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Musiktheater
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Die Verurteilung des Lucullus

Oper in zwölf Szenen
Text von Bertolt Brecht nach seinem Radiostück Das Verhör des Lukullus
Musik von Paul Dessau

in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1h 25' (keine Pause)

Premiere in der Staatsoper Stuttgart am 1. November 2021

 



Staatsoper Stuttgart
(Homepage)

Totengericht als pralles Opernspektakel

Von Christoph Wurzel / Fotos: © Martin Sigmund

Der große Lukullus ist gestorben - ein bedeutender Feldherr Roms, der viele Länder eroberte, Könige stürzte, Völker unterwarf und eine Menge Gold nach Rom brachte. Nun wird im Schattenreich seine Lebensleistung geprüft. Lucullus prahlt mit seinen Kriegstaten, die Schöffen des Totengerichts dagegen, die kleinen Leute Roms, schauen auf den Nutzen dieser Taten für die Menschen und wägen die "Spesen", wie Brecht es schon in seinem Gedicht den lesenden Arbeiter fragen ließ. Lucullus schneidet dabei schlecht ab. Seine Kriege schufen Versklavung, Raub, Vergewaltigung, Zerstörung und Tod. Auf der Seite der Wohltaten zählen nur schmackhafte Rezepte und der importierte Kirschbaum. Aber dafür hätte es nicht tausender Soldaten bedurft.

Vor den Nazis nach Schweden geflüchtet, hatte Brecht diesen Plot bereits 1939 als Verhör des Lucullus zu einem Hörspiel verarbeitet, angesichts des beginnenden Krieges  mit offenem Ende. Nach Krieg und Exil ging der Dichter über mehrere Umwege bekanntlich endgültig nach Ostberlin wie auch der ebenfalls aus dem amerikanischen Exil kommende Paul Dessau. Nach erprobter Zusammenarbeit in Amerika entstand dort für die Staatsoper (Ost) aus dem Hörspiel die Oper Verurteilung des Lukullus. Nun wird am Schluss der Feldherr dezidiert verdammt und überhaupt alle Kriege.

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Im Wartestand: Lucullus (links: Gerhard Siegel) vor dem Totengericht

Brecht und Dessau mussten ihre Oper vor der Uraufführung der DDR-Kulturbürokratie zur Genehmigung vorlegen (so frei war die Kunst im sogenannten antifaschistisch-demokratischen Deutschland eben nicht) - und ernteten prompt Widerstand. Brecht musste seinen pazifistischen Text verwässern und nach dem Sieg des Bruderstaates Sowjetunion über Nazi-Deutschland den Verteidigungskrieg gutheißen. Dessaus Musik verursachte beim ZK-Sekretär für Kultur "direkt Ohrenschmerzen". Der an der damaligen musikalischen Avantgarde - Schönberg ebenso wie Strawinski - geschulte Komponist fiel damit unter das vernichtende Verdikt des "Formalismus". Das stalinistische Dogma von der Volkstümlichkeit und der positiven Vorbildfunktion der Künste war in der DDR ungebrochen übernommen worden. Dessaus Musik lief dem schlichten Geschmack, dem sozialistischen Biedermeier der SED-Apparatschicks zuwider. Was für Schostakowitsch mit seiner Lady Macbeth in den 30ger Jahren der Sowjetunion fast eine Tragödie bedeutet hätte, drohte sich für Paul Dessau zu wiederholen. Vielleicht nur weil der DDR-Staat noch nicht so gefestigt war, endete die Lucullus-Debatte aber nur als Farce.

