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Sehnsucht

Ein barockes Pasticcio
mit Auszügen aus Werken von Riccardo Broschi, Georg Friedrich Händel, Claudio Monteverdi, Nicola Antonio Porpora,
Henry Purcell und Alfred Schnittke

in italienischer und englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1h 20' (keine Pause)

Premiere  im Opernhaus Dortmund am 9. Oktober 2021




Theater Dortmund
(Homepage)
Ein Mann erinnert sich

Von Thomas Molke / Fotos von Björn Hickmann (© Stage Picture)

Pasticci waren zur Zeit des Barock ein weit verbreitetes Phänomen. Statt ständig neue Musik zu komponieren, setzte man auch gerne bereits bestehende Arien zu einem neuen Werk zusammen. Dabei musste es sich bei den eingefügten Stücken noch nicht einmal um eigene Kompositionen handeln. In Dortmund hatte man bereits in der vergangenen Spielzeit ein solches barockes Pasticcio geplant, weil man aufgrund der Corona-Beschränkungen die Spielzeit mehr oder weniger mit pausenlosen Stücken in relativ kleiner Besetzung zu realisieren hoffte. Im November 2020 sollte Sehnsucht mit Auszügen aus Werken von Händel und anderen Barockgrößen Premiere feiern. Doch der zweite Lockdown machte die Pläne zunichte. Mitten in den Endproben musste das Projekt abgebrochen werden. Nun kann man wieder spielen und ist bemüht, fast alles nachzuholen, was aufgrund der langen Schließung der Oper auf der Strecke geblieben ist, und so feiert nun auch das von Andreas Rosar zusammengestellte Pasticcio Premiere. Endlich, möchte man sagen und leider vor viel zu wenig Publikum. Denn was in Dortmund entstanden ist, dürfte die Barockfans mehr begeistern als zahlreiche Modernisierungen von bekannten Barockopern.

Rosar hat die musikalischen Auszüge in eine Geschichte eingebettet. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es keine verbindenden Rezitative gibt, die die Handlung vorantreiben. Stattdessen werden die Barockperlen direkt aneinandergehängt, so dass man mit 80 Minuten Spielzeit ohne Pause auskommt. Zu Beginn sieht man einen Mann (David DQ Lee) in einem karg ausgestatteten Raum (Bühnenbild: Dina Nur). Er schwelgt in Erinnerungen, worüber er nicht allzu glücklich zu sein scheint, was sein Alkoholkonsum und sein leicht heruntergekommenes Aussehen dokumentieren. Nachdem er die Fische in einem Aquarium auf der rechten Seite der Bühne gefüttert hat, holt er einen kleinen elektrischen Tannenbaum hervor. Nun beginnt die Musik und die Erinnerung. Den Anfang macht kein barocker Komponist sondern das Allegro aus Alfred Schnittkes Concerto Grosso Nr. 3. Während der Beginn dabei eine tonale Reminiszenz an die Barockmusik darstellt und vielleicht die Erinnerung an ein schönes Weihnachtsfest bei dem Mann einleitet, wird die Musik sehr schnell atonal. Der Mann krümmt sich auf dem Sofa auf der linken Bühnenseite und scheint mit den Erinnerungen auch die Schattenseiten der Vergangenheit wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Die Bühne wird herabgefahren und zeigt den gleichen Raum, allerdings in viel größeren Ausmaßen. Eine Hochzeit scheint vorbereitet zu werden. Der Mann ist dabei wohl der Bräutigam und wird nun von Bruno de Sá dargestellt. Die Braut (Sooyeon Lee) steht mit dem Rücken zum Publikum und hält stolz ihren Ring nach oben. Die Erinnerung an das Gesicht der Braut mag bei dem Mann also zunächst verblasst sein. Hyona Kim und Denis Velev stellen die stolzen Eltern des Bräutigams dar. Mit dem Chor der Priester, "Lucky omens, bless our rites", aus Händels Oratorium Semele feiert die Familie die bevorstehende Hochzeit. Doch sie findet genauso wenig statt wie bei Händel. Der Bräutigam wirft den Ring zu Boden und ruft damit einen Eklat hervor. Während die Eltern und die Braut das Verhalten nicht nachvollziehen können und eine Antwort verlangen ("Why dost thou untimely grieve" aus Händels Semele), versichert die Braut ihre unerschütterliche Liebe ("Tornami a vagheggiar" aus Händels Alcina). Sooyeon Lee begeistert dabei mit strahlenden Höhen und perlenden Koloraturen. DQ Lee zeigt während dieser Arie überzeugend das schlechte Gewissen des Mannes, weil er die Braut damals im Stich gelassen hat.

