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Orlando

Fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern
Libretto von Catherine Filloux und Olga Neuwirth
(basierend auf dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf)
Musik von Olga Neuwirth


in deutscher Sprache mit verschiedensprachigen Untertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 15' (eine Pause)

Uraufführung an der Wiener Staatsoper am 8. Dezember 2019
(rezensierte Aufführung:11. Dezember 2018)


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Wiener Staatsoper
(Homepage)

Zwischen den Zeiten und Geschlechtern

Von Roberto Becker / Fotos © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Dass Uraufführungen in der Regel immer bejubelt werden, besagt noch nicht viel über die Haltbarkeit einer Novität in den Spielplänen. Da sind die Zweitinszenierungen und ihr Erfolg als Indiz treffsicherer. Beim ersten Mal übertragen sich die Freude über den Zuwachs und die Konzentration auf das Großereignis auf ein Publikum, das Lust auf etwas Neues hat. Oder, dass zu großen Teilen zur Fangemeinde des Komponisten oder - wie jetzt an der Staatsoper in Wien - der Komponistin gehört. Wenn das Ganze dann auch noch quantitative Ausmaße annimmt, wie bei Olga Neuwirths Orlando, dann treibt schon der pure Respekt vor der Gesamtleistung den Lautstärkepegel beim Schlussapplaus in die Höhe.

Dabei hält sich an der Staatsoper Wien der Erneuerungsehrgeiz für die Gattung in Grenzen. Aus der Ära von Ioan Holender sind u.a. Friedrich Cherhas Der Riese vom Steinfeld (2002) und Aribert Reimanns Medea (2010) in Erinnerung geblieben. Dominique Meyer, der bald an die Scala wechseln wird, hat bis zum Ende seines Direktoriums mit Großaufträgen gewartet. Dafür ließ er im 150. Jubiläumsjahr des Hauses ein Jahr nach Johannes Maria Stauds Die Weiden jetzt immerhin auch noch Olga Neuwirths Orlando folgen. Am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper navigiert Komponistenkollege Matthias Pintscher die Musiker und die Protagonisten mit imponierender Souveränität durch Neuwirths musikalisches Universum.

Szenenfoto kommt später

Dass eine Frau ein Stück Musiktheater komponiert, das von Virginia Woolfs Roman ausgeht, mag zum Thema und zur aktuellen Debattenaufgeregtheiten passen. Ob Neuwirth tatsächlich eine spezifisch weibliche Sicht auf ihren/ihrer Held*in (in dem Falle ist diese absonderliche Neuerung des Schriftbildes tatsächlich mal angebracht) gelungen ist, bleibt freilich am Ende des mit Dreieinviertelstunden Bruttospielzeit recht langen Abends offen. Zumindest hat sie deutlich gemacht, wie schwierig es ist, mit unterkomplexen Bildern und Losungen gegen den Triumph des Unterkomplexen Front zu machen. Als ob nun ein stark verfremdeter Donald Trump oder Massen, die dumpf "Wir zuerst" oder gar "Wir sind das Volk" skandieren, etwas ausrichten! Wenn die, die damit gemeint sind und an deren höhere Einsicht appelliert wird, das zur Kenntnis nähmen und verstünden, käme da doch höchstens ein "Na und"…

Szenenfoto kommt später

Lucile

Der quasi analytische Teil des Librettos läuft auf ein "Die Welt ist schlecht und alles wird immer schlimmer" hinaus. Die Erzählerin (Anna Clementi lässt sich nicht aus der Deklamationsruhe bringen) setzt dem ein "Sei wie Du bist und schreib dagegen an" entgegen. Orlando nimmt das "Ich bin wie ich bin und schreibe dagegen an" des/der Held*in in der Rolle des zwischen den Geschlechterzuschreibungen changierenden Orlando als individuelle Antwort an. Im Grunde ist das eine recht magere Ausbeute der von Catherine Filoux und Olga Neuwirth selbst in eine Librettoform übertragenen und dann bis in (unsere) Gegenwart, ja Zukunft fortgeschriebenen Vorlage der Woolf.

Das, was im Untertitel "eine fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern" heißt, ist der Versuch eines Panoramablicks auf die Welt und ihr Kriegsgeschrei, der von den Librettistinnen über das Jahre nach 1928 (in dem der Roman erschien und seine Handlung endet) hinaus bis in die Gegenwart. Diese Zeitreise wird im Schnelldurchlauf absolviert. Mit prägenden Bildern und Vollständigkeitsehrgeiz. Dieser Ehrgeiz führt zu platten szenischen Lösungen. Allerdings gelingt das Jahr 1941. An den Holocaust wird mit einer Einspielung der in Auschwitz ums Leben gekommenen Nichte Gustav Mahlers und unzähligen projizierten Namen Ermordeter erinnert. Darauf folgen die explodierende Atombombe, Vietnam, die 68er Revolte, der Irakkrieg. Aber eben auch aufkommender Rechtspopulismus, dann Greta als fordernder Kinderchor, die Digitalisierung - es muss alles rein. Damit kollidiert Neuwirths eigener Anspruch im Verlaufe des Abends zunehmend mit den Möglichkeiten der Gattung. Ganz gleich, ob das Ganze nun Oper heißt oder nicht. Die intellektuelle und emotionale Wirkung von Musiktheater folgt allemal ihrem eigenen Stern. Im ersten Teil, wenn die Überwältigung beim Eintauchen in Neuwirths allumfassende Klangwelt noch frisch ist, Orlando Elisabeth I. (Constance Hauman) begegnet, schriftstellert und aus einer von vielen unerklärlichen Schlafphasen als Frau aufwacht, ihm also ein radikaler Perspektivenwechsel auf die patriarchalische Struktur der Gesellschaft aufgezwungen wird, packt diese absonderliche Melange aus Zeitreise und Geschlechterwechsel so, dass man begeistert in die Pause geht. Im zweiten Teil ändert sich das, weil Orlandos Blick nur noch Vorwand für die Collage einer Zeitrevue ist.