Vor der öffentlichen Uraufführung sollte bei einer Voraufführung vor geladenen, linientreuen Gästen die Publikumswirkung der Oper getestet werden. Aber, Ironie der Geschichte, diese fiel triumphal aus, wohl weil viele der Parteigenossen  ihre Karten an wirklich interessierte, junge Opernfreunde weitergegeben hatten, die Dessaus Musik richtig verstanden. Zähneknirschend genehmigte die Partei die Uraufführung im März 1951 in Ost-Berlin, aber nach zehn Aufführungen wurde die Oper abgesetzt und blieb bis zum kulturpolitischen "Tauwetter" in der DDR verboten. Ein Jahr nach dem Tod des zum Staatsdichter erklären Brecht konnte sie wieder aufgeführt werden. Allein viermal inszenierte seitdem Ruth Berghaus, die Ehefrau Dessaus, das nun rehabilitierte Werk an der Staatsoper.  In Westdeutschland dagegen hat es in siebzig Jahren nicht einmal zehn Produktionen gegeben. Legendär wurde allerdings die Inszenierung am Piccolo teatro in Mailand durch Giorgio Strehler, für die sich Luigi Nono stark gemacht hatte. Nach 23 Jahren ist die Stuttgarter Produktion nun so etwas wie eine Neuentdeckung.

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"Auf den Nutzen eines Menschen geben sie das meiste": Die alte Frau (links: Cheryl Studer) und Lucullus (stehend: Gerhard Siegel), dazwischen Ulrich Schlumberger (Akkordeon)

Wie Nono hat auch Paul Dessau dezidiert mit seiner Musik als Sozialist Stellung bezogen, dies allerdings ohne jeden Dogmatismus, sondern experimentell und originell, ebenso knallig aggressiv wie wunderbar berührend. Im Lucullus fährt Dessau seine ganze Kunst der musikalischen Dialektik auf. Lucullus, natürlich ein Heldentenor, beschwert sich in einer lautstarken Arie, weil er auf sein Verhör warten muss. Dabei schraubt er die Stimme unter ständigem Druck in höchste Höhen, so angestrengt und fast ohne Atem, dass man wünscht, er käme endlich herunter von seinem Ross. Man schwankt zwischen Bewunderung und Mitleid mit Gerhard Siegel, der dieser Rolle großartiges Format gibt. Denkbar größter Kontrast: der Gesang der alten Tertullia, einer bescheidenen Frau aus dem einfachen Volk, die geduldig auf ihr Verhör vor dem Totengericht wartet. Die einst große Diva Cheryl Studer wurde für diese Rolle gewonnen. Mit leiser, ganz klein gewordener Stimme, rezitativisch schlicht und instrumental nur karg begleitet belehrt sie den protzenden Feldherrn, das Gericht gebe am meisten darauf, wenn einer seinen Mitmenschen genützt hat.

Bernhard Kontarsky, mit Mitte Achtzig der Grand Old Man der Interpretation Neuer Musik, holt mit dem Staatsorchester alles heraus, was Dessaus Partitur an großartigen Effekten zu bieten hat. Im Rundfunkmitschnitt der Voraufführung in Berlin klingt die Musik unter der Leitung des ansonsten um Neue Musik höchst verdienstvollen Hermann Scherchen recht akademisch, trocken und eher abweisend. Unter Kontarsky wurde sie quicklebendig, bunt und ungeheuer sinnlich.

Das liegt auch an der grandiosen Instrumentation, die Kontarsky exzellent ausreizt. Dessau sieht ein ganz spezielles Orchester vor: nur tiefe Streicher, außer Flöten einen massiven Blechbläserapparat, allein 10 Musiker an verschiedenen Schlagwerken, zwei präparierte Klaviere, ein Akkordeon, das hier auf der Bühne präsent ist und das Trautonium, das 1930 erfundene erste elektronische Musikinstrument, das heulend, jaulend und in extremen Regionen der Musik eine verfremdend fetzige Note gibt. Ein ganzes Arsenal von musikalischen Formen fährt Dessau auf - einen pompösen, ins Schräge abkippenden Trauermarsch gleich in der 1. Szene, Operetten-Tingeltangel, aber auch eine virtuose Koloraturarie der fremden Königin (großartig: Alina Adamski) oder das Lamento einer Mutter, deren Sohn im Krieg gefallen ist. Diese Szene, ganz lyrisch nur vom Cello und einer Flöte begleitet, wurde durch Maria Teresa Ullrich zum berührenden Höhepunkt der ganzen Aufführung.

