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Tosca  

Melodramma in drei Akten
Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach dem Drama La Tosca von Victorien Sardou
Musik von Giacomo Puccini

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden, 40 Minuten (1 Pause)

In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere am 20. Oktober 2019 in der Staatsoper Hannover



Staatsoper Hannover
 (Homepage)

Ein Psychoterrorist als Täter und Opfer


Von Bernd Stopka / Fotos von Karl und Monika Forster

„Mit La Bohème wollten wir Tränen ernten, mit Tosca wollen wir das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen aufrütteln und ihre Nerven ein wenig strapazieren. Bis jetzt waren wir sanft, jetzt wollen wir grausam sein.“ Dieses im Programmheft abgedruckte Zitat von Giacomo Puccini steht wie ein Credo über der Neuinszenierung seiner Tosca an der Staatsoper Hannover.
 
foto folgt
Mesner (Daniel Eggert, vor dem Chor stehend)

Regisseur Vasily Barkhatov geht in seinem Regiekonzept psychoanalytisch vor, beleuchtet insbesondere die Seele Scarpias und macht ihn so zur Hauptfigur. Der ist hier Bischof und Teil einer Gewaltherrschaft, in der Politik und Kirche Hand in Hand arbeiten. Ein Kirchenfürst, der auch vom Ausgang der Wahlen abhängig ist, deren Hochrechnungen er auf einem Bildschirm verfolgt.  Er ist ein durchaus attraktiver Machtmensch, der sich seiner Lust und Macht hingibt, aber nicht aus Leidenschaft, sondern geradezu zwanghaft. Für die Sängerin Tosca pflegt er eine Obsession, die alles übersteigt. Er begehrt sie nicht nur körperlich, er verehrt sie als Künstlerin, sammelt Schallplatten und Kostümteile wie Devotionalien.

Die Regie erklärt, wie es dazu kam und wieso Scarpia so wurde, wie er ist. Dabei verbindet der Regisseur die #MeToo-Debatte mit kirchlichem Missbrauch und ist hochaktuell – aber nicht auf künstlich herbeigezogene Weise, sondern analytisch bedingt: Der als Kind vom Mesner vergewaltigte Scarpia wurde zum Täter, weil er seine eigene Missbrauchsgeschichte nicht anders bewältigen konnte. Der körperlich und psychisch Missbrauchte wird selbst zum Psychoterroristen – diese Eigenschaft ist im Libretto mit den detailliertesten Regieanweisungen nachzulesen und auch in der Musik zu hören, regieliche Zutat ist hier nur, wie es dazu kam. Nun ist Scarpia selbst böse, weiß das auch, kann aber nicht anders. Tosca ist für ihn der einzige Lichtblick in seinem schwarzen Leben. Aber mehr noch: Tosca soll tun, was er nicht fertigbringt: ihn töten und ihn so stilvoll aus seinem Wahn erlösen. Dass es dazu kommt, inszeniert er mit einer geradezu diabolisch perfiden Intrige.
Das liest sich zunächst einmal hochspannend und hochspannend ist auch die Frage, wie die Regie das auf die Bühne bringt.
 
Foto folgt Scarpia (Seth Carico, oben), Chor  

Schon vor Beginn der eigentlichen Handlung sieht man, wie Scarpia versucht, Angelotti und seine Schwester, mit denen er am Tisch in seinem Büro sitzt, zu erpressen, indem er verlangt, dass sie sich ihm hingibt, damit ihr gefangener Bruder am Leben bleibt. Dem wird künstlich die Flucht ermöglicht, (was die immer wieder auftauchende Frage beantwortet, wieso ein Gefangener aus der Engelsburg fliehen können sollte). Man gibt ihm Vorsprung, um ihn dann zu jagen. Damit man das Spiel versteht, werden die lautlos gesprochenen Texte wie in einem Stummfilm eingeblendet, was darauf verweist, dass Puccinis Musik oft als Vorläufer der Filmmusik angesehen wird. Scarpias bühnenbreite Zimmerflucht kann in den Schnürboden hinaufgezogen werden und so werden zwei Spielebenen ermöglicht (Bühne: Zinovy Margolin, Kostüme Olga Shaishmelashvili). In der Kirche wird ein Konzert vorbereitet. Eine Krippe, der Leuchtschriftzug „Merry Christmas“ über der Bühne und eine Bühnenbegrenzung aus 24 Türen hinter 24 Torbögen (Adventskalender?) zeigen, dass Weihnachtszeit ist. Wieso Weihnachten? Vielleicht weil Weihnachten für einsame und psychisch kranke Menschen, insbesondere mit hoher Suizidalität, bekanntermaßen die schlimmste Zeit im Jahr ist. Für Scarpia damit auch und so erklärt sich, warum gerade jetzt. Warum gerade hier, erklärt sich zunächst nur andeutungsweise durch den Umgang des Mesners mit einem Chorknaben und dem boshaften Entzug der Kardinalshand, als der Mesner den Ring küssen will.

