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Musiktheater
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Chaosmos

Eine Logistik-Oper
von Tobias Rausch (Texte und Ideen) und Konrad Kästner (Video)
Musik von Marc Sinan

Aufführungsdauer: ca. 1h 30' (keine Pause)

in deutscher Sprache

Uraufführung im Opernhaus Wuppertal am 11. Januar 2020


Wuppertaler Bühnen
(Homepage)
Sinn oder Unsinn der Ordnung


Von Thomas Molke / Fotos: ©
Jens Großmann

Seit Berthold Schneider Intendant der Oper Wuppertal ist, hat er das Publikum immer wieder mit neuen Formen konfrontiert. Erinnert sei an die Eröffnung seiner ersten Spielzeit mit der Video-Oper Three Tales von Steve Reich, bei der das Publikum mitten im Geschehen auf der Bühne saß (siehe auch unsere Rezension), an die Kombination des dritten Aktes von Richard Wagners Götterdämmerung mit Heiner Goebbels' Orchesterzyklus Surrogate Cities (siehe auch unsere Rezension), an das "on stage"-Projekt Liberazione, bei der das Publikum auf der Bühne mit einem Smartphone oder Tablet aus verschiedenen Kameraperspektiven das Geschehen verfolgen konnte (siehe auch unsere Rezension) oder an die Community-Oper Das Labyrinth in der letzten Spielzeit, bei der insgesamt neun lokale Chöre zum Einsatz kamen und rund 270 Personen auf der Bühne standen (siehe auch unsere Rezension). Nun ist die Oper Wuppertal gemeinsam mit der Oper Halle und dem Theater Bremen vom Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) ausgewählt worden, in insgesamt drei Spielzeiten an der Entstehung von drei neuen Werken für das Musiktheater mitzuwirken, die jeweils an allen drei teilnehmenden Opernhäusern gezeigt und nach ihrer Uraufführung bei den Übertragungen an die anderen Bühnen weiterentwickelt werden. Die Programmreihe trägt den Namen "NOperas!", was bereits andeutet, dass diese Werke mit der Oper im eigentlichen Sinn nicht viel gemeinsam haben dürften. In Wuppertal beginnt diese Reihe nun mit der Uraufführung der Logistik-Oper Chaosmos.

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Die Androiden (von links: Adam Temple-Smith, Iris Marie Sojer, Timothy Edlin, Wendy Krikken und Statisterie)  sortieren das musikalische Material.

Wie das Wortspiel im Titel bereits andeutet, geht es um Chaos und Kosmos, also den Widerstreit von Ordnung und Unordnung. Das Wuppertaler Publikum mag bei dem Reihentitel "NOperas!" auch an das Musiktheaterprojekt Europeras von John Cage erinnert werden, das in der vergangenen Spielzeit von der Theatergruppe Rimini-Protokoll im Opernhaus inszeniert wurde (siehe auch unsere Rezension). Gewisse Parallelen lassen sich nicht leugnen. In beiden Fällen wird die Musik für jede Aufführung neu zusammengesetzt. Während bei Cage einzelne Passagen aus insgesamt 64 Opern nach dem Zufallsprinzip zu einem Potpourri der besonderen Art zusammengestellt werden, bei der einzelne Instrumente oder Sänger einen festen Zeitraum für ihren Einsatz zugeteilt bekommen, werden bei Chaosmos die Zuschauerinnen und Zuschauer interaktiv einbezogen und beeinflussen, in welcher Reihenfolge die Musik erklingt. Beim Betreten der Bühne bekommt jeder von einem als Android agierenden Statisten eine Mappe mit Notenmaterial für einzelne Instrumentengruppen in die Hand gedrückt, die in eines von vier Regalen in der Mitte der Bühne einsortiert werden muss. Wichtig ist dabei nur, dass die Mappen für die einzelnen Instrumentengruppen auch wirklich in der Abteilung für die jeweilige Instrumentengruppe landen. Die Reihenfolge, spielt dabei keine Rolle, was den Ablauf an jedem Abend neu festlegen soll. Da fragt man sich nur, wieso es für jede Instrumentengruppe mehrere Regale gibt, die untereinander nicht austauschbar sind. Völlig frei ist der Ablauf dann wohl doch nicht.

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Jay (Annemie Twardawa, vorne, im Hintergrund: Iris Marie Sojer) zweifelt am System.

Nachdem das Publikum die rund 150 Mappen in die Regale einsortiert und in einem Karree auf drei Seiten Platz genommen hat, beginnen Jay und Joe, die beiden Mitarbeiter in diesem Logistikzentrum, die einsortierten Mappen zu katalogisieren. Androide in blauen Anzügen, die später als System den Gesang übernehmen, sortieren sie für die einzelnen Instrumentengruppen, die auf der vierten Seite des Karrees sitzen und so mit dem Publikum die Bühne einrahmen. Danach sind schon knapp 20 Minuten vergangen, bevor die eigentliche "Geschichte" beginnt, die starke Züge des absurden Theaters trägt. Jay und Joe leben in diesem Logistikzentrum und haben noch nie die Außenwelt gesehen. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, Kisten zum Weiterversand aus den Regalen herauszunehmen, zu picken, und neue Kartons in die Regale wieder einzusortieren, zu stowen. Ihre Aufgaben wechseln täglich. Dieses Mal ist Jay der Picker und Joe der Stower. Während Joe als Stower an die Ordnung des Systems glaubt und imaginären Kaffee trinkt, beginnt Jay, immer stärker zu zweifeln. Er entschließt sich, eine beschädigte Kiste zu öffnen, was den allmählichen Zerfall der Ordnung in Gang setzt. Im weiteren Verlauf stellt er fest, dass der Warenausgang und Wareneingang verschwunden sind. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder sucht er nun nach der Außenwelt, wirft die in der Bühnenmitte stehenden Regale um und wird auf ein Beleuchtungselement aufmerksam, das den beiden den Weg aus dem System weist. Gemeinsam tauchen die beiden mit diesem Lichtelement in den Bühnenboden hinab. Nach einiger Zeit taucht dieses Element wieder auf, doch Jay und Joe sind verschwunden. In einem auf die Wand geworfenen Schatten wird das Bühnenelement, mit dem die beiden abgetaucht sind, dupliziert, so dass man das Gefühl hat, dass beide doch noch irgendwo im System vorhanden sind. Die Androiden versuchen, wieder Ordnung in das verursachte Chaos zu bringen, damit das Publikum anschließend auch die Möglichkeit hat, die Bühne wieder zu verlassen.

