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Guillaume Tell (Wilhelm Tell)

Grand opéra in vier Akten
Text von Étienne de Jouy und Hippolyte Bis nach dem gleichnamigen Schauspiel von Friedrich Schiller
Musik von Gioachino Rossini


In französischer Sprache mit französischen Übertiteln

Koproduktion mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe
Premiere am 05. Oktober 2019 an der Opera de Lyon

Aufführungsdauer: ca. 3h 50' (eine Pause)


Homepage

Opera de Lyon
(Homepage)
Wenn Instrumente zu Waffen werden

Von Roberto Becker / Fotos © Stofleth


Tobias Kratzer hat schon die großen Historienopern von Giacomo Meyerbeer inszeniert. In Nürnberg Les Huguenots, in Karlsruhe Le Prophète und in Frankfurt L'Africaine. Auch im Falle von Lohengrin (Weimar), Götterdämmerung (Karlsruhe) und zuletzt Tannhäuser in Bayreuth hat er bewiesen, dass er mit den Blockbustern des Genres meisterhaft umgehen kann. Rossini Guillaume Tell gehört im Unterschied zu den meisten anderen Werken des Italieners mit der Vorliebe fürs Kulinarische in diese Reihe. Er war 1829 Rossinis letztes Wort in Sachen Oper, um sich für den Rest seines Lebens dessen genüsslichen Seiten zuzuwenden. Im Gefolge von Friedrich Schiller haben Étienne de Jouy und Hippolyte Bis ein Libretto aus dem Drama des deutschen Klassikers zum Gründungsmythos der Schweizer destilliert. Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier, deren Gemeinschaftswerk in Bayreuth eine erstaunlich breite Zustimmung fanden, zielen diesmal mit einer sparsam reduzierten Opulenz auf das Exemplarische von Rossinis Oper.

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Ehepaar Tell und ihr Wunderkind

Es gibt zwar als Hintergrund einen schwarz-weißen Alpenblick. Schweiz eben. Aber auch der hat nichts Folkloristisches, denn über den ganzen Abend verteilt, fließt eine schwarze Flüssigkeit über das Bild. Wäre es farbig, dann wäre diese Flüssigkeit rot wie Blut. Am Ende des Abends ist von den Bergen nichts mehr zu sehen. Eine ziemlich düstere Aussicht. Die Schweizer, die hier leben, sind allesamt Musiker. Die Gesellschaft ein Orchester, das der Würdigste (Tomislav Lavoie als Melchthal) von ihnen dirigiert. Sein Taktstock ist so etwas wie ein Symbol dieser Art von Macht, der sich jeder freiwillig unterordnet. Um einer Partitur zu folgen, auf die man sich vorher geeinigt hat. Zur Ouvertüre spielt eine Musikerin auf dem Podest vor dem Panoramablick Cello und ein Paar tanzt dazu. Da schlendern plötzlich seltsame Typen - wie aus Clockwork Orange entsprungen - über das Spielpodest. Mit ausgestelltem Macho-Gehabe. Das zur Tat wird. Das Cello ist das erste Opfer.

Vergrößerung Nicht allen passt es, wenn die Gesellschaft wie ein Orchester funktioniert

Musik ist hier offensichtlich ein identitätsstiftendes Gemeinschaftserlebnis und wird schon in der Familie gelehrt und zelebiert. Tells Knabe Jemmy ist ein talentierter Geiger - Marke Wunderkind. Überhaupt ein heller Bursche. Als die friedlichen Musiker letztlich von den dauernden Schikanen und eskalierenden Übergriffen der Gessler-Gefolgschaft genug haben und alle ihre Instrumente zu Waffen umbauen, kommt auch der Junge und steuert seine Geige bei. In ihn projiziert Kratzer aber auch die Traumatisierung durch die Gewalt. Zunächst mal verdoppelt er ihn und fügt eine Schwester, die die Gesangspartien übernimmt, hinzu. Sie (Jennifer Courcier) ist es, die ihrem kleinen Bruder den berüchtigten Apfel vom Kopf schlägt, bevor der Vater schießen muss…. Am Ende, wenn die Unterdrücker davongejagt sind und man das Abendessen am gedeckten Tisch fortsetzt, ist - entgegen dem Anschein - nichts mehr, wie es war. Der Knabe kriecht unter den Tisch und rennt von da aus an die Rampe. Dort setzt er einen von den Gessler-Hüten auf, die da noch rumliegen. Die Eltern und alle anderen schauen mit einem deutlich erkennbaren Erschrecken auf diese Geste des Jungen, die nichts Gutes für die Zukunft verheißt. Zum Preis erkämpfter Freiheit gehört wohl immer auch ein Teil verlorener Unschuld. Die Spannung, die dieser Abend szenisch durchweg hält, rührt aus der Konsequenz, mit der es Kratzer versteht, seinen originellen Zugriff szenisch umzusetzten. Bei ihm geht am Ende auf, was er am Anfang behauptet. Und dazwischen gibt es eine hochprofessionelle, weite Assoziationsräume öffnende Personenregie.