Angelotti hat Cavaradossi in seine Flucht mit hineingezogen, und so wird auch er zu Scarpias Spielball – er, der als Toscas Geliebter Scarpias größter Rivale ist. Als ärmlicher, jugendlicher, fotografierwütiger Multikünstler hat er eine Magdalena für die Krippe geschnitzt (was hat sie da eigentlich zu suchen?) und die will er nun hier lackieren. Seltsam, dass Tosca sich an den blauen Augen der Figur stört – die hat gar keine. Tosca kommt in Alltagskleidung mit einem Klavierauszug von einer Probe und scheint ziemlich genervt zu sein. Leidenschaft sucht man bei ihr vergebens, Religiosität auch. Sie legt sich kuschelnd mit Cavaradossi in die Krippe und er schaltet die elektrische Sternenbeleuchtung darin ein. Während der ebenso berufsmäßig gekleidete wie korrekt auftretende Chor das Podium betritt, sieht man Scarpia eine Etage höher in seinem „Tosca“-Zimmer. Er suhlt sich in Verehrung und wälzt sich hoffnungsvoll mit den Kleidern seiner Göttin in der Hand.
 
Zu Beginn des zweiten Aktes sitzt Scarpia mit Angelotti, der das Frauenkleid trägt, das seine Schwester für seine Flucht zurechtgelegt hatte, der halbnackten, geschändeten Attavanti und Cavaradossi wiederum an seinem Esstisch und spinnt die Intrige weiter. Er verhandelt das Leben aller drei gegen Toscas Ehre – alle spielen mit und lassen sich von ihm instrumentalisieren. Eine Folterung findet in der Devotionalienkammer neben Scarpias Büro nicht statt, aber Cavaradossi stöhnt und schreit auf Anweisung, bevor alle drei Gefangenen fortgeführt werden. Immer wieder verliert Scarpia die Haltung, so wie jemand, der kurz vor dem Ziel Angst bekommt, es könne noch etwas schief gehen. Und andererseits ist er ehrlich zu Tränen gerührt, als Tosca ihr „Vissi d'arte“ singt. Als Einverständniserklärung, sich Scarpia hinzugeben, um Cavaradossis Leben zu retten, knallt Tosca Scarpia einen Kuss auf den Mund. „Der Kuss der Tosca“ in anderer Version. Sie beginnt, ihr Kleid auszuziehen und er entledigt sich seiner Soutane, die sie anziehen muss. Dann schnallt er ihr seinen alten Schulrucksack auf die Schulter, legt sie auf dem Bauch über den Tisch und öffnet seine Hose. Das wirkt wie ein widerlicher Versuch, die selbst erlebte Gewalt durch Wiederholung zu überwinden. Doch bevor es zur Vergewaltigung kommt, dreht Tosca sich um und stößt ihm ein Messer in die Brust.

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                                                          folgt
Cavaradossi (Rodrigo Porras Garulo), Sciarrone (Nils Sandberg), Attavanti (Leonie Jannack), Scarpia (Seth Carico), Tosca (Liene Kinča)

