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Trionfo. Vier letzte Nächte  

Nach dem Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno
Libretto von Benedetto Pamphili
Musik von Georg Friedrich Händel
mit Texten von Martin Mutschler unter Verwendung des Anthems "Thou knowest, Lord, the secrets of our hearts"
für vierstimmigen Chor von Henry Purcell

In italienischer Sprache mit Texten auf Englisch, Niederländisch, Italienisch und Zulu mit deutschen Obertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden, 30  Minuten (keine Pause)

Premiere am 19. September 2020  in der Staatsoper Hannover
rezensierte Vorstellung: 9. Oktober 2020



Staatsoper Hannover
 (Homepage)

In inneren Kämpfen vom Dunkel zum Licht


Von Christoph Wurzel / Fotos von Sandra Thenr

Entstanden ist Händels Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, das die Staatsoper Hannover in dieser schwierigen Spielzeit unter strengen Coronamaßnahmen herausbrachte, ebenfalls in einer Notlage. Händel hatte bereits in Hamburg mit wechselndem Erfolg Opern komponiert, allerdings in der an der dortigen Gänsemarktoper lokaltypischen Mixtur aus Komik und Tragik und diversen Sprachen. In Italien wollte der junge Komponist die eigentlich moderne Musik seiner Zeit studieren, vor allem die italienische Form der Oper, die damals das stilbildende Modell war und in der er es in London später zu absoluter Meisterschaft gebracht hat. Als er 1707 knapp 22jährig in Rom eintrifft, herrscht dort aber ein striktes Opernverbot, denn der Papst hat infolge einer schweren Naturkatastrophe zwecks geistlicher Erbauung seiner Untertanen im Kirchenstaat für fünf Jahre jegliche Opernaufführungen verboten. So gelangt in diesem Opernlockdown das Oratorium zur Blüte, jene konzertante Großform mit vornehmlich religiöser Thematik für Gesangssolisten, Orchester und mitunter auch Chor. Da Händels Genie nach seiner Ankunft in Rom schnell offenbar wird, überschütten ihn die weltlichen wie geistlichen Würdenträger geradezu mit Aufträgen. Einer dieser Aufträge kommt von einem Kardinal, der für ein selbst verfasstes Oratorien-Libretto einen Komponisten sucht.

Aktueller hätte das Sujet in jener Zeit nicht sein können, denn der Text von Benedetto Pamphili ist eigentlich eine Predigt, ein Aufruf zur Umkehr. Vier allegorische Figuren streiten miteinander um den rechten Weg im Leben, wobei die Schönheit (Bellezza) am Schluss den Entschluss fasst, nicht mehr den Verlockungen oberflächlicher Freuden (Piacere) zu folgen, sondern den Mahnungen an die Vergänglichkeit alles Irdischen von Zeit (Tempo) und  Ernüchterung (Disinganno) zu vertrauen und sich dem Himmel zuzuwenden - ein mehr als zwei Stunden dauernder poetischer Diskurs in Wechselrede und metaphorischer Sprache. Der Text ist getreu der päpstlichen Anordnung vollkommen undramatisch, aber Händels Musik ist durch und durch Opernmusik. Perfekt hat er den italienischen Stil bereits verinnerlicht, 31 Nummern aus Rezitativen und Arien, mit denen die Affekte der Figuren musikalisch wirkungsvoll in Szene gesetzt werden.
Ein Grund, warum dieses Oratorium in den letzten Jahren mehrfach auf Opernbühnen zu sehen war.

