Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musiktheater
Zur OMM-Homepage Zur Musiktheater-Startseite E-mail Impressum



Die Nase

Oper in drei Akten und einem Epilog
Text von Georgi Ionin, Alexander Preis, Jewgeni Samjatin und
vom Komponisten nach der gleichnamigen Novelle von Nikolai Gogol (1836), deutsche Fassung von Ulrich Lenz

Musik von Dimitri Schostakowitsch

In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Dauer: ca 1 3/4 Stunden – keine Pause

Premiere am 7. September 2019
(rezensierte Aufführung: 10.09.2019)

 



Hamburgische Staatsoper
(Homepage)

Seltener Fall: eine groteske Oper

Von Christoph Wurzel / Fotos: © Arno Declair

Eines Morgens wacht der Unterbeamte Kowaljow ohne Nase auf. Was nun? Ohne Nase ist er nicht gesellschaftsfähig, schon gar nicht bei Frauen. Panisch beginnt er nach dem verschwundenen Organ zu suchen. Ausgerechnet in einer Kathedrale taucht die Nase auf, stellt sich als Staatsrat vor, entwischt ihm aber im Gewühl. Eine Suchanzeige in der Zeitung scheitert am Desinteresse der Redakteure, die sich lieber mit entlaufenen Hunden beschäftigen. Auch die Polizei zeigt sich angesichts der verschwundenen Nase überfordert. Die Situation wächst sich zum Tumult aus, als die Nase an einer Bahnstation doch erwischt und eingefangen werden kann. Nicht ohne ein gehöriges Schmiergeld zu verlangen, händigt ein Wachtmeister Kowaljow seine Nase wieder aus. Doch diese zeigt sich widerständig und plumpst zu dumpfen Paukenschlägen immer wieder aus seinem Gesicht. Ein herbeigerufener Arzt gibt wichtigtuerisch nur nutzlose Ratschläge, ein Freund rät zur Homöopathie und Kowaljow verdächtigt seine Nachbarin der Hexerei. Mittlerweile sind alle in eine Nasenhysterie verfallen, die von Polizei und Feuerwehr nur mühsam gebändigt werden kann. Doch ebenso plötzlich wie sie verschwunden war, sitzt die Nase auf einmal wieder mitten im Gesicht ihres Besitzers, so als wäre nichts gewesen. Kowaljow ist nun wieder wer und kann neuen Liebesabenteuern entgegen gehen.

Bild zum Vergrößern

Die Nase und ihr Eigentümer: Bo Skovhus (Kowaljow), Bernhard Berthold (Die Nase) und Ensemble

Unbegreifliche Vorgänge sind es, die Nikolai Gogol im zaristischen Russland zum Gegenstand seiner Erzählung gemacht hat. Selbstironisch bemerkte er dazu, dass das Vaterland eigentlich keinen Nutzen von solchen Stoffen habe. Und trotzdem wurde seine Novelle ein großer Erfolg, weil die Zeitgenossen deren satirischen Gehalt durchaus verstanden.  Als der 21jährige Dimitri Schostakowitsch nach einem Opernstoff suchte, erschien ihm gerade diese surrealistische Geschichte geeignet, seiner Zeit den Spiegel vorzuhalten. Der historische Stoff schien ihm im künstlerisch revolutionären Umfeld der frühen Sowjetunion für beißende Kritik mehr geeignet, als die zumeist hymnischen literarischen Werke seiner Zeitgenossen.