In seinem Schulrucksack findet sie einen Briefumschlag, der an sie adressiert ist. Er enthält eine DVD, auf der sie Scarpias Abschieds-Videobotschaft sieht. Er erklärt ihr seine Seele, seinen Missbrauch – der eine Etage tiefer in der Kirche angedeutet wird – und sie beginnt ihn zu verstehen und sieht hinter dem Monster einen verletzten Menschen.
Erneut sitzen Cavaradossi, Angelotti und seine Schwester mit Scarpia am Tisch. Mit den Worten des Schließers „für Euch“ gibt Scarpia Cavaradossi ein Glas Wein und später Stift und Papier für den Abschiedsbrief. In einer unwirklich ausgeleuchteten Vision oder einem Wunschtraumbild (immer gut, wenn die Szene nicht wirklich ins Regiekonzept passt), erlebt Tosca die glückliche Vereinigung und Errettung – und die Befreiung von kirchlicher Unterdrückung, wenn sie erst zwischen lebensgroßen Krippenfiguren mit Cavaradossi kuschelt wie im ersten Akt in der kleinen Krippe und sie beide dann die Figuren zum „Trionfal“-Gesang umstoßen. Momentweise vermischen sich in dieser Szene die Figuren, Cavaradossi nimmt Scarpias Haltung ein – rauchend an den Schreibtisch gelehnt – und wiederholt dessen Vergewaltigungsversuch und wird von Tosca erstochen. Als das Traumbild verschwunden ist, liegt Tosca mit dem toten Scarpia im Arm auf dem Boden und erlebt die ferne Hinrichtung Cavaradossis, die hier offensichtlich wirklich nur eine Scheinhinrichtung ist, nur hörend. Mit ihren letzten Worten „O Scarpia, avanti a Dio!“ schickt sie ihn zu Gott, der, alles wissend, sein Urteil über ihn sprechen möge und krallt sich geradezu an seiner Leiche fest. Der hat sein Ziel erreicht und Tosca ist nun ganz sein, mit ihrem Mitleid, mit ihrem Verständnis, mit dem Messer, mit dem sie ihm den größten Wunsch erfüllt und ihn erstochen hat. Er hat alle zu Mittätern gemacht. Fast kommt auch beim Zuschauer Mitgefühl auf und auch eine ungeheure Beklemmung, ebenso manipuliert zu werden. Die Räume fahren ein letztes Mal in den Schnürboden und unten sieht man den traurigen Cavaradossi einsam mit seinem Fotoapparat in der Krippe sitzen.


Zugegeben, einiges liest sich besser, als es sich auf der Bühne darstellt, aber auch an den heiklen Stellen – den „Krücken“ ("Traum-/Wunschbilder" und "eingefügte Szenen mit Textprojektionen"), wenn Konzept und Text nicht so richtig zusammenpassen – weiß man immer, was der Regisseur ausdrücken und zeigen will. Und das ist ausgesprochen sensibel hinterfragt, klug gedacht und handwerklich gut gearbeitet. Sehr vieles bewegt sich eng am Text, etwa wenn Angelotti singt, dass seine Schwester alles tue, um ihn vor Scarpia zu retten, während sie sich dem Despoten hingibt. Die Begegnung Scarpias mit Tosca im ersten Akt ist zunächst als fast schon scheue Begegnung des Verehrers mit seinem Idol inszeniert und nicht sofort als Intrige. Dabei wirkt es geradezu perfide, dass Scarpia Tosca kein Weihwasser mit dem Finger reicht, sondern sie seinen Kardinalsring küssen lässt.

Anderes muss mit den schon genannten Textprojektionen verdeutlicht werden und es braucht einiges an Offenheit und Neugierde, um nachzuvollziehen, warum Scarpia seine Intrige so weit ausdehnt und so viele Menschen mit hineinzieht. Wieso er Toscas Gefühle zu anderen Menschen eliminieren muss, damit er sie ganz in der Hand hat – nicht nur, um sich von ihrer Hand töten lassen zu können, sondern auch, um sie emotional an sich zu binden. Verständnis hat er nie erlebt – er durfte auch nie darum bitten, sich nie so weit öffnen und angreifbar machen. Und selbst bei seiner Videobotschaft raucht er noch cool eine Zigarette und versucht, nicht schwach zu erscheinen.

Foto folgtCavaradossi (Rodrigo Porras Garulo), Tosca (Liene Kinča) 

Die Grundaussage, dass der Missbrauch in dieser Geschichte zur Keimzelle des Grausamen wird, geht unter die Haut. Ebenso, dass der Mesner, der musikalisch ja ebenso trottelig wie bigott charakterisiert ist und dem man zutrauen könnte, sich an Schwächeren zu vergreifen, als Täter gezeigt wird. Das Lied des Hirtenknaben im dritten Akt, von einem Chorknaben gesungen, während der Mesner um ihn herumschleicht und ihn maßregelt, bekommt vor diesem Hintergrund eine weitere Gänsehautdimension: neben dem herzbewegenden Gesang auch eine tragisch-grausame.

