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Die sieben Todsünden

Tanzabend von Pina Bausch mit Musik von Kurt Weill
Teil I: Kurt Weill: Die sieben Todsünden
Ballett mit Gesang, Text von Bertolt Brecht, Fassung für tiefe Frauenstimme, bearbeitet von Wilhelm Brückner-Rüggeberg
Teil II: Fürchtet Euch nicht
Unter Verwendung von Songs aus der Dreigroschenoper, Kleine Dreigroschenmusik, Happy End, Das Berliner Requiem und
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (eine Pause)

Wiederaufnahme im Opernhaus Wuppertal am 7. März 2020 (Uraufführung am 15. Juni 1976)
(rezensierte Aufführung: 10.03.2020)

 



Tanztheater Wuppertal
(Homepage)

"Klassiker" mit bedrückender Aktualität

Von Thomas Molke / Fotos: © Ursula Kaufmann

Pina Bausch leitete in der dritten Spielzeit das Tanztheater Wuppertal, als sie am 15. Juni 1976 im Opernhaus mit Die sieben Todsünden große Teile des Publikums irritierte. Zu diesem Zeitpunkt hat wohl noch keiner damit gerechnet, welche Karriere Bausch mit ihrem Ensemble weltweit in den nächsten Jahrzehnten machen würde und dass sich gerade der zweiteilige Tanzabend Die sieben Todsünden mit Songs von Kurt Weill und Bertolt Brecht zu einem Meilenstein in Bauschs Schaffen entwickeln sollte, der auch nach fast 44 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt hat und immer noch ohne Abänderungen genauso funktioniert wie bei der Uraufführung. Für die Wiederaufnahme hat man hochkarätige Gäste eingeladen, unter anderem "Tatort"-Kommissarin Meret Becker alternierend mit der Musical-"Legende" Ute Lemper, die beide schon bei diesem Stück mitgewirkt haben. Lemper stand bereits vor 25 Jahren im zweiten Teil des Abends, Fürchtet euch nicht, auf der Bühne, Becker sang auf Einladung von Pina Bausch 2001 in diesem Teil. Nun sind sie beide alternierend als Anna I im ersten Teil, dem Ballett mit Gesang Die sieben Todsünden, zu erleben.

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Anna II (Stephanie Troyak) träumt von einem kleinen Haus in Louisiana.

Dieser erste Teil wurde 1933 auf ein Libretto von Bertolt Brecht in einer Choreographie von Georges Balanchine am Théâtre des Champs-Elysées in Paris uraufgeführt und handelt von den als Alter Ego angelegten Schwestern Anna I und Anna II, die von den Südstaaten der USA aufbrechen, um bei einer Tournee durch sieben Städte das nötige Geld für ihr kleines Haus in Louisiana zu verdienen. Jede Stadt, die sie bereisen, steht dabei für eine der sieben Todsünden. Der singende Part, Anna I, fungiert als eine Art Erzählerin und folgt wie ein mahnender Schatten dem zweiten Ich, das als tanzende Schwester Anna II auf dem Weg durch die von den Todsünden geprägten sieben Städte aller ihrer Illusionen beraubt wird. Wie ein naives Kind verfällt Anna II dem Traum von einem besseren Leben und vertraut zunächst den Versprechungen ihrer Schwester Anna I. Stephanie Troyak legt Anna II zunächst wunderbar unschuldig an, wenn sie sich auf dem Bühnenboden im Scheinwerferlicht einer einsamen Lampe sonnt, die von Anna I zu Beginn gelenkt wird. Wie bei der Uraufführung 1976 wird für Anna I mit einem schnurlosen Mikrofon gearbeitet, das sie um den Hals trägt. Ute Lemper gelingt eine eindrucksvolle Umsetzung der Partie der Anna I. Mit leicht schneidendem Tonfall macht sie die Autorität deutlich, die sie ihrer Schwester gegenüber besitzt. Im Prolog wirkt die Beziehung noch recht harmonisch. Troyak räkelt sich auf dem Boden und zündet sich leicht lasziv eine Zigarette an. Doch bald muss sie erkennen, dass ihr Körper wie eine Ware vermarktet wird. Männer in dunklen Anzügen begutachten sie, und auch Anna I erwartet von ihr, dass sie sich den Gesetzen des Marktes unterwirft. Franko Schmidt übernimmt den Platz von Anna I am Scheinwerfer, während diese ihre Schwester immer schonungsloser in die ihr zugedachte Rolle drängt.

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Mit Argwohn beobachtet Anna I (hier: Meret Becker, links) die Gefühle zwischen Anna II (Stephanie Troyak, vorne Mitte) und Fernando (Jonathan Fredrickson).

