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Leben im Pappkarton
Dass Meisterwerken des Opernrepertoires bei ihrer Uraufführung noch kein großer
Erfolg beschieden war, ist keine Seltenheit. Man denke nur an Georges Bizets
Carmen. Bei Puccinis Oper La bohème verhielt es sich allerdings anders. Hier war es nur ein Kritiker der Zeitschrift La stampa,
der nach der Uraufführung 1896 urteilte, dass die Geschichte über einfache Leute
wohl keinen großen Eindruck beim Publikum hinterlassen werde. Schließlich wolle
man in Italien eher große Operndramen sehen und hören wie beispielsweise die
italienische Fassung von Wagners Götterdämmerung. Die restlichen Kritiker
und die Zuschauer hingegen
zeigten sich von Anfang an begeistert, und die Oper trat einen beispiellosen
Siegeszug an, so dass das Werk auch heute noch zu den populärsten Opern aller
Zeiten zählt, die von zahlreichen Opernhäusern besonders gern in der
Vorweihnachtszeit auf den Spielplan gestellt wird. In Wuppertal hat man sich
entschieden, das Stück nach neun Jahren und zwei Intendantenwechseln
einer Neudeutung durch das Regieteam Immo Karaman und Fabian Posca zu
unterziehen, die in der letzten Spielzeit hier für die Inszenierung von Erich
Wolfgang Korngolds Die tote Stadt verantwortlich zeichneten (siehe auch
unsere Rezension).
Die vier Künstler in ihrer Mansarde: von links:
Colline (Sebastian Campione), Schaunard (Simon Stricker), Marcello (Aleš Jenis) und
Rodolfo (Sangmin Jeon)
Die Geschichte basiert auf einem Fortsetzungsroman, in dem Henri Murger von März
1845 bis April 1849 in der Zeitschrift Le Corsaire Satan unter dem Titel
Scènes de la bohème in einer lockeren Folge von Erzählungen ein farbiges
Bild des Pariser Künstlermilieus entwarf, dem er selbst angehörte. Im November
1849 kam eine Bühnenversion unter dem Titel La vie de bohème im Pariser
Théâtre des Variétés heraus, die ebenfalls begeistert aufgenommen wurde, so
dass die 1851 überarbeitete Buchausgabe unter dem Titel Scènes de la vie de
bohème zu einem der populärsten Künstlerromane des 19. Jahrhunderts
avancierte. Puccini, der selbst seine Mailänder Studienzeit in ärmlichen
Verhältnissen verbracht hatte, war nicht der einzige, der eine Vertonung dieser
Erzählung in Angriff nahm. Auch Ruggero Leoncavallo zeigte sich von dem Stoff
fasziniert und ließ sich zu einer Oper inspirieren. Während sich Leoncavallo
jedoch eng an die literarische Vorlage hielt, betonten Puccinis Librettisten
Luigi Illica und Giuseppe Giacosa eher die Atmosphäre als den Handlungsablauf,
und so traf das Leid der jungen an Tuberkulose erkrankten Mimì mit der
hochemotionalen Musik Puccinis das Publikum mitten ins Herz.
Erste zärtliche Annäherung: Rodolfo (Sangmin Jeon)
und Mimì (Li Keng)
Die Inszenierung von Karaman und Posca ist durch die "Arte Povera" inspiriert,
eine von dem Kunstkritiker und Kurator Germano Celant 1967 geprägte Bewegung,
die Kunst aus gewöhnlichen und alltäglichen Materialien des Lebens kreiert. So besteht nahezu das ganze von Karaman konzipierte Bühnenbild aus Pappe und Pappkartons. Vor der Aufführung
dominiert ein riesiger verschlossener Karton die Bühne, der sich mit Beginn
der Musik öffnet und einen Blick in die Künstlermansarde gibt, in der Rodolfo,
Marcello, Schaunard und Colline im wahrsten Sinne des Wortes hausen. Nichts ist
hier real, und alles besteht aus Pappe, auch der Ofen, dem Rodolfo für ein
bisschen Wärme die Seiten seines neuesten Theaterstücks opfert. Selbst der
Vermieter Benoît scheint dieser Pappwelt zu entspringen. Während sich die vier
Künstler in einfachen Kostümen von den Pappwänden abheben, verschmilzt
Benoît farblich mit dem Hintergrund. Selbst die Kerze, mit der Mimì in diese
Welt eintritt, besteht nur aus Pappe, und für die romantische Atmosphäre zwischen
Rodolfo und Mimì sorgen ein Pappmond und eine große Papplaterne.
Sie streiten, aber sie lieben sich: Musetta (Ralitsa
Ralinova) und Marcello (Aleš Jenis).