Vor dem Hintergrund seiner Analysen zeigt der Regisseur die Handlung nicht nur szenisch mit unzähligen klugen Details, sondern auch sehr nah an der Musik orientiert, was dem ganzen Abend einen grausamen Schauer überzieht, wenn man sich auf diese Sichtweise einlässt. Und das sollte man, denn sie ist in jeglicher Hinsicht spannend und tief bewegend.

Eigentlich müsste die Oper nicht Tosca, sondern Scarpia heißen und das im doppelten Sinne, denn nicht nur regiebedingt ist Scarpia zur Hauptfigur geworden, sondern auch sängerisch und darstellerisch. Seth Carico ist ein so fantastischer Sängerdarsteller, dass man momentweise vergessen könnte, in der Oper zu sein. Mit seinem stimmvollen, hochkultivierten und traumhaft schön timbrierten Bariton gestaltet er ausdrucksstark und differenziert, nie protzig auftrumpfend die vielschichtigen Charakterseiten des Täters und Opfers Scarpia und macht die regieliche Interpretation dieses Menschen intensiv erlebbar. Ein grandioses Haus- und Rollendebut! Mit Rodrigo Porras Garulo steht ein Cavaradossi auf der Bühne, wie man ihn sich oft wünscht und selten erlebt. Sein jugendlich frischer, klangschöner Tenor hat volles, aber nicht baritonal klingendes Material. Mit wunderschön lyrischen Passagen kann er ebenso begeistern wie mit kraftvoll strahlenden Höhen. Liene Kinca ist eine sehr spezielle Tosca, die ihre Gefühle unter Kontrolle hält und auch gesanglich eher eine kühle als leidenschaftliche Künstlerin gestaltet. Ihr Sopran klingt manchmal etwas hart und einige scharf-schrille Höhen sollten, bei allem Verständnis für intensiven Ausdruckswillen, noch geglättet werden. 
Richard Walshe ist ein eindrucksvoller Angelotti und Daniel Eggert singt und spielt die in dieser Sichtweise abstoßende Figur des Mesners sehr beeindruckend. Auch die kleineren Partien sind adäquat besetzt und runden den guten Gesamteindruck würdig ab. Ein Sonderlob für Ben Walz, der mit dem kurzen Gesang des Hirtenknaben einen besonders guten Eindruck hinterlässt.
Kevin John Edusei erreicht mit dem bestens disponierten Orchester einen einerseits fein differenzierten und andererseits genussvoll schwelgerischen Orchesterklang, dramatisch aber nicht reißerisch. Chor und Extrachor klingen homogen und exakt einstudiert, ebenso der Kinderchor, der sich stimmvoll und spielfreudig präsentiert.


FAZIT

Großartige Männerstimmen, die rundum begeistern. Szenisch hochspannend analysiert und überwiegend überzeugend auf die Bühne gebracht, wenn die Sichtweise und Darstellung auch polarisiert: Selten hat man in den letzten Jahren eine solche „Buh“- und-„Bravo“-Schlacht in Hannovers Opernhaus erlebt wie nach dieser Premiere.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung    
*Kevin John Edusei
Michele Spotti

Eduardo Strausser

Inszenierung   
Vasily Barkhatov

Bühne
Zinovy Margolin

Kostüme    
Olga Shaishmelashvili

Chor
Lorenzo da Rio


Licht, Video   
Alexander Sivaev

Dramaturgie    
Regine Palmai


Chor der Staatsoper Hannover
Extrachor der Staatsoper Hannover
Kinderchor der Staatsoper Hannover

Statisterie der Staatsoper Hannover

Niedersächsisches Staatsorchester Hannover


Solisten

*Besetzung der rezensierten
Aufführung


Floria Tosca
Liene Kinča

Mario Cavaradossi
*Rodrigo Porras Garulo
Damir Rakhmonov


Baron Scarpia / Ein Schließer
*Seth Carico
Nikoloz Lagvilava


Cesare Angelotti
Yannick Spanier
*Richard Walshe


Mesner
*Daniel Eggert
Frank Schneiders


Spoletta
*Pawel Brozek
Uwe Gottswinter

Sciarrone
*Nils Sandberg
Gagik Vardanyan

Ein Hirt
Ben Walz (Solist des Knabenchores
der Chorakademie Dortmund)

Der junge Scarpia
Jannik Fröhlich

Marchese Attavanti

Leonie Jannack

 

Weitere Informationen
erhalten Sie von der

Staatsoper Hannover
(Homepage)





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