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Weihnachten in der Familie: die Mutter (Hyona Kim) und der Sohn (Bruno de Sá)

Nun geht es weiter in die Vergangenheit des Mannes zurück. Es ist ein Weihnachtsabend, bei dem der junge Mann (Bruno de Sá) von seinen Eltern mit zahlreichen Geschenken überhäuft wird. Im Zentrum steht ein großes Terrarium. Doch der junge Mann hat ganz andere Probleme als die familiäre Idylle zu genießen. Er fühlt sich wie ein Schiff auf unruhiger See, das nicht weiß, wohin der Sturm es führen wird. Es folgt eine relativ bekannte Arie, "Son qual nave ch'agitata", aus einem weniger bekannten Werk (Artaserse) von einem ebenso eher unbekannten Komponisten (Riccardo Broschi). Mehrere überdimensionale Papierschiffe auf der Bühne deuten an, dass der junge Mann noch nicht weiß, wohin sein Weg gehen wird. Bruno de Sá ist zum Nachwuchssänger des Jahres 2020 gekürt worden, und wenn man ihn hört, versteht man sofort warum. Sein Stimmfach wird als Sopranist bezeichnet und unterscheidet sich in der Höhe von einem Countertenor. Die Höhen sind bei ihm so klar und feminin, dass man wirklich nicht mehr hören kann, dass hier ein Mann singt. Dabei besitzt de Sá eine derartige Durchschlagskraft und großartige Flexibilität in den Bögen, dass das Publikum im Opernhaus nach dieser Präsentation regelrecht vor Begeisterung tobt.

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Die Idylle bröckelt: Vater (Denis Velev, rechts) und Sohn (Bruno de Sá, links).

Doch die Eltern scheinen diese Begeisterung nicht zu teilen. Der riesige Weihnachtsbaum im Hintergrund der Bühne wird vom Vater umgestoßen und anschließend mit der Spitze nach unten in den Schnürboden emporgezogen, was eine Anspielung auf eine "verkehrte Welt" sein mag. Die Mutter äußert ihren Missmut und ihr Unverständnis in der großen Rachearie Sestos aus Händels Giulio Cesare in Egitto, in der dieser plant, Tolomeo für den Mord an seinem Vater zu töten. Auch der Vater zeigt sich ungehalten und will seinen Sohn von dem scheinbaren Wahnsinn befreien ("Sorge infausta una procella" aus Händels Orlando). Bei diesen Erinnerungen kann DQ Lee wirklich nur noch weinen ("O let me weep!" aus Purcells The Fairy Queen). Hyona Kim punktet mit dunkel gefärbtem Mezzosopran. Denis Velev stattet den Vater mit sonorem Bass aus. David DQ Lee verfügt als Mann, der in die Vergangenheit blickt, über einen weichen Countertenor.

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Auf der Suche nach der eigenen Identität: der junge Mann (Bruno de Sá)

Die Suche des jungen Mannes nach seiner eigenen Identität geht weiter. Dazu wird zunächst die Arie des sterbenden Aci aus Händels Aci, Galatea e Polifemo, "Verso già l'alma", ausgewählt. Bruno de Sá tritt in einem ausladenden blauen Mantel auf, der ihn wie ein Korsett einzuschnüren scheint. Als er sich daraus schließlich befreit, trägt er ein hautfarbenes Kostüm, das andeutet, dass er seine wahre Identität noch nicht gefunden hat. Auch von diesem Kostüm befreit er sich in einem großen Kampf ("In braccio a mille furie" aus Porporas Semiramide riconosciuta), um sich in Gestalt einer Holzpuppe in das Terrarium vom Anfang zu legen und aus der Welt gewissermaßen abzutauchen ("Parto, ti lascio, o cara" aus Porporas Germanico in Germania). All das wird von de Sá mit intensivem Spiel und stimmlicher Brillanz umgesetzt. Dazwischen hört man die verzweifelte Braut, die mit Cleopatras berühmter Arie, "Piangerò, la sorte mia",  aus Händels Oper ihr Schicksal beweint. Um diese Erinnerungen kreisen die Gedanken des Mannes, wenn die Bühne wieder hochgefahren wird und er sein Weihnachtsfest in großer Einsamkeit feiert. Der Abend endet mit Auszügen aus Monteverdis L'incoronazione di Poppea. DQ Lee bedauert mit der Arie des Ottone, "E pur io torno", dass er die Braut verloren hat. Mit einem der berührendsten Liebesduette der Opernliteratur, "Pur ti miro" endet der Abend. Die Braut und der Mann finden aber anders als Nerone und Poppea dabei nicht zueinander. DQ Lee befindet sich auf der Unterbühne, während die Braut eine Ebene darüber steht und sie räumlich getrennt dieses traumhafte Duett anstimmen. Währenddessen sieht man im Hintergrund Flammen lodern. Der Mann hat wohl seine Wohnung in Brand gesteckt und es ist zu vermuten, dass er diesen Weihnachtsabend nicht überleben wird.

FAZIT

Die Oper Dortmund zeigt, wie man mit barocker Musik eine moderne Geschichte erzählen kann, ohne dabei eine vorhandene Oper aktualisieren oder gegen den Strich bürsten zu müssen. Musikalisch ist der Abend ein absolutes Muss für jeden Barockfan.

 

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Philipp Armbruster

Regie
Andreas Rosar

Bühne
Dina Nur

Kostüme
Alexander Djurkov Hotter

Lichtdesign
Stefan Schmidt

Dramaturgie
Merle Fahrholz
Laura Knoll

 

Mitglieder der Dortmunder Philharmoniker

 

Solisten

*Premierenbesetzung

Sopran
Sooyeon Lee

Mezzosopran
Hyona Kim

Sopranist / Countertenor
*Bruno de Sá /
Etienne Walch

Countertenor
David DQ Lee

Bass
Denis Velev

 


Weitere
Informationen

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Theater Dortmund
(Homepage)



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