Kleinbürgerliches  Duckmäusertum, bürokratischer Größenwahn, Bestechlichkeit und autoritäre Anmaßung der Staatsgewalt sind schon bei Gogol die bestimmenden Themen. So hält sich die Oper inhaltlich sehr eng an die literarische Vorlage. Schostakowitsch, der sich in den 20ger Jahren bereits mit radikal modernen Werken an die Spitze der musikalischen Avantgarde geschoben hatte, schärfte den satirischen Gehalt der Novelle mit seinen bereits in den Frühwerken erprobten musikalischen Mitteln gehörig an. Mit bewundernswerter Souveränität schöpft der junge Komponist Inspiration aus der musikalischen Moderne seiner Zeit von Igor Strawinsky bis Alban Berg, aus der Zirkusmusik bis hin zur Sakralmusik und nutzt nicht zuletzt seine Erfahrungen als Kino-Pianist bei der Begleitung von Stummfilmen. Ein rasanter Stilmix und der klanglich zugespitzte Tonfall der Musik verschärfen die Satire ins Groteske. Zur pointierten Charakterisierung der Personen und Situationen sind die Klangfarben der häufig solistisch eingesetzten Instrumente bis ins Extreme verfremdet. Besonders die Bläser des Hamburger Opernorchesters leisten hier brillante Arbeit. Musikalischer Höhepunkt ist gleich im ersten Akt das Intermezzo der neun Percussionisten, die auf Metall, Holz und Fell ein anschwellendes Angstgeheul trommeln - auf offener Bühne und mit beängstigender Eindringlichkeit. Kent Nagano lässt das Orchester mit viel Sinn für die Details und die überreiche Klangfarbenpalette zur Hochform auflaufen.

Bild zum Vergrößern

Ohne Nase bist du ein Nichts: Bo Skovhus und Ensemble.

Zielsicher haben Karin Beier, die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses mit ihrer Regie und der Bühnenbildner Stéphane Laimé Schostakowitschs genialen Opernstreich in das Umfeld der in allen Bereichen der Kunst vor Experimenten nur so berstenden Epoche der frühen Sowjetunion gesetzt. In schier unerschöpflichem Ideenreichtum  werden auf der ständig rotierenden Drehbühne die oft sehr kurzen Szenen nahtlos zu einer bild- und assoziationsreichen Revue verbunden. Elemente aus Zirkus, Slapstick und surrealer Phantasie paaren sich zu einer überbordenden Bilderflut. Dem mitunter rasanten Tempo der Musik folgt das zum Teil simultan auf mehreren Handlungseben ablaufende Bühnengeschehen. Zahlreiche Anspielungen und Zitate weisen auf die avantgardistische Kunstszene der 20ger Jahre. Die sich nach oben schraubende mehrstöckige Stahlkonstruktion in der Mitte der Bühne erinnert an Wladimir Tatlins "Internationale"-Turm in Moskau, der Ikone des revolutionären Aufschwungs der frühen Sowjetunion. Und in der Massenszene des 3. Aktes parodiert die Regie die kommunistischen Aufmärsche, bei denen die Massen formiert in Reih und Glied synchron rote Fahnen schwenkend einem Volksredner zujubeln. Hier bringt der Agitator allerdings im Stile von Chaplins Großem Diktator nur Nonsens-Kauderwelsch hervor. Bezüge zum frühen Stummfilm kehren in der Aufführung immer wieder. Deutlich geprägt ist die Inszenierung von Sergei Eisensteins filmischer Montagetechnik.

Bild zum Vergrößern

Auf sehr hohem Ross: der Vertreter des Staates (Andreas Conrad als Polizeihauptmeister) und sein Untertan Kowaljow (Bo Skovhus)

Doch derart avantgardistischer Kunst drehte der Aufstieg Stalins zunehmend die Luft ab. Die Inszenierung spiegelt auch diese Entwicklung in vielen Details. Bedrohlich bevölkern Soldaten mit angelegten Maschinengewehren die Szene, ein riesiger Bildschirm wacht wie der Große Bruder über den Raum - unübersehbare Anzeichen des Totalitären machen sich breit. Eine sonderbare Mischung aus Komik und Entsetzen prägt diese Inszenierung und lässt immer wieder auch an Schostakowitschs eigenen Zwiespalt zwischen künstlerischer Freiheit und latenter Bedrohung durch den stalinistischen Machtapparat denken. Sein Frühwerk Die Nase zeigt noch die leichte, weitgehend unbeschwert spielerische Seite von Schostakowitschs musikalischem Humor. Später wird daraus finsterer, bitterer Sarkasmus.

