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Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“

Ein Stück von Pina Bausch
nach der Oper A kékszakállú herceg vára (Herzog Blaubarts Burg)
Libretto von Béla Balázs (deutsche Übersetzung von )
Musik von Béla Bartók
In der Einspielung mit Dietrich Fischer-Dieskau (Blaubart), Hertha Töpper (Judith), dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin; Dirigent: Ferenc Fricsay (Deutsche Grammophon, 1958)

Aufführungsdauer: ca. 1h 50' (keine Pause)

Wiederaufnahme im Opernhaus Wuppertal am 24. Januar 2020
(Uraufführung am 8. Januar 1977, Opernhaus Wuppertal)


Logo: Tanztheater Pina Bausch

Tanztheater Wuppertal
(Homepage)
Weil ich Dich liebe

Von Stefan Schmöe / Fotos von Klaus Dilger, Dr. Heinrich Brinkmöller-Becker und Evangelos Rodoulis

Heute weiß man ja, was einen erwartet: Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg, vom Band eingespielt. Von einem altertümlichen Tonband, um es ganz genau zu sagen. Das steht auf einem fahrbaren Gestell auf der Bühne, und der Tänzer des Blaubart hält immer wieder die Musik an, spult ein paar Takte zurück, lässt sie nochmals ablaufen, meist mehrfach. Das Uraufführungspublikum 1977 hat das, vorsichtig gesagt, als irritierend empfunden, schließlich hatte die junge Wuppertaler Hauschoreographin Pina Bausch zuvor Glucks Iphigenie auf TaurisOrpheus und Eurydike sowie Strawinskys Sacre du Printemps zwar selbstbewusst eigenständig, aber letztendlich zumindest formal den Theaterkonventionen gemäß choreographiert, also die Musik nicht weiter angetastet und den Inhalt irgendwie nacherzählt. Ob es stimmt, dass die geniale Idee, ein Tonband statt des Live-Orchesters zu verwenden, auf den Unwillen des Dirigenten zurückzuführen ist, die Musik ständig zu unterbrechen? Jedenfalls hat sich Pina Bausch mit diesem Kunstgriff von der Opernvorlage emanzipiert, die als "Material" verwendet wird (und doch treffender und genauer interpretiert wird als in den allermeisten "normalen" Inszenierungen). Es ist ein Tanzabend von Pina Bausch geworden, keine Operninterpretation.

Szenenfoto So viele Frauen können ganz schön anstrengend sein: Blaubart (Oleg Stepanov), Ensemble (Foto © Klaus Dilger)

Bühne und Kostüme hat Rolf Borzik entworfen, der bereits 1980 verstorbene Lebens- und kongeniale Theaterpartner Pina Bauschs. Ein riesiges Zimmer einer Altbauwohnung, abgewohnte Wände, hinten ein paar Fliesen ohne Spülbecken, der Boden mit welkem Laub bedeckt - das ist hier aus dem Märchenschloss Blaubarts mit den sieben verschlossenen Türen geworden. Natürlich ging es Pina Bausch und ihrem Ensemble um die Gegenwart, und das symbolistisch eingefärbte Werk aus dem Jahr 1921 wird ja auch sonst psychologisch gedeutet, ein Eindringen Judiths in Blaubarts Seelenleben, bis sie hinter der siebenten Tür die Körper ihrer drei Vorgängerinnen findet. Mit den schweren, historisierenden Kleidern (unter denen sich dünne, mitunter fast durchsichtige Unterkleider befinden) hat Borzik den Frauen sogar eine Nähe zum Märchen gegeben, während die Männer im Anzug tanzen. Nur Judith hat ein leichtes rotes, am Rücken tief ausgeschnittenes Kleid, das auf die nicht ständig präsente Sexualität anspielt.

Szenenfoto

Keine Beziehung auf Augenhöhe: Judith (Tsai-Chin Yu) und Blaubart (Oleg Stepanov); Foto &copoy; Klaus Dilger

Zu Beginn liegt diese Judith auf dem Rücken im Laub, die Arme nach oben ausgestreckt, und Blaubart stürzt sich auf sie. In dieser kurzen Szene liegt bereits der Kern des Dramas: Ergebenheit der Frau, Gewalt bis hin zur Vergewaltigung beim Mann, ein durch Konvention und Rollenbild vorgegebenes Repertoire an standardisierten Verhaltensmustern (was danach zu Pina Bausch großem Thema der 1980er-Jahre werden sollte). Die beiden Partien sind mehrfach besetzt; an diesem Premierenabend tanzen Oleg Stepanov (ein geheimnisvoller, unnahbarer Blaubart) und Tsai-Chin Yu (zerbrechlich und schön, dabei kämpferisch, und, nicht unwichtig, nicht zu jung - ein gewisses Maß an Lebenserfahrung muss die Judith in dieser Choreographie schließlich zum Ausdruck bringen). Warum tut diese Judith sich die vorhersehbare Tortur an? "Weil ich Dich liebe", singt sie vor dem Öffnen der ersten der sieben verschlossenen Türen. Auch diese Takte werden mehrfach wiederholt, als wolle Blaubart, der wieder und wieder das Tonband zurückspult, sich dieser Worte geradezu manisch vergewissern - und Judith sackt auf ihrem Stuhl in sich zusammen und kippt zur Seite. Es gibt nicht viel Hoffnung für die Liebe in diesem wegen der Unterbrechungen und Wiederholungen knapp zweistündigen Tanzabend (die Oper dauert im Original rund eine Stunde, verwendet wird die etwas gekürzte deutschsprachige Einspielung mit Dietrich Fischer-Dieskau und Helga Toepper als Solisten und Ferenc Fricsay am Pult des Rundfunk-Symphonieorchester Berlin aus dem Jahr 1958).

Szenenfoto Kissenschlacht: Ensemble; Foto &copoy; Klaus Dilger

Den beiden Akteuren der Oper wird das Ensemble gegenübergestellt, bestehend aus einer Reihe von Paaren - und da fangen die Schwierigkeiten dieser Wiederaufnahme an. Seit 1994 ist Blaubart nicht mehr getanzt worden, weil es Streitigkeiten mit den Bartók-Erben um die Urheberrechte an der Musik gab. Diese Rechte sind jetzt (in Deutschland) ausgelaufen; allerdings sind die vorhandenen Aufzeichnungen im Archiv des Tanztheaters so ungenau, unvollständig und/oder widersprüchlich, dass nicht einmal ganz eindeutig ist, wie viele Paare es denn sein sollten. Das Wuppertaler Tanztheater spricht angesichts dieser komplizierten Ausgangssituation daher von einer "Rekonstruktion" des Werkes. Die künstlerische Leitung dabei haben Jan Minarik, der (unter seinem damaligen Künstlernamen Jean Mindo) in der Uraufführung der Darsteller des Blaubart war und den Entstehungsprozess miterlebt hat, und Beatrice Libonati, ab 1979 oft in der Rolle der Judith auf der Bühne, und neben den beiden waren mit Barbara Kaufmann und Héléna Pikon zwei weitere Protagonistinnen des Wuppertaler Tanztheaters, die selbst in Blaubart getanzt haben, an der Einstudierung beteiligt. Für diese Produktion wurden eine Reihe junger Tänzerinnen und Tänzer als Gäste verpflichtet. Die altersmäßig durchmischte Compagnie kann das Werk nicht aus eigenen Reihen vollständig besetzen (und der Charakter der Choreographie fordert hier junge Tänzerinnen und Tänzer), denn man kann diesen Blaubart auch als Rückschau der gealterten Titelfigur auf eine gescheiterte Beziehung verstehen.