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Jay (Annemie Twardawa, hinten links) und Joe (Rike Schuberty, vorne Mitte) suchen den Ausgang.

Diese Rahmengeschichte wird nun von einzelnen Videosequenzen ergänzt, die jeweils beim Öffnen einer Kiste auf einer Leinwand ablaufen. Aus der ersten beschädigten Kiste, entnimmt Jay eine ominöse Pflanze, die ein wenig an die Blume Audrey aus dem Musical Little Shop of Horrors erinnert. Nun folgt eine Art Dokumentation über Carl von Linné, den Erfinder der binären Systematik der Natur, der 1758 in seinem Werk Systema Naturae versucht hat, die komplette Natur in eine gewisse Ordnung zu bringen, indem er alles nach Klasse, Ordnung, Art, Gattung und Varietät kategorisiert hat. Wieso die sexuelle Komponente hier derart betont wird, dass man diesen Teil schon beinahe als nicht jugendfrei betrachten muss, bleibt fraglich. Der zweite Einspieler handelt von der Vermessung der Welt zur Zeit der Kolonialisierung und dem missglückten Versuch Europas, klare Grenzen in Afrika zu ziehen. Währenddessen erkunden Jay und Joe mit zwei aus Kartons zusammengesetzten Androiden, die sie einem weiteren Karton entnommen haben, die Bühne. Wenn dann wahllos Kisten aufgerissen werden, folgt ein Videofilm über die Entstehung der Logistik 1967, als im südvietnamesischen Hafen von Da Nang ein absolutes Durcheinander herrschte und der US-amerikanische Transportunternehmer Malcolm McLean das erste Schiff mit Seecontainern über den Pazifik schickte. Des Weiteren erfährt man, dass in einem Logistikzentrum nicht Gleiches neben Gleichem gelagert wird, sondern immer unterschiedliche Dinge nebeneinander liegen, damit man beim Herausnehmen einer Ware nicht zufällig danebengreift.

Fraglich bleibt nur die Rolle der Musik in diesem Stück. Während die Geschichte in irgendeiner Form noch greifbar oder nachvollziehbar ist, ist es das von Marc Sinan stammende musikalische Material nicht. Wie soll es das aber auch, wenn es an jedem Abend neu zusammengesetzt wird? Das gibt der Musik den Charakter von absoluter Beliebigkeit, die völlig willkürlich wirkt. Da kann auch die musikalisch ansprechende Passage von Johann Sebastian Bach am Ende nichts retten. Natürlich ist es eine Kunst, eine Partitur so zu konzipieren, dass man sie zerlegen und anders zusammensetzen kann. Aber den "klassischen" Opernanhänger erreicht man damit genauso wenig wie neue Besucherschichten, deren Musikgeschmack an Funk und Fernsehen orientiert ist. Man fragt sich also, wen man mit derartigen Kompositionen ansprechen will. Der Problematik scheint man sich aber auch an den Bühnen bewusst zu sein. Schließlich steht dieses Stück nur insgesamt dreimal auf dem Spielplan, bevor es nach Halle und Bremen weiterwandert. Wendy Krikken, Iris Marie Sojer, Adam Temple-Smith und Timothy Edlin überzeugen als Androiden mit regungslosem Spiel, wenn sie wie fremd gesteuert von einer Ecke in die andere wandern, und setzen die Anordnung der Musik genauso überzeugend um wie das Sinfonieorchester Wuppertal, auch wenn die Textverständlichkeit an manchen Stellen stark zu wünschen übrig lässt. Hier wäre eine Übertitelung hilfreich gewesen, aber das geht ja nicht, wenn die Passagen an jedem Abend in einer anderen Reihenfolge ablaufen. Rike Schuberty und Annemarie Twardawa setzen als Joe und Jay darstellerische Akzente, so dass der Abend zumindest szenisch im Gedächtnis bleibt.

FAZIT

Szenisch ist die Geschichte interessant. Musikalisch hinterlässt sie keinen Eindruck.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Johannes Pell /
Marc Sinan

Regie und Video
Konrad Kästner

Bühne und Kostüme
Eylien König

Licht
Fredy Deisenroth

Dramaturgie
David Greiner
Roland Quitt

 

Sinfonieorchester Wuppertal

Statisterie der
Wuppertaler Bühnen


Solisten

*Premierenbesetzung

Joe
Marie Bretschneider /
*Rike Schuberty

Jay
Annemie Twardawa

Das System:
Sopran
Wendy Krikken

Mezzosopran
Iris Marie Sojer

Tenor
Adam Temple-Smith

Bariton
Timothy Edlin

Sprecher Videos:
Linné
Ulrike Langenbein

Papertown
Thomas Wehling

Container
Georg Böhm

 

 


Weitere Informationen
erhalten Sie von den
Wuppertaler Bühnen
(Homepage)



Da capo al Fine

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