So verknüpft diese Inszenierung auf ungemein geistreiche Weise ihre Handlung mit der Zeitgeschichte ihrer Entstehung und der Biografie des Komponisten. Sie bleibt dabei allerdings weitgehend bei der historischen Perspektive. Aktuelle Relevanz wird allenfalls berührt, wenn einmal der Gedanke an Verschwörungstheorien angedeutet wird.

Bild zum Vergrößern

Allgegenwärtig: die Polizei (Ensemble)

Ihre Schlagkraft bezieht diese Produktion nicht zuletzt aus den sängerischen Leistungen der zahlreichen Rollenvertreter, die sich hier ausnahmslos auch mit Bravour enormen darstellerischen Herausforderungen stellen. Allen voran der sängerdarstellerisch großartige Bo Skovhus als Kowaljow. Dem großen Lamento über seine vermeintlich zerstörte Existenz gibt er in einer Mischung aus echter Bestürzung und aberwitziger Überzeichnung beklemmend Ausdruck. Seine Partie ist die einzige in der Oper mit cantablem Charakter. Die übrigen Rollen verlangen verfremdete Tongebung bis hin zum Sprechgesang. Zur Karikatur eines Heldentenors macht Gideon Poppe die Rolle von Kowaljows Diener Iwan und der Tenor Bernhard Berchtold singt die kurze Partie der sich als hoher Beamter ausgebenden Nase in hochnäsig gestelztem Ton. Schneidend scharfe Töne schlägt Andreas Conrad als Polizeihauptmeister an. Ein Ensemble von acht Männerstimmen rattert in der Zeitungsredaktion die aufgegebenen Annoncen in präzise gesungenem Fugato herunter.

FAZIT

Ein großer Wurf in jeder Hinsicht



Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Kent Nagano

Inszenierung
Karin Beier

Bühnenbild
Stéphane Laimé

Kostüme
Eva Dessecker

Licht
Hartmut Litzinger

Video
Meika Dresenkamp
Severin Renke

Choreografie
Altea Garrido

Dramaturgie
Christian Tschirner

Chor
Eberhard Friedrich
Christian Günther

Spielleitung
Heiko Hentschler
Birgit Kajtna

Musikalische Assistenz
Nicolas André

 

Chor der Staatsoper Hamburg

Philharmonisches Staatsorchester
Hamburg

 

Solisten

Platon Kusmitsch Kowaljow
Bo Skovhus

Iwan Jakowlewitsch / Leiter der
Redaktion / Arzt
Levente Páll

Polizeihauptmeister
Andreas Conrad

Iwan, Diener des Kowaljow
Gideon Poppe

Die Nase, in Gestalt eines
Staatsrates
Bernhard Berchtold

Aleksandra Grigoriewna
Podtotschina
Katja Pieweck

Tochter der Podtotschina /
Sopransolo in der Kirche
Athanasia Zöhrer

Die alte Gräfin
Renate Spingler

Praskowja Ossipowna /
Verkäuferin
Hellen Kwon

Jarischkin
Michael Heim

Polizeipförtner /
Pjotr Fjodorowitsch /
Oberst / 2. Bekannter
Peter Galliard

Wachmann /Taxifahrer /
Iwan Iwanowitsch /1. Bekannter
Stefan Sevenich

Diener der Gräfin / Spekulant /
Major
Julian Arsenault

1. Eunuche
Sungho Kim

2. Eunuche / Tenorsolo
in der Kirche
Hiroshi Amako

3. Eunuche
Dongwon Kang

4. Eunuche
Sander De Jong

Hüsrev-Mirza
Kristof Van Boven

in weiteren Rollen
Chorsolist*innen des Chores
der Hamburgischen Staatsoper


Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Hamburgischen Staatsoper
(Homepage)





Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Zur Musiktheater-Startseite E-mail Impressum

© 2019 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -