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"Zart"

Choreographien von Francesco Vecchione und Marguerite Donlon

Jurema
Ballett von Francesco Vecchione
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Frantz Casséus und Miguel Resende Bastos

Fragile
Ballett von Marguerite Donlon
Musik von Johann Sebastian Bach und Michio Woirgardt

Aufführungsdauer: ca. 1h 50' (keine Pause)

Premiere im Theater Hagen am 3. Oktober 2020


Logo: Theater Hagen

Theater Hagen
(Homepage)
Tanz in Zeiten der Krise

Von Thomas Molke / Fotos: © Oliver Look (Rechte Theater Hagen)

Noch immer hat Covid-19 die Welt fest im Griff und verhindert, dass auch im Theater der Spielbetrieb wieder so laufen kann, wie vor der Pandemie. Nachdem die Ballettdirektorin in Hagen, Marguerite Donlon, zu ihrer ursprünglich für Mai 2020 geplante Bearbeitung des Ballettklassikers Schwanensee einen Prolog entwickelt hatte, der im Juni eine erfolgreiche Premiere feiern konnte, hat sie nun weitere Möglichkeiten ausgelotet, mit ihren Tänzer*innen in Zeiten der Pandemie zu arbeiten. Gemeinsam mit Francesco Vecchione, den sie nach langer erfolgreicher Zusammenarbeit am Saarländischen Staatstheater und mit dem Donlon Dance Collective als Trainingsleiter und künstlerischen Assistenten mit nach Hagen gebracht hat, hat sie einen zweiteiligen Ballettabend unter dem Titel Zart kreiert, der die Tänzer*innen nicht nur in die Choreographien einbezieht, sondern sie auch im Programmheft als Co-Choreographen ausweist.

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Jurema: Tanz als Ritual (Ensemble)

Den Anfang macht eine Kreation von Vecchione mit dem geheimnisvollen Namen Jurema. Jurema ist zum einen eine heidnische Religion, die vor allem im Norden und Nordosten Brasiliens ausgeübt wird. Zum anderen handelt es sich um einen südamerikanischen Mimosenbaum, der  bereits den Azteken in präkolumbianischer Zeit bekannt war. Viele Indianer des östlichen Amazonasgebietes stellten aus der Wurzel dieser Bäume Tränke her, die Bewusstseinsänderungen und Visionen auslösten. Auch die Rinde des Baums wurde in pulverisierter Form von der brasilianischen Landbevölkerung als Hausmittel gegen Erschöpfung und Schwäche genutzt. Vecchione stellt nun in seiner Choreographie eine pagane Gesellschaft einer Zivilisation gegenüber, die sich scheinbar durch den Genuss des Juremakrautes in eine surreale Welt begibt. Bereits während das Publikum in den Saal kommt, betritt Jeong Min Kim mit einer weißen Perücke die Bühne und setzt sich zwischen vereinzelte an der Rampe aufgestellte Pflanzen, die jeweils isoliert aus einem kleinen Hügel erwachsen. Geheimnisvoll schweift ihr Blick dabei im Zuschauerraum umher. Wenn das Licht verlöscht, beginnt Kim leise zu singen. Diese asiatische Weise klingt sehr exotisch und unterstreicht den geheimnisvollen Charakter der Choreographie. Federica Mento taucht aus dem Hintergrund auf und vollzieht Rituale, die an heidnische Bräuche erinnern.

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Jurema: Verwandlung (Jeong Min Kim)

Dann dreht sich die Bühne und gibt den Blick auf einen Raum frei, in dem sich fünf Personen befinden. Die Musik wechselt zu Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 in C-Dur. Wir sind scheinbar in einer "westlichen" Welt angekommen. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich zu Mozarts Klängen sehr surreal. Teilweise erwecken sie den Eindruck, dass sich Teile ihres Körpers selbständig machen und unkontrolliert zur Musik bewegen. Zwei Männer spielen an einem langen Tisch Karten, ein anderer Mann bereitet an einem Teewagen Getränke vor, eine Frau liest Zeitung, eine andere scheint mit dem Gedanken zu spielen, sich an ihrer Krawatte zu erhängen. Mozarts ruhiges "Andante" wird zwischenzeitlich von surrealen Klängen unterbrochen, die Miguel Resende Bastos für diese Uraufführung komponiert hat und die die Tänzer*innen in ihren Bewegungen stoppen und aus dem Gleichgewicht bringen. Besonders deutlich wird das an einer Stelle, wenn ein Tänzer dem anderen Tänzer ein Tablett mit einer Tasse scheinbar versehentlich aus der Hand schlägt und die Szene für einen kleinen Moment einfriert. Rätsel gibt auch eine weitere Frau auf, die wie eine Göttin den Raum betritt und an einem Spiegel auf der rechten Seite Platz nimmt. Aus einem Bild auf der rechten Hand erscheint plötzlich eine Hand, und im Spiegel sieht man Jeong Min Kim aus der ersten Szene.