In der Corona-Krise hat die Staatsoper Hannover dem Werk ganz neue Dimensionen abgewonnen. Nicht allgemeine religiöse Belehrung steht nun im Mittelpunkt, sondern das Verhalten, Denken und Fühlen von konkreten Menschen in einer jeweils persönlichen Krise. Die Allegorien haben nur noch ihre Initialen behalten und sind zu individuellen Personen geworden, die sich in "letzten Nächten" ihrer Lage bewusst werden und sich schließlich zu Entscheidungen über ihren weiteren Weg im Leben durchringen. In heftigen inneren Konflikten kämpfen sie sich zu ihrer jeweils persönlichen Wahrheit durch. War Belehrung von oben noch das Prinzip des beginnenden 18. Jahrhunderts, so werden nun Prozesse aufklärender Selbsterkenntnis durchlaufen, was das Stück in die Moderne holt.

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Nina van Essen (P.) und Sarah Brady (B.)

Dabei bleibt der ursprüngliche Text bei einigen Kürzungen in dieser Aufführung unangetastet. Der Hannoveraner Dramaturg Martin Mutschler hat den vier Figuren aber jeweils einen persönlichen Charakter zugeschrieben, die Regisseurin Elisabeth Stöppler und der Bühnen- und Kostümbildner Valentin Köhler haben deren Lebenssituation in dieser jeweils entscheidenden Nacht anschaulich mit Handlung ausgestattet. Leitend ist Händels emotional starke Musik geblieben, die vom Orchester auf der Hinterbühne gespielt wird. Davor erleben wir das Verhalten der vier Personen auf ihrem Weg der Entscheidung, wie sie leben wollen, welche Fragen sie sich stellen, von welchen Ängsten sie getrieben werden, welchen Träumen sie nachhängen. Das nötige inhaltliche Futter erhält das Publikum über kurze Monologe der Figuren, die anstelle der gestrichenen Rezitative den Figuren Persönlichkeit und Gesicht geben. Realismus gewinnt dies, indem die Sängerdarsteller sich darin in ihrer jeweiligen Muttersprache ausdrücken.

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Sunnyboy Dladla als T.

Sarah Brady ist B. Unzufrieden mit ihrer Situation möchte sie sich aus der Enge familiärer Verpflichtungen befreien. Auf dieser Suche nach Ichfindung und Selbstverwirklichung würde sie sogar in Kauf nehmen, ihr Kind zu verlassen: "Ich will gehen, später wirst du es verstehen", schreibt sie ihm in einem imaginären Brief. Ihre Arien im 1. Teil der Handlung sprechen dabei deutlich von Eitelkeit und übertriebener Selbstbezogenheit und spiegeln so ihre Worte in neuem Licht.

P. wird verkörpert von der holländischen Mezzosopranistin Nina van Essen. Angesichts geringer Lebenserwartung nach einer Krebsdiagnose zerreibt sich P. im Gefühlschaos zwischen Verzweiflung und Lebenshunger. Nur diese Seite kommt in ihren Arien zum Ausdruck, die andere will sie sich eigentlich nicht eingestehen, Energie bezieht sie aus der Verdrängung: "Weicht, bleiche Sorgen, schert euch fort!"

Der südafrikanische Tenor Sunnyboy Dladla verkörpert als T. einen Mann, der sich im falschen Körper wähnt. Der Widerspruch seiner sexuellen Identität zwischen Mann und Frau wird symbolisiert durch Gegenstände, die ihn umgeben, ein Motorrad und ein gelbes Ballkleid. In seiner Angst, dass während seiner Unentschiedenheit die Zeit verrinnt, betet er in der Sprache der Zulu zur Jungfrau Maria. In der Arie "Urne voi", beschwört er die in den Gräbern verschlossene Vergänglichkeit der Schönheit.

Der italienische Counter Nicholas Tamagna spielt den gescheiterten Dichter D., der nicht mehr weiß, wie er die Welt in Worte fassen soll. Von Gefühlen der Unzulänglichkeit und tiefer Einsamkeit beherrscht, zerreißt er verzweifelt seine Aufzeichnungen. Melancholisch erkennt er in seiner Arie "Crede l'uomo" die Wirkmacht der Zeit, deren Zerstörung er aber nicht ausweichen kann.

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Nicholas Tamagna als D.

