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Psycho-Krimi im alten Theben
Obwohl die Geschichte um Oedipus, der ohne Kenntnis seiner Familienverhältnisse
seinen Vater, König Laios, tötete und seine Mutter Iokaste heiratete, zu den
bekanntesten Mythen der Antike zählt, hat der Stoff im Gegensatz zu anderen
Sagen der Antike in der Oper lange Zeit keine große Rolle gespielt. Erst im 20. Jahrhundert
entstanden heute noch bekannte Vertonungen von Igor Strawinsky, George Enescu
und Carl Orff. Berthold Schneider, der Intendant der Oper Wuppertal, hat sich
entschieden, die diesjährige Spielzeit mit Strawinskys 1928 an der Staatsoper
Wien uraufgeführtem Opernoratorium Oedipus Rex zu eröffnen. Da das Werk
mit einer knappen Stunde Spielzeit für einen kompletten Abend ein wenig kurz
erscheint, hat man es in Wuppertal mit der fünf Jahre zuvor entstandenen
Tanzkantate Les Noces von Strawinsky kombiniert. Die beiden Stücke, die
stilistisch kaum unterschiedlicher sein könnten, werden allerdings nicht einfach
nebeneinander gestellt, sondern vom Regie-Team um Timofey Kulyabin zu einer
durchgehenden Geschichte verwoben. So ist in Wuppertal die Hochzeit, die in
Les Noces gefeiert wird, die Eheschließung zwischen Iokaste und Oedipus, die
dem Oratorium vorangestellt wird.
Iokaste (Almuth Herbst, Mitte) und Oedipus (Mirko
Roschkowski, 2. von rechts) feiern Hochzeit (links: Kreon (Simon Stricker), im
Hintergrund und vorne rechts: Opernchor).
Les Noces nimmt eigentlich in einer Aneinanderreihung von Szenen
traditionelle russische Hochzeitsbräuche in den Blick. Dabei werden zunächst die
Rituale bei der Vorbereitung der Hochzeit beschrieben, bevor im zweiten Teil die
Feier beginnt und die Gäste und Verwandte nach einer ausgelassenen
Hochzeitsfeier das Brautpaar ins Schlafzimmer zum Ehebett begleiten. Die
Orchesterbesetzung besteht aus vier Klavieren und diversen Schlaginstrumenten,
die ein spürbar hartes und nur wenig geschmeidiges Klangbild erzeugen. Kulyabin
siedelt diese Hochzeit, die eigentlich auf dem Lande irgendwo in den Weiten
Russlands stattfindet, in einer "mediterranen Diaspora-Gemeinschaft" an, in der
er die Geschichte von Oedipus spielen lässt. Die vier Solisten des Stückes
spielen dabei auch einen Part in der Geschichte. Der Sopran (Ralitsa Ralinova)
übernimmt die Rolle der Sängerin, die zur Unterhaltung auf der Hochzeit
engagiert worden ist. Der Mezzosopran (Iris Marie Sojer) stellt Kreons Ehefrau
dar. Der Tenor (Sangmin Jeon) entpuppt sich später als der Hirte, der Oedipus
als Baby in den Bergen ausgesetzt hat, und der Bass (Sebastian Campione) ist
niemand anderes als der blinde Seher Teiresias. Von dieser Situation ausgehend
entwickelt Kulyabin mit seinem Team eine Kriminalgeschichte, die schließlich in
einem Verhörzimmer eines Detektivs endet. Oleg Golovko hat dieses Büro in die
Rückwand des Bühnenbilds als kleine abgeschlossene Kammer integriert und
ermöglicht mit dem Einsatz von Videokameras die Hervorhebung einzelner Details
dieser Kammer auf drei Leinwänden.
Iokaste (Almuth Herbst, Mitte) schildert Oedipus
(Mirko Roschkowski, links) und Kreon (Simon Stricker, rechts) vom Tod ihres
Gatten Laios (an den Tischen: Herrenchor mit Teiresias (Sebastian Campione,
vorne links), rechts oben: Erzähler (Gregor Henze, links) mit dem Oedipus-Double
(Ümit Demirbaş, rechts)).
Oedipus wird bei Kulyabin nicht schuldlos schuldig, sondern weiß von Anfang an
alles und plant folglich die ganze Geschichte als eine Art Rachefeldzug.