Das Sinfonieorchester Wuppertal, das für diesen Abend erneut unter der musikalischen Leitung von Jan Michael Horstmann steht, begleitet den Abend aus dem Bühnenhintergrund, so dass die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne gewissermaßen aufgehoben wird. Auf der linken Bühnenseite ist die Familie platziert, die selbstsüchtig darauf wartet, dass Anna das Geld für das kleine Häuschen in Louisiana erwirtschaftet, um sich anschließend ins gemachte Nest zu setzen. Mit sauberer Diktion setzen Sangmin Jeon, Sebastian Campione, Simon Stricker und Mark Bowman-Hester die Eltern und die beiden Brüder um, die wie ein Chor die Handlung kommentieren, dabei aber nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Die Tänzerinnen begleiten Anna II auf ihrem Weg mal als bunte, schillernde Revue-Girls, die den Schein über das Sein stellen und eine oberflächliche heile Welt vorgaukeln, mal in strengen schwarzen Bleistiftröcken, die in starkem Kontrast zum Bild des Müßiggangs stehen. Dabei überzeugen sie durch homogene Bewegungen. Troyak fällt es als Anna II im Verlauf der Geschichte immer schwerer, sich ihre Unbeschwertheit zu erhalten. Schonungslos wird ihre Beziehung zu Edward (Oleg Stepanov) dargestellt, der Anna II als sein Eigentum betrachtet und sie auch so behandelt. Da sind die weichen Töne, die Lemper bei den Erinnerungen an den Geliebten Fernando (Jonathan Fredrickson) anschlägt, ein regelrechter Schlag ins Gesicht. Recht erschöpft wirkt Anna II, wenn sie ihre Reise schließlich vollendet hat und wieder in Louisiana angekommen ist. Die Familie bezieht das kleine Haus, das durch einzelne Möbelstücke dargestellt wird. Die Musik und Troyaks hingebungsvolles Spiel machen deutlich, welchen Preis Anna II dafür bezahlt hat.

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Stephanie Troyak (vorne Mitte) und das Ensemble bei der Eröffnung des zweiten Teils

Der zweite Teil des Abends unter dem Titel Fürchtet euch nicht ist eine Collage aus aneinandergereihten Songs aus Kurt Weills Dreigroschenoper, Kleine Dreigroschenmusik, Happy End, Berliner Requiem und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und wirkt beinahe wie ein aktueller Beitrag zur #MeToo-Debatte. Der Titel ist ein Zitat aus dem Heilsarmeechor in Happy End und zieht sich wie ein schauriges Leitmotiv durch den Teil. Ein Mann, der großartig unheimlich von Steffen Laube dargestellt wird, begibt sich mit diesem A-cappella-Gesang auf die Suche nach einem Opfer zur Befriedigung seiner sexuellen Gelüste. Zunächst klingt er sehr vertrauenerweckend, wenn er dieses Lied mit sanfter Stimme ansetzt. Nur die grauen Handschuhe, die er an den Händen trägt, und der Griff in den Schritt lassen Böses ahnen. Andere Männer sind in diesem Teil nicht existent. Die Tänzer treten allesamt als Frauen in bunten Revuekleidern auf. Diese Frauen wirken in ihrer schimmernden Welt sehr selbstbestimmt und in der Masse unverletzlich. Wenn eine allerdings die Gruppe verlässt, um auf eigenen Beinen zu stehen, bewegt sie sich am Rande des Abgrunds. Diese Erfahrung muss die zierliche Tänzerin Tsai-Wai Tien machen. Aus dem ausgelassenen fröhlichen Ensemble zu Beginn dieses Teils löst sie sich, um sich selbst in einem Spiegelkabinett zu entdecken. Hier scheint erstmals ihre Sexualität in zarten Zügen zu erwachen. Tien öffnet einen weiteren Knopf ihres Kleides und hebt das Kleid ein wenig an, um ihre Beine zu betrachten.

In der nächsten Szene legt sie sich unschuldig mit einem Paar Männerschuhe auf der Bühne schlafen. Zuerst umarmt sie einen imaginären Verehrer und lässt sich von ihm liebkosen. Ein witziger Moment entsteht, wenn die Schuhe sich wie von Zauberhand bewegen und in Schlafstellung aufrichten. Das harmonisch wirkende Bild wird durch Laubes Auftritt zerstört, der sofort erkennt, dass er in Tien ein neues Opfer gefunden hat. Ganz langsam schleicht er sich in ihr Vertrauen. Die Darstellung geht nahezu an die Schmerzgrenze des Betrachters, weil Tien zwar zunächst leichten Widerstand gegen seine Übergriffe leistet, ihm aber schließlich doch unterliegen muss. Zum "Moon from Alabama" tanzen die Tänzerinnen und Tänzer ausgelassen und fröhlich über die Bühne, während sich der Mann auf grausame Weise an dem Mädchen vergeht. Doch das Mädchen lässt sich nicht zerstören und bietet ihrem Peiniger anschließend die Stirn. Tien hat sich scheinbar emanzipiert und führt den folgenden Gruppentanz an, während sich Laube das nächste Opfer sucht.

