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Carmen

Opéra-comique in vier Akten
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy
nach der Novelle von Prosper Mérimée
Dialogfassung von Lydia Steier und Mark Schachtsiek
Musik von Georges Bizet


in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h (eine Pause)

Premiere im Staatenhaus Köln-Deutz (Saal 1) am 10. November 2019
(rezensierte Aufführung: 20. November 2019)


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Oper Köln
(Homepage)

Ein von Beginn an verlorener Kampf

Von Stefan Schmöe / Fotos von Hans-Jörg Michel

Diese Carmen ist ein Tier. Sie lauert, geduckte Haltung, immer angriffsbereit. Kein Warten auf Beute, sondern eine Verteidigungshaltung, aus der heraus jeder gegnerische Angriff sofort pariert werden kann. Adriana Bastidas-Gamboa hat keine wirklich große Stimme für die Titelpartie, aber ihre Carmen ist ein Ereignis. Die zierlich kleine Brasilianerin, drei Akte lang überwiegend in Stiefeln und Kampfanzug, singt und spielt mit enormer Energie und beherrscht die große Bühne mit ihrer Präsenz. Ihre stimmlichen Möglichkeiten setzt sie durchdacht ein, fokussiert an den richtigen Stellen, macht mit Intensität vieles wett, was ihr an Volumen und an satten Farben eigentlich fehlt, und kann an den entscheidenden Stellen dann mit den Spitzentönen attackieren. Und sie ist ein Glücksfall für eine Regie, die eine andere Carmen als gewohnt zeigt.

Szenenfoto

Fleisch - im übertragenen Sinn auch menschliches - ist eine Verkaufsware: Carmen singt die Habanera in der Markthalle

Carmen ohne Folklore und jenseits der Klischees - das haben schon viele Regisseure verspochen, was bei der Folklore manchmal funktioniert hat, bei den Klischees meist weniger. Lydia Steier macht ernst in ihrer ungemein vielschichtigen Inszenierung. Hier ist die Carmen nicht die verführerische Frau, der alle zu Füßen liegen. Sie ist eine Kämpferin (und vielleicht ist es gerade das, was die Männer herausfordert: Der drohende Verlust der Deutungshoheit über die Rolle der Frau). Carmen ist Projektionsfläche und Trägerin aller Klischees zwischen Heiliger und Hure, sie ist eine Getriebene, und gleichzeitig ist sie auch die bestimmende Akteurin, zumindest sieht es drei Akte lang danach aus. Am Ende bleibt dennoch unausweichlich der Tod, und dass sie sich den tödlichen Messerstich selbst beibringt, ist ein letzter verzweifelter Emanzipationsversuch. Die Produktion bezieht einen Großteil ihrer Spannung aus dieser permanenten Widersprüchlichkeit. Diese Carmen lässt sich nicht festlegen.

Szenenfoto

Alles nur eine bunte Revue? Eben war die Vorstadtkneipe noch ein veritabler Kirchenraum mit Carmen als Madonna, beim Auftritt Escamillos (hier: Oliver Zwarg) ist von der sakralen Stimmung nichts mehr übrig.

Die Regie springt oft zwischen einer realistisch erzählenden und einer metaphorischen Ebene hin und her, überlagert diese mitunter auch, und die Rezeptionsgeschichte hat Lydia Steier sowieso im Kopf. Zu Beginn jeden Aktes begegnet Carmen in einer Art Traumsequenz ihrem Ebenbild - ein junges Mädchen, wie ein Stier gehetzt und am Ende getötet. Die Frau als Stier, blutbefleckt und zuletzt zerstört, ist überhaupt eine starke Metapher, die sich durch die Aufführung zieht. Fleischlichkeit (auch wieder der Stier, aber auch die Metzgerstände im ersten und Prostitution im Zigeunerlager des dritten Aktes) eine weitere. Im Gegensatz dazu steht die Überhöhung der Frau zur Heiligen, verkörpert im Marienkult. Die Schänke des zweiten Aktes erscheint zunächst als Kirche mit einer bizarren Messe (mit Carmen als Madonna im Zentrum), die in orgiastische Frivolität umschlägt. Nicht nur hier wendet sich die Regie deutlich gegen die Sehgewohnheiten.