Scheinbar versehentlich überschüttet er bei der Hochzeitsfeier sein Hemd mit
Rotwein, so dass er eine Ausrede hat, sich in einen Raum auf der rechten
Bühnenseite zurückzuziehen, in dem er dann irgendein Pulver in das Fass mischt,
aus dem die Hochzeitsgäste später mit dem Hochzeitswein verköstigt werden. Der
Genuss dieses Trankes löst dann die Krankheit aus, die zu Beginn der Oper, dem
Teil nach der Pause, als Pest in Theben wütet. Dass Oedipus' Ziehvater Polybos
(Hans Stühling) an diesem Trank stirbt, ist gewissermaßen als Kollateralschaden
zu verbuchen. Der Sprecher, der in dem Opernoratorium eigentlich als Erzähler
zwischen den Gesängen fungiert, ist hier ein Kriminalbeamter (Gregor Henze), der
versucht, Oedipus (als Double: Ümit Demirbaş) zu überführen. Oedipus'
Double trägt dabei eine weiße Augenbinde mit blutrotem Rand, die wohl andeuten
soll, dass er sich nach Iokastes Selbstmord geblendet hat. Während Henze die
Zwischentexte wie in einem Verhör spricht und Demirbaş relativ gefühlskalt
darauf reagiert, spielt sich auf der Bühne die Tragödie ab. Dabei spielt Oedipus
seine Rolle absolut überzeugend und für sein Umfeld glaubhaft. Geschickt
entlockt er Teiresias, dem Boten und dem Hirten das Geheimnis seiner Herkunft.
Katastrophe am Ende: Iokaste (Almuth Herbst, oben
links) hat sich umgebracht, Oedipus (Mirko Roschkowski, oben links) verzweifelt.
Der Erzähler (Gregor Henze, oben links im rechten Zimmer) verhört Oedipus
(Double: Ümit Demirbaş).
Erst nach Iokastes Selbstmord begreift Oedipus, dass er zu weit gegangen ist. In
der Rückwand wird eine weitere Kammer sichtbar, die eine Art Schrein zeigt, in
dem Iokaste die Erinnerungen an ihren verlorenen Sohn aufbewahrt hat. Die
zahlreichen Baby-Fotos, die einen Altar bilden, zeigen, dass sie ihren Sohn
damals nicht freiwillig hergegeben hat. Sie war also keineswegs die Rabenmutter, für
die Oedipus sie hielt und die er bestrafen wollte. Diese Erkenntnis führt dazu,
dass Oedipus sich blendet und schließlich vom Volk aus der Stadt vertrieben
wird. Ob er aber wirklich blind wird, lässt Kulyabin offen. Nachdem die
Geschichte zu Ende erzählt ist, nimmt das Oedipus-Double im Büro des
Kriminalbeamten
die Augenbinde ab und starrt recht entschlossen in die Kamera. War Oedipus' Reue
am Ende doch auch nur Schein?
Musikalisch bewegt sich der Abend auf hohem Niveau. Für die Titelpartie ist der
Tenor Mirko Roschkowski verpflichtet worden, der den Oedipus mit einem hellen
Tenor ausstattet, der in den Höhen große Strahlkraft besitzt und sehr leicht
klingt. Almuth Herbst punktet als seine Ehefrau und Mutter Iokaste mit sattem
Mezzosopran, der zu dramatischen Ausbrüchen fähig ist. Besonders eindrucksvoll
gelingt ihre Schlussszene, in der sie den Frevel durchschaut und sich
verzweifelt in ihrem Gemach das Leben nimmt. Simon Stricker legt Iokastes Bruder
Kreon als kühlen Taktiker an und überzeugt mit markantem Bariton. Sebastian
Campione gibt den Teiresias mit dunklem Bass und überzeugt durch eindrucksvolles
Spiel. Sangmin Jeon begeistert in Les Noces mit klarem Tenor, den er auch
als Hirte und alter Diener im zweiten Teil des Abends überzeugend zur Geltung
bringt. Daegyun Jeong, Mitglied des Opernstudios NRW, lässt als Bote mit
kräftigem Bariton aufhorchen. Ralitsa Ralinova punktet als Sängerin bei der
Hochzeit in Les Noces mit starkem Sopran, den sie ähnlich hart anlegt wie
den Rhythmus der Musik. Der Opern- und Extrachor der Wuppertaler Bühnen leisten
unter der Leitung von Markus Baisch Gewaltiges und begeistern durch fulminanten
Klang. Gleiches gilt für das Sinfonieorchester Wuppertal und die vier Pianisten
in Les Noces unter der musikalischen Leitung von Johannes Pell, die den
harschen Strawinsky-Klang zu einem großen Erlebnis machen, wobei die Musik mit der
Inszenierung eine stringente Einheit bildet. So gibt es am Ende verdienten
Applaus für alle Beteiligten.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Regie
Bühne
Kostüme
Licht
Chor Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal
Pianisten Opernchor und Extrachor der Wuppertaler Bühnen SolistenOedipus Iokaste Kreon Teiresias Der Hirte / Alter Diener Der Bote Erzähler / Detektiv Sängerin bei der Hochzeit Kreons Frau Polybos, Oedipus' Ziehvater Merope, Oedipus' Ziehmutter Double Oedipus Ritenwächter, Polizisten,
Hochzeitskellner, Älteste
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- Fine -