Szenenfoto kommt später

Wenigstens bleibt die Musik bei ihr Methode des Übertünchens oder verfremdeten Zitierens. Neuwirth hatte offensichtlich ein opus magnum zur Geschichte patriarchalischer Unterdrückung im Sinne, versucht alles zu erfassen und kriegt es dann doch nicht wirklich in die Form gebannt, derer sie sich bedient. Musikalisch breitet die Komponistin ihre Arme weit aus. Wendet sich all ihren Vorgängern vom Fach zu. Verwandelt sich Zitate an. Und macht doch etwas Eigenes daraus. So kommen barocke Koloraturen und Kirchenlieder, "O Tannenbaum" und Jazz, Punk und alles mögliche andere zu Ehren und in die Musik. Und ins englische Libretto.

Ob das damit weibliche Musik wird, die Frage stellt sich nicht. Bei den Kostümen zu dieser Inszenierung bzw. zu diesem Arrangement der Bilder durch Polly Graham könnte man freilich auf den Gedanken kommen. Entwürfe des japanischen Modelabels COMME des GARCONS stehen hier für Kostüme und Masken. Und dominieren mit phantasievoller Pracht die Optik auf der Bühne. Und bei einem Teil des Publikums, dem man sonst hier eher nicht begegnet. Auf der Bühne hat Roy Spahn ansonsten "nur" verschiebbare Wände für die anfangs hochästhetischen, dann ein Feuerwerk von Kriegs-, Zerstörungs- und Zeitgeistbildern abfackelnden Videos von Will Duke postiert. Das ist alles hochartifiziell, aber tendiert zum Selbstzweck. Die Musik bleibt durchgängig stark, ist in ihrer Aufgeregtheit wie ein Echo einer Welt, die offenbar für die Komponistin immer schwerer zu verstehen ist, so dass nur der Appell an den eigenen kreativen Widerstand bleibt.

Szenenfoto kommt später

Kate Lindsey hat sich die ihr Geschlecht wechselnde Titelpartie voll anverwandelt, obgleich die zwischen den Geschlechtern changierende Counterpartie Eric Jurenas als Guardian Angel obliegt, der sie überzeugend ausfüllt. In dem Riesenensemble profilieren sich Agneta Eichenholz als Sasha und Constance Hauman als Königin Elizabeth I., die obendrein ein echt royales Kostüm präsentiert. Mit markanter Präsenz prägt sich Leigh Melrose als Shelmerdin, den Orlando als Frau tatsächlich mal liebt und heiratet, ein. Eine besondere Bereicherung des Ensembles ist die New Yorker Trans-Performancekünstlerin Justin Vivian Bond. Als Orlandos Kind und als sie selbst.

Am Ende gab es viel Beifall. Mit ein paar Buhs für die Komponistin. Die Nagelprobe, ob Orlando wirklich funktioniert, steht noch bevor. Bei den Folgevorstellungen und bei der ersten Nachinszenierung.


FAZIT

Die Wiener Staatsoper hat alle ihre Ressourcen für die Uraufführung von Olga Neuwirths Orlando aufgeboten.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Matthias Pintscher

Inszenierung
Polly Graham

Bühne
Roy Spahn

Video
Will Duke

Kostüme
Comme des Garçons

Maske
Comme des Garçons
Stephen Jones

Haarkreationen
Julien D'ys

Licht
Ulrich Schneider

Chor
Thomas Lang
Stefano Ragusini
Svetlomir Zlatkov

Dramaturgie
Helga Utz

Live-Elektroniuk, Sounddesign
Markus Noisternig
Gilbert Nouno
Clément Cornuau
Olga Neuwirth



Band:
Lucas Niggli (Schlagzeug)
Stephan Först (E-Bass)
Edmund Kohldorfer (E-Gitarre)
Annemarie Herfurth (Synthesizer)
Martina Stückler (Altsaxophon)

Chor der Wiener Staatsoper

Orchester der Wiener Staatsoper


Solisten

Orlando
Kate Lindsey

Narrator
Anna Clementi

Queen/Purity/Friend of Orlando's
Constance Hauman

Guardian Angel
Eric Jurenas

Modesty
Margaret Plummer

Sasha/Chastity
Agneta Eichenholz

Shelmerdine/Greene
Leigh Melrose

Dryden
Marcus Pelz

Addison
Carlos Osuna

Duke
Wolfgang Bankl

Pope
Christian Miedl

Orlando's Child
Justin Vivian Bond

Putto
Emil Lang

Doctor 1
Wolfram Igor Derntl

Doctor 2
Hans Peter Kammerer

Doctor 3
Ayk Martirossian

Orlando's Girlfriend/ Leadsängerin
Katie La Folle

Leadsängerin
Ewelina Jurga

Two Actresses
Selina Ströbele
Antoanetta Kostadinova

Tutor
Andreas Patton

Russian Sailor
Felix Erdmann

Boat's Captain
Michael Stark

Children's Father
Tvrtko Stajcer

Officiant
Massimo Rizzo

Financée
Katharina Billerhart

Servant
Florian Glatt

Cameraman
Robert Angst



Weitere
Informationen

erhalten Sie von der
Wiener Staatsoper
(Homepage)



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