Szenenfoto

Lasziv verspielt: Emma Barrowman (Foto © Dr. Heinrich Brinkmöller-Becker)

Pina Bausch hat markante Bilder entwickelt, die man so schnell nicht vergisst, etwa wenn die Damen wie eine Skulptur Blaubart mit ihren langen Haaren bedecken, wenn sie mädchenhaft "Danke, Danke" wispern; wenn die Herren in Unterhosen posieren und ihre muskulösen Körper vorführen. Vereinzelt gibt es noch Elemente aus dem klassischen Ballett (und in diesem Kontext sind die Szenen, in denen Blaubart und Judith allein auf der Bühne sind, grandios aufgebrochene Pas de deux, in denen sich alle konventionelle Schönheit - und aller schöner Ballettschein - vor den Augen des Publikums in Luft auflöst). Menschen rennen gegen Wände; Paare tanzen und ringen miteinander, Zärtlichkeit (eher wenig) und Gewalt lösen sich ab. Damit ist das Vokabular festgelegt, das Pina Bausch in den folgenden Jahren wieder und wieder variiert durchgespielt hat, raffinierter und mit größeren Ambivalenzen, aber vielleicht nie wieder so radikal. Und doch schwingt bei allen neugewonnenen Freiheiten die Struktur der Oper immer noch mit und gibt den Erzählrhythmus vor - bis zum bitteren Ende.

Szenenfoto Sehen so glückliche Paare aus? Ensemble (Foto © Evangelos Rodoulis)

Nach dem Öffnen der letzten Tür streift Blaubart der armen Judith all die schönen altmodischen Kleider über, bis sie darunter zusammenbricht wie unter der Last von Erwartung und Konvention. Während Blaubart sie über den laubbedeckten Boden schleift und damit ein Motiv vom Anfang des Abends aufgreift, stellt sich das Ensemble zu immer neuen Posen wie im gesellschaftlichen Small talk und friert in diesen Bildern kurz zum Standbild ein. Irgendwann zuvor hat eine Tänzerin eine kleine Puppe auf die Bühne gebracht, nackt und mit langen Haaren, und da steht sie dann am Bühnenrand mit dem Rücken zum Publikum, nimmt die Perspektive des Zuschauers an. Auch geht in der Schlusssequenz das Saallicht an. Das Publikum wird in das Stück hineingeholt. Man ahnt mitunter den Geist der 1970er-Theeaterjahre, aber dieser Blaubart hat seine suggestive Kraft über inzwischen fast zwei Generationen hinweg behalten.


FAZIT

Blaubart, sicher eines der wichtigsten Werke in der Geschichte (nicht nur des Wuppertaler) Tanztheaters und schon deshalb unbedingt aufführenswert, erweist sich in dieser durchweg überzeugenden Rekonstruktion als zeitlos kraftvolles Stück, das unverändert unter die Haut geht.



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Produktionsteam

Inszenierung und Choreographie
Pina Bausch

Bühne und Kostüme
Rolf Borzik

Mitarbeit
Rolf Borzik
Marion Cito
Hans Pop

Künstlerische Leitung der Neueinstudierung
Jan Minarik (Jean Mindo)
Beatrice Libonati

Probenleitung
Jan Minarik (Jean Mindo)
Beatrice Libonati
Barbara Kaufmann
Héléna Pikon


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Blaubart
* Oleg Stepanov /
Michael Carter /
Christopher Tandy

Judith
* Tsai-Chin Yu /
Tsai Wei Tien /
Silvia Farias Heredia /
Ophelia Young

Tänzerinnen und Tänzer
Pau Aran Gimeno
Emma Barrowman
Michael Carter
Léonor Clary
Maria Giovanna Delle Donne
Çağdaş Ermis
Silvia Farias Heredia
Jonathan Fredrickson
Milan Kampfer
Marius Ledwig
Lucas Lopes Pereira
Blanca Noguerol Ramírez
Julius Olbertz
Gustavo de Olivera Leite
Annalisa Palmieri
Jolinus Marten Pape
Christian Paul
Daria Pavlenko
Elisa Spina
Oleg Stepanov
Julian Stierle
Christopher Tandy
Tsai-Wei Tien
Stephanie Troyak
Sara Valenti
Charlotte Virgile
Ophelia Young
Tsai-Chin Yu



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Tanztheater Wuppertal
(Homepage)




Da capo al Fine

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