Finalsatz, der sich offenbar selbst schlägt - die pathosgeladene, ziemlich breit ausinszenierte Geste hat mich schon bei der ersten Begegnung mit diesem Werk gestört. Aber davon abgesehen erweist sich das Werk beim Wiedersehen als ein ganz starkes. Reformationssymphonie: Ensemble
Die Duisburger Philharmoniker unter der souveränen Leitung von Martin Braun, Kapellmeister am Theater Linz, zeigen sich in allen drei Epochen versiert: Mit Leichtigkeit und Eleganz bei Vivaldi und Corelli in Square Dance (mit Siegfried Rivinius, Önder Baloglu, Matthias Bruns und Johannes Heidt - alle vier aus dem Duisburger Orchester - an den Soloviolinen), transparent und farbig in Metacosmos und gewichtig, aber nicht zu schwer in der Reformationssymphonie, bei der durchaus anklingen durfte, was Richard Wagner dem Werk und seinem Komponisten bei aller Abneigung zu verdanken hat.
Zwischen Balanchines blütenweißen Tagträumen und Schläpfers Nachtgedanken nehmen sich Şucheanăs Fantasiewelten eher harmlos aus. Einem in seinen beziehungsreichen Kontrasten großartigen Tanzabend schadet das nicht. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamSquare Dance
Choreographie
Licht
Einstudierung
Musikalische Leitung
Soloviolinen Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und Tänzer
Ensemble
Uraufführung: 12. November 1957, Symphonic Poem (Uraufführung)
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Musikalische Leitung Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und TänzerMarlúcia do AmaralCamille Andriot Vivian de Britto Schiller Wun Sze Chan Feline van Dijken Sonia Dvořák Eleanor Freeman Yuko Kato Norma Magalhães Marié Shimada Tessa Vanheusden Rashaen Arts Orazio di Bella Yoav Bosidan Rubén Cabaleiro Campo Edward Cooper Michael Foster Philip Handschin Vincent Hoffman Pedro Maricato Daniel Smith Arthur Stashak Reformationssymphonie
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Einstudierung
Musikalische Leitung Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und TänzerDoris BeckerAlexandra Inculet So-Yeon Kim Helen Clare Kinney Aleksandra Liashenko Sinthia Liz Asuka Morgenstern Marié Shimada Virginia Segarra Vidal Gloria Todeschini Rashaen Arts Brice Asnar Calogero Failla Pedro Maricato Marcos Menha Tomoaki Nakanome Kristián Pokorný Boris Randzio Alexandre Simões Daniel Vizcayo Eric White Uraufführung: 23. Februar 2008,
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