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Mit Gewalt erzwungener Kleidertausch vor eingedüstertem Ausblick

Der Einbruch von Gewalt in eine friedliche, jedenfalls funktionierende Gesellschaft, die das zunächst nicht glauben will und dann davon überrascht wird, wird so exemplarisch durchdekliniert, dass man sowohl die schlimmste Vergangenheit als auch die Gefahren der Zukunft damit assoziieren kann. Die Art, wie die Gessler-Typen die Tänzer zum Tanzen zwingen, sie dabei verhöhnen, dann jedem einzelnen Tänzer die Knochen brechen - oder wie sie die Musiker dazu zwingen, ihre zivilen Kleider gegen Trachten zu tauschen -, hat nichts Plakatives. Aber die Assoziationen zu den Bildern, die zeigen, wie jüdische Mitbürger plötzlich Fußwege schrubben mussten und ihre Nachbarn sich darüber amüsierten, zumindest nichts dagegen taten, die steigen - zumindest im Zuschauer aus Deutschland - von selbst auf. Von diversen Hetzjagden auf fremdländisch aussehende Migranten ganz abgesehen. Es gibt in dieser Inszenierung einen Schwarz-Weiß Gegensatz, aber der ist ein ästhetisches Mittel und keine intellektuelle Ausrede.

Kratzer hat dafür in seine Inszenierung auch die heute oft als heikel umgangenen Ballette klug eingebaut. Man merkt den Choreographien von Demis Volpi durchaus an, dass der längst eigene Inszenierungserfahrungen (etwa in Weimar) gesammelt hat und die hier mit tänzerischer Eloquenz einbringt. Auch für die genretypischen Tableaus beweist Kratzer einen untrüglichen Instinkt: Wenn der Chor in dieser Formation aufmarschiert, dann macht das Sinn. Nicht zuletzt, wenn sich die Streicher, Holz- und Blech-Bläser als Kampfformationen des Widerstandes sammeln. Und die Waffen der Kultur zu einer Utopie der Notwehr avancieren.

Vergrößerung Kurz vor dem Aufstand (links Mathilda, rechts Tell)

Den hochintelligenten und effektvollen Bildern hauchen natürlich erst die Protagonisten Leben ein. Der Chef des Orchesters Lyon, Daniele Rustioni, steuert die leidenschaftliche Entschiedenheit, die auf der Szene herrscht, auch aus dem Graben bei. Der Amerikaner John Osborn brilliert in der Tenorpartie als Arnold. Strahlend und sicher - mustergültig. Jane Archibald ist eine fabelhafte Mathilde. Dass sie am Ende trotz ihres offenen Seitenwechsels von ihrer Gessler-Verwandtschaft zu Arnold keine Chance bei den Schweizern hat, ist jedenfalls nicht ihrem betörenden Sopran geschuldet, sondern der realistischen Schlusspointe der Inszenierung. Nicola Alaimo ist ein wunderbarer Tell. Enkelejda Shkoza profiliert mit ihrem Powermezzo die kleine Rolle von Tells Frau Hedwige. Auch die Gegenseite ist mit Jean Teitgen (Gessler) und Grégoire Mour Rudolphe eindrucksvoll besetzt.


FAZIT

Tobias Kratzer ist eine atemberaubend spannende Inszenierung von Rossinis Guillaume Tell gelungen. Da diese Inszenierung mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe koproduziert ist, darf sich auch dort das Publikum auf diese Produktion freuen.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Daniele Rustioni

Inszenierung
Tobias Kratzer

Bühne
Rainer Sellmaier

Kostüme

Licht
Reinhard Taub

Choreographie
Demis Volpi

Chor
Johannes Knecht


Chor und Orchester der
Opéra de Lyon


Solisten

Guillaume Tell
Nicola Alaimo

Hedwige
Enkelejda Shkoza

Jemmy
Jennifer Courcier

Jemmy (Kind)
Martin Falque

Gessler
Jean Teitgen

Matilda
Jane Archibald

Arnold
John Osborn

Melchthal
Tomislav Lavoie

Rodolphe
Grégoire Mour

Walter Fürst
Patrick Bolleire

Ruodi
Philippe Talbot

Leuthold
Antoine Saint-Espes

Un Chasseur
Kwang Soun Kim



Weitere
Informationen

erhalten Sie von der
Opera de Lyon
(Homepage)



Da capo al Fine

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