Dem intensiven Spiel dieser vier Protagonisten entspricht ihre gleichermaßen starke vokale Präsenz. Als wunderbar homogenes Ensemble erfüllen sie alle die ungemein virtuosen Anforderungen in Händels Arien mit großem Atem, stimmlicher Agilität und schönem Klang. Unter der großartigen Leitung von David Bates hat sich das Niedersächsische Staatsorchester die barocke Musik exzellent anverwandelt. Es spielt federnd im Rhythmus und mit kernigem Klang. Dabei können die Instrumente noch mehr als nur puren Schönklang liefern, sie artikulieren bisweilen auch rau, matt oder bizarr, durchweg dramatisch je nach den Erfordernissen des Textes, in höchstem Maße beredt und farbig.

Dramaturgisch ist die Aufführung in drei Teile geteilt. Wenn sich die Figuren in ihren Auftrittsarien vorstellen, sehen wir eine vollkommen leere Bühne. In einer zweiten Szene erleben wir sie in ihrem privaten Umfeld, etwa P. in ihrem Krankenbett oder B. zwischen Bügelbrett und Küchenmöbeln. Wenn die Figuren sich im 2. Teil des Oratoriums beginnen umzuorientieren, verwandelt sich auch die Bühne. Futuristische Beleuchtung deutet eine neue Zeit an und auch eine neue Spiel-Ebene fährt aus dem Bühnenuntergrund empor. Am Ende vieler verschlungener Gedankengänge finden sich alle vier in der Arie "Lascia la spina, colle le rose" abwechselnd zu gemeinsamem Gesang, d.h. auf der gemeinsamen Basis, den wahren Kern ihres Lebens  erkannt zu haben. Dies wird zum Höhe- und Wendepunkt der Inszenierung, zugleich zum musikalischen Gipfel des Abends - zutiefst anrührend und befreiend. Nun können diese von Ängsten und Zweifeln geplagten Menschen ihren Weg gehen, die ihnen gemäße Lösung finden. T. nimmt seine Identität an, D. lässt ab vom fruchtlosen Suchen, P. nimmt ihr Leben wieder in die Hand.

Der ätherische Klang eines langen Orgelpunkts, den das Orchester fast wie einen Moment elektronischer Musik klingen lässt, leitet das glückliche Ende ein. Dieses ist der Arie "Tu del ciel ministro eletto" der Bellezza vorbehalten, eine der berückenden Larghetto-Arien in Händels Werk. Die Figur B. dieser Inszenierung beginnt damit nun ihren Weg zurück zu ihrem Kind und ihrer Familie. Ein hoffnungsvoller Schluss, der mit einem Epilog noch abgerundet wird. Aus den Foyers erklingt a capella vom Chor gesungen ein Anthem von Henry Purcell:   "Thou knowest, Lord, the secrets of our hearts" - doch noch eine Wendung ins Transzendentale am Schluss dieser in Hannover sonst ganz und gar weltlichen Handlung.

FAZIT

Bewundernswert geling es in der Inszenierung, das Oratorium Händels in unsere Zeit zu holen und es uns angesichts der belastenden Erfahrungen unter den Bedingungen der Pandemie als Parabel vom Sieg der Hoffnung über den Zweifel nahezubringen. Und auf der musikalischen Seite hätte man Händel auch nicht besser dienen können.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung    
David Bates

Inszenierung   
Elisabeth Stöppler

Bühne und Kostüme
Valentin Köhler

Licht
Elana Siberski

Chor   
Lorenzo Da Rio



Niedersächsisches Staatsorchester
Hannover

Chor der Staatsoper Hannover


Solisten

B.
Sarah Brady

T.
Sunnyboy Dladla

P.
Nina van Essen

D.
Nicholas Tamagna

 

Auf opervision.eu ist die Produktion
als Stream verfügbar.






 

Weitere Informationen
erhalten Sie von der

Staatsoper Hannover
(Homepage)





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