Dieser Eindruck setzt sich auch im zweiten Bild fort, wenn die vier Freunde mit Mimì im Café Momus feiern. Die ganze Bühne besteht aus Pappteilen, die bisweilen
über die Bühne geschoben werden. Selbst die Tische sind aus Pappe
zusammengesetzt. Die vier Freunde und Mimì scheinen die einzigen realen Menschen
in dieser Pappwelt zu sein. Chor und Statisten wirken in ihren Kostümen wie
Benoît im ersten Bild wie Pappfiguren, die mal mit Pappautos, mal mit Geschenken
über die Bühne eilen. Auch Musetta tritt zunächst mit einer aufgesetzten
Pappperücke und einem Pappkostüm auf, wenn sie in Begleitung ihres reichen
Verehrers Alcindoro ist. Erst wenn sie sich erneut Marcello zuwendet, legt sie
ihr Kostüm und ihre Perücke ab und passt sich optisch den vier Freunden und Mimì
an. Unklar bleibt, wieso am Ende des zweiten Bildes ein riesiges Monster aus dem
Schnürboden herabgelassen wird, das an eine Manga-Version von Godzilla erinnert
und quer über die Bühne Feuer speit. Soll damit betont werden, dass Mimì bereits
an diesem eigentlich recht fröhlichen Abend vom Tod gezeichnet ist und
die ganze vorweihnachtliche Stimmung nur ein Trugbild ist? Immerhin bricht Mimì
am Ende des Bildes in Musettas Armen entkräftet zusammen, was im Libretto nicht
vorgesehen ist.
Vom Tod gezeichnet: Mimì (Li Keng) mit Rodolfo (Sangmin
Jeon)
Nach der Pause löst sich der Hintergrund allmählich auf. Im dritten Bild sind nur ein
riesiger Papprahmen und diverse Kartons erhalten, die von Müllmännern
eingesammelt werden. Marcello scheint in einer Diskothek als Maler beschäftigt
zu sein, da durch die geöffnete Tür wild tanzende junge Frauen gezeigt werden,
die nun wie "normale Menschen" aussehen. Während Rodolfo und Mimì in dieser
Szene noch einmal zueinander finden und Marcello und Musetta in heftigen Streit
geraten, verschwinden auch diese Bühnenteile Stück für Stück. Man sieht einzelne
Choristen, die apathisch Umzugskisten über die Bühne tragen, sich an einer
Stelle niederlassen und beim Stöbern in den Kisten melancholisch in alte Erinnerungen
versinken. In diesem Ambiente bringt Musetta Mimì todkrank in die Mansarde, die
eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist. Der Mantel, den Colline für Mimì
versetzen will, befindet sich in einem der Umzugskartons. Musetta kehrt ohne
Muff für die sterbende Mimì zurück. Alles, was Mimì bleibt, ist
die Haube, die ihr Rodolfo im zweiten Akt geschenkt hat. Wenn die Freunde
erkennen, dass Mimì gestorben ist, beginnen auch sie, abwesend Umzugskartons
über die Bühne zu tragen und versinken wie die Choristen zuvor in eine gewisse
Apathie. Auch der verzweifelte Rodolfo ergreift am Ende eine Kiste und entfernt
sich langsam von der toten Mimì. So ist die Verstorbene in ihrem Tod ganz
allein.
Gesungen wird in Wuppertal auf sehr hohem Niveau. Man kann gar nicht genug
betonen, was für ein Glück man am Haus mit einem Tenor wie Sangmin Jeon hat. Die
Partie des Rodolfo ist eine weitere Paradepartie für ihn, in der er mit seinem
strahlenden Tenor glänzen kann. Die berühmte Arie "Che gelida manina" gestaltet
er mit sauber angesetzten Höhen und wunderbarem Timbre, so dass ihm anschließend nicht nur Mimìs Herz
zu Füßen liegen dürfte. Das Publikum feiert ihn zu Recht mit
frenetischem Applaus. Als Gast steht ihm die aus Taiwan gebürtige Sopranistin Li Keng als Mimì stimmlich in nichts nach. Mit leuchtendem Sopran zeichnet sie die
Partie und begeistert mit lyrischen Bögen in ihrer großen Arie "Mi chiamano Mimì",
in der sie auch die Verletzlichkeit der Figur hervorhebt. Ein weiterer
musikalischer Glanzpunkt des Abends ist das folgende Duett "O soave fanciulla",
in dem Jeons Tenor und Kengs Sopran zu einer bewegenden Innigkeit finden. Unter
die Haut geht auch ihr gefühlvolles Duett "Addio... Che! Vai?" im dritten Bild,
in dem sie nach der zwischenzeitlichen Trennung beschließen, doch noch bis zum
Frühling zusammen zu bleiben. Ensemble-Mitglied Ralitsa Ralinova begeistert als
Musetta mit strahlendem Sopran und verführerischem Spiel. Aleš Jenis gibt
als eifersüchtiger Marcello mit markantem Bariton einen stimmlich und
darstellerisch ebenbürtigen Partner. Simon Stricker und Sebastian Campione
runden als Schaunard und Colline die Künstler-Clique überzeugend ab, wobei
Campione bei seiner großen Mantel-Arie im vierten Bild stimmlich allerdings ein bisschen blass
bleibt. Der von Markus Baisch einstudierte Chor präsentiert sich homogen. Julia Jones arbeitet mit dem Sinfonieorchester Wuppertal die
unterschiedlichen Nuancen von Puccinis Musik eindringlich heraus, so dass es am
Ende verdienten Beifall für alle Beteiligten in der gut besuchten dritten Aufführung gibt.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung und Bühne
Kostüme und Choreographie
Licht
Chor Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Opernchor und Extrachor, Statisterie der Solisten*rezensierte Aufführung Mimì Musetta Rodolfo Marcello Schaunard Colline Benoît / Alcindoro Parpignol Zöllner Sergeant Händler
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- Fine -