Szenenfoto

Moralistin Micaela (hier: Claudia Rohrbach) wird im Lager der Schmuggler aufgegriffen

Das tut sie oft auch ganz formal: Die Chorszenen inszeniert Lydia Steier im Stil einer Revue, was immer wieder zu Brüchen führt. Wenn katholische Würdenträger Kamelle ins Volk werfen, ist subkutan wohl auch der rheinische Karneval betroffen - dabei ist die Geschichte an sich irgendwann in der Franco-Diktatur angesiedelt, was aber mehr atmosphärisch als politisch von Bedeutung ist (Bühne: Momme Hinrichs, Kostüme: Gianluca Falaschi). Die schrill ausgestatteten Massenszenen bilden einen scharfen Kontrast zum dicht inszenierten Kammerspiel, in dem Carmen und José um ihre Beziehung ringen, beide gebrochene, mehrdimensionale Charaktere. M icaëla, Josés brave Verehrerin vom Land, wird zur Karikatur verzerrt: Eine gouvernantenhafte, ältliche Moralistin ohne Realitätsbezug in einer Welt voller Gewalt. Die Regie scheut nicht davor zurück, die Fragwürdigkeiten der Oper aufzudecken - man muss einiges schlucken in dieser Sichtweise und auch drastische Bilder ertragen. Aber dafür erlebt man Carmen tatsächlich neu, ziemlich streitbar und sehr spannend. Und kaum einmal hat ein Regisseur den Raum im Staatenhaus, dem Ausweichquartier der Kölner Oper, so wirkungsvoll genutzt wie Lydia Steier, bei der die alte Messehalle (hier auf hässliche Fabrikhalle getrimmt) nicht als Behelfslösung akzeptiert, sondern als perfekte Spielstätte für eine Sichtweise weit jenseits jeglicher plüschigen Theaterbehaglichkeit zum tragenden Teil des Konzepts erhoben wird.

Szenenfoto

Am Ende ist die Frau eben doch das Opfer, das sein Schicksal erdulden muss: Im vierten Aufzug hat Carmen ihren Kampfanzug abgelegt und trifft zur finalen Auseinandersetzung auf Don José

Schade nur, dass eben jene Plüschigkeit mitunter vom Dirigat Claude Schnitzlers ausgeht. Der hält das Ensemble einschließlich der sehr guten Chöre souverän zusammen und begleitet mit dem ausgezeichneten Gürzenich-Orchester (seitlich der Bühne unsichtbar postiert) immer sängerfreundlich; er zeichnet mit warmen Farben die ruhigen Instrumentalzwischenspiele delikat, lässt die Stierkampfatmosphäre schmissig aufbrausen, neigt aber insgesamt zu kontrollierten (in manchen Szenen auch arg statischen) Tempi. Die Schärfe aber, die dieser Regie angestanden hätte, die verweigert er.

Martin Muehle singt mit geschmeidigem, substanzvollem Tenor und sicherer, strahlender Höhe einen phänomenalen Don José. Samuel Youn gibt einen ziemlich hölzernen Escamillo - die Partie liegt dem Bayreuth-erfahrenen Wagner-Bariton offensichtlich nicht besonders. Etwas ratlos macht die Micaela von Ivana Rusko: Ihr Sopran hat ein wunderbares Timbre, aber die Partie klingt ein wenig atemlos, die melodischen Bögen reißen immer wieder ab. Zwar würde eine liedhafte, "naive" Micaela nicht zur Regie passen, den musikalischen Nachdruck bleibt die Sängerin ihrer Besserwisserin aber auch schuldig. Gleichwohl: Ein paar betörend schöne Töne sind schon dabei. Lukas Singer ist ein tadelloser Zuniga, und Alina Wunderlich und Arnheiður Eiríksdóttir, beide aus dem Opernstudio, geben ein blitzsauberes Duo Frasquita / Mercédès ab.


FAZIT

Eine faszinierende, spannende Carmen, die sich den Sehgewohnheiten erfolgreich widersetzt.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Claude Schnitzler

Inszenierung
Lydia Steier

Bühne und Video
Momme Hinrichs (fettFilm)

Kostüme
Gianluca Falaschi

Licht
Andreas Grüter

Chor
Rustam Samedov


Schülerinnen und Schüler des
Mittelstufenchores am
Max-Ernst-Gymnasium Brühl

Statisterie, Chor und Extrachor
der Oper Köln

Gürzenich-Orchester Köln


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung
Carmen
* Adriana Bastidas-Gamboa /
Rihab Chaieb
Stéphanie d'Oustrac

Don José
* Martin Muehle /
Dmytro Popov /
Young Woo Kim

Micaëla
Claudia Rohrbach /
* Ivana Rusko /
Julia Novikova

Escamillo
Oliver Zwarg/
Kostas Smoriginas /
Erwin Schrott /
* Samuel Young

Zuniga
Matthias Hoffmann /
* Lucas Singer /
Thomas Faulkner

Moralès
* Lukáš Bařák /
Anthony Sandle

Frasquita
* Alina Wunderlich /
Ye Eun Choi

Mercédès
* Arnheiður Eiríksdóttir /
Regina Richter

Le Dancaïre
* Miljenko Turk /
Vincenzo Neri

Le Remendado
Alexander Fedin /
* Anton Kuzenok



Weitere
Informationen

erhalten Sie von der
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