Es folgt eine Art heidnischer Ritualtanz. Der Schluss gehört dann wieder Jeong Min Kim und Federica Mento, die eine Art Metamorphose vollziehen. Kim legt die weiße Perücke und ihr Kostüm ab. Auf ihrem Körper sieht man die Maserung einer Baumes - soll es der Jurema-Baum sein? Auch Mento zieht ihr Kostüm aus und folgt Kims Bewegungen. Im Gegensatz zu Kim scheint sie sich allerdings in eine Art Muttergottheit zu verwandeln. Sie legt den weißen Boden wie eine Art Gewand um ihren Unterkörper, während Kim unter dem weißen Boden verschwindet. Selbst beim Schlussapplaus bleiben die Tänzer*innen noch in ihren Rollen und verbeugen sich so, wie sie sich als Figur in der Choreographie präsentiert haben.

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Fragile: Tanz auf Scherben (von links: Federica Mento, Antonio Moio, Ciro Iorio, Ambre Twardowski und Gennaro Chianese)

Der zweite Teil des Abends ist weniger abstrakt und macht bereits im Titel Fragile deutlich, worum es geht: Zerbrechlichkeit. Donlon zeigt die Ängste, die die Covid-19-Pandemie in den Menschen geschürt hat, und formuliert selbst in einem Gespräch über ihre Inszenierung, dass sie persönlich das Gefühl habe, in der momentanen Situationen auf Eierschalen zu laufen, da man sich aus Angst vor der Infektion ganz anders bewege. Deshalb hat sie einen Raum voller Glasscherben entworfen, bei dem die Tänzer*innen genau überlegen müssen, wohin sie sich bewegen. Immer wieder versuchen sie, die Scherben zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Damit schaffen sie sich kleine Inseln, auf denen sie zu Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen geschmeidige und wunderbar synchrone Bewegungen durchführen. Die Variationen werden live von Uroš Ugarcović am Klavier begleitet. Dabei steht das Klavier auf der linken Seite der Bühne und ist ebenfalls von Scherben umgeben. Michio Woirgardt hat als Auftragskomposition eine Klang-Collage erstellt, die Bachs Harmonien immer wieder unterbricht. Wenn die Tänzer*innen gerade ein Gefühl von Sicherheit gewinnen, wird durch eine neue Katastrophe wieder alles zerstört. Weiteres Glas zerbricht. Die Scherben auf der Bühne nehmen überhand und sind einfach nicht in den Griff zu kriegen.

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Fragile: Versuch einer Annäherung (Ambre Twardowski und Dario Rigaglia, im Hintergrund am Klavier: Uroš Ugarković)

Neben dieser verzweifelten Grundsituation erzählt Donlons Choreographie auch Einzelschicksale. So wird beispielsweise Dario Rigaglia von den Scherben komplett bedeckt und muss sich langsam seinen Weg ins Leben zurück kämpfen. Die anderen beäugen ihn dabei kritisch. Man hat Angst voreinander. Berührungen sind nur durch das Glas möglich. Nur mit viel Kraft und Willen kann Rigaglia die Scherben ablegen und langsam wieder zu geschmeidigen tänzerischen Bewegungen zurückfinden. Dabei ist erstaunlich, wie sein Körper sich in den Bewegungen unkontrolliert zu verselbständigen scheint. Auch die übrigen sechs Tänzer*innen verdienen großes Lob, wie sie auf dieser durch Scherben bedeckten Bühne einen Weg zu geschmeidigen Bewegungen zu Bachs Musik finden. Der Schluss gehört Ambre Twardowski und Dario Rigaglia, die in einem bewegenden Pas de deux versuchen, zueinander zu finden. Aber auch das scheint in der momentanen Situation unmöglich. Twardowski kauert sich an die Bühnenrampe auf der linken Seite, während Rigaglia verloren inmitten der Scherben zurückbleibt. Der Vorhang senkt sich, und das Licht verlöscht. Das Publikum ist sichtlich angetan von diesem bewegenden Abend und spendet begeisterten Beifall. Donlon bedankt sich bei ihren Tänzer*innen mit Rosen, die sie wegen der Abstandsregeln nicht persönlich überreicht, sondern in einem Behälter auf die Bühne stellt.

FAZIT

Marguerite Donlon und Francesco Vecchione reagieren in sehr eindrucksvollen Bildern auf die momentane Corona-Krise und entwickeln zwei Choreographien, die unter die Haut gehen.



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Produktionsteam

Jurema

Konzept, Choreographie und Ausstattung
Francesco Vecchione

Licht
Ernst Schießl

 

Tänzerinnen und Tänzer

Filipa Amorim
Gennaro Chianese
Alexandre Démont
Ciro Iorio
Jeong Min Kim
Noemie Emanuela Martone
Federica Mento
Bojan Micev
Antonio Moio
Amber Neumann
Sara Peña
Dario Rigaglia
Ambre Twardowski
Suzanne Vis

 

Fragile

Konzept, Choreographie und Bühne
Marguerite Donlon

Bühnenrealisierung und Kostüme
Soojin Oh

Licht
Ernst Schießl

Klavier
Uroš Ugarković

 

Tänzerinnen und Tänzer

*Premierenbesetzung

*Gennaro Chianese
*Ciro Iorio
*Jeong Min Kim
*Federica Mento
*Bojan Micev
Antonio Moio
*Dario Rigaglia
*Ambre Twardowski
Suzanne Vis


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Hagen
(Homepage)




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