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Johanna Wokalek (vorne links) mit Tsai-Wei Tien beim "Barbara-Song"

Für den Gesang sind Melissa Madden Grey, Erika Skrotzki und Johanna Wokalek alternierend mit Meret Becker verpflichtet worden. Madden Grey übernimmt den Part, der bis vor ein paar Jahren noch von Mechthild Großmann verkörpert worden ist. Auch wenn Madden Grey nicht Großmanns markante tiefe Stimme besitzt, lässt ihre Interpretation von "Surabaya Johnny" keine Wünsche offen. Auch die Bühnenpräsenz und die Komik, die sie mit dreckigem Lachen beim Bilbao-Song versprüht, ist beeindruckend. Erika Skrotzki übernimmt das melancholische Lied "Vom ertrunkenen Mädchen" aus Weills Berliner Requiem, während die Tänzerinnen dabei mit großartiger Körperbeherrschung als Puppen agieren. Johanna Wokalek, die bereits in der vergangenen Spielzeit Großmanns Part bei der Wiederaufnahme des Stückes Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen übernommen hat, überzeugt stimmlich vor allem mit dem berühmten "Barbara-Song" aus der Dreigroschenoper, den sie Tien scheinbar als Ratschlag mit auf ihren weiteren Weg gibt. Auch die Tänzerinnen des Ensembles zeigen ihre gesanglichen Fähigkeiten, wenn Julie Anne Stanzak, Stephanie Troyak, Blanca Noguerol Ramírez und Azusa Seyama als Quartett das berühmte Streit-Duett um Mackie Messer singen und dabei auf ausgebreiteten Pelzen liegen. Troyak übernimmt auch in der Eröffnungsszene den Part von Josephine Ann Endicott, den diese bei der Wiederaufnahme des Stückes vor zwei Jahren noch selbst getanzt hat. Nun hat sich Endicott auf die Probenleitung beschränkt. Das Publikum feiert das Ensemble mit stehenden Ovationen und frenetischem Jubel.

FAZIT

Dieser Klassiker aus Pina Bauschs frühen Jahren hat auch über 40 Jahre nach der Uraufführung nichts an Aktualität eingebüßt und begeistert immer noch durch großartige Bilder.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Jan Michael Horstmann

Regie
Pina Bausch

Probenleitung 2020
Josephine Ann Endicott
Julie Shanahan

Bühne und Kostüme
Rolf Borzik

Musikalische Mitarbeit
Neueinstudierung 2019
Matthias Burkert

 

Sinfonieorchester Wuppertal


Solisten

*rezensierte Aufführung

Die sieben Todsünden

Anna I
Meret Becker /
*Ute Lemper

Anna II
Stephanie Troyak

Die Familie
Mark Bowman-Hester
Sebastian Campione
Sangmin Jeon
Simon Stricker

Tänzerinnen und Tänzer
Emma Barrowman
Andrey Berezin
Michael Carter
Léonor Clary
Maria Giovanna Delle Donne
Jonathan Fredrickson
Martina La Ragione
Marius Ledwig
Milan Nowoitnick Kampfer
Daphnis Kokkinos
Yosuke Kusano
Eddie Martinez
Blanca Noguerol Ramírez
Daria Pavlenko
Franko Schmidt
Azusa Seyama
Ekaterina Shushakova
Julie Anne Stanzak
Oleg Stepanov
Julian Stierle
Michael Strecker
Christopher Tandy
Tsai-Wei Tien

Klavier
Maki Hayashida

Gitarre
Jan Kazda

Fürchtet euch nicht

Gesang
Melissa Madden Gray
Meret Becker /
*Johanna Wokalek
Steffen Laube
Erika Skrotzki

Tänzerinnen und Tänzer
Emma Barrowman
Andrey Berezin
Michael Carter
Léonor Clary
Maria Giovanna Delle Donne
Jonathan Fredrickson
Martina La Ragione
Marius Ledwig
Milan Nowoitnick Kampfer
Daphnis Kokkinos
Yosuke Kusano
Eddie Martinez
Blanca Noguerol Ramírez
Daria Pavlenko
Franko Schmidt
Azusa Seyama
Ekaterina Shushakova
Julie Anne Stanzak
Oleg Stepanov
Julian Stierle
Michael Strecker
Christopher Tandy
Stephanie Troyak
Tsai-Wei Tien
Ophelia Young
Tsai-Chin Yu

 


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Tanztheater Wuppertal
(Homepage)




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