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Trauerzug für Lucullus: Ensemble

Ansonsten gönnt das Theaterkollektiv HAUEN UND STECHEN (schon in der Namensgebung nicht zimperlich) dem Ensemble nur wenig Ruhe, aber dem Publikum auch nicht. Der Einfallsreichtum ist überbordend, schier überfordernd, bis man sich entschließt, nicht jedes Detail wahrnehmen oder gar verstehen zu müssen. Aktionen, Kostüme, Bühnenbilder  floaten rasant durch Raum und Zeit. Auf wechselnden Flächen flimmern Filmschnipsel von Aufmärschen, Denkmalstürzen oder Kriegsereignissen vorbei, die Live-Kamera schickt raus, was backstage passiert und auf der Bühne selbst wuselt es nur so von Darstellern, Chormitgliedern oder Statisten. Allerdings ist alles kreativ, geistreich und meist mit viel Ironie, so wie das Klagegeheul  des Volks gleich zu Beginn, das vom Chor durch die geöffneten Türen aus dem Foyer in den Saal schwappt und im 1. Bild in den pompösen Trauerzug auf der Bühne mündet. Das geht so bis hin zum Schlussgag mit der Weltraumfähre, mittels der Lucullus ins Nichts befördert wird.

Derart starke, anstrengende, aber durchaus vergnügliche Bebilderung eröffnet allerdings auch weiten Raum für Assoziationen und konterkariert auf angenehme Weise die mitunter penetrant lehrhafte Tendenz von Bertolt Brechts Text - und ist wiederum doch auch in seinem Sinn: Erkenntnis soll eben auch Genuss bereiten.

Orchester, Chöre und Ensemble waren jedenfalls spürbar mit Begeisterung am Werk. Alle trugen neben den genannten Solistinnen und Solisten auch in kleineren Rollen zu einer großartigen Ensembleleistung bei, was immer wieder gerade die besondere Qualität der Stuttgarter Staatsoper ausmacht.

FAZIT

Gleichermaßen sinnlich wie intellektuell ein großes Vergnügen! Stuttgart hat mit Lucullus eine tolle Oper wieder ans Licht geholt. Verwunderlich, wenn sie nicht bald häufiger auf den Bühnen auftauchen würde. Die begeisterte Aufnahme durch das Stuttgarter Publikum spräche dafür.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Bernhard Kontarsky

Inszenierung
Konzept:
HAUEN UND STECHEN

Regie:
Franziska Kronfoth
Julia Lwowski


Bühne
Christina Schmitt

Kostüme
Yassu Yabara

Video und Live-Kamera
Martin Mallon

Licht
Benedikt Zehm

Dramaturgie
Miron Hakenbeck
Julia Schmitt


Chor
Manuel Pujol

Kinderchor
Bernhard Moncado

 

Staatsopernchor Stuttgart

Solistinnen des Kinderchors
und Kinderchor der Staatsoper
Stuttgart

Statisterie der Staatsoper Stuttgart

Staatsorchester Stuttgart


Solisten

Lucullus
Gerhard Siegel

Der König
Friedemann Röhlig

Die Königin / Erste Ausruferin
Alina Adamski

Erster Legionär
Jorge Ruvalcaba

Zweiter Legionär
Gerard Farreras

Lasus, Koch des Lucullus
Torsten Hofmann

Der Kirschbaumträger
Elliott Carlton Hines

Das Fischweib
Maria Theresa Ullrich

Die Kurtisane
Deborah Saffery

Der Lehrer
Philipp Nicklaus

Der Bäcker
Heinz Göhrig

Der Bauer
Jasper Leever

Tertullia, eine alte Frau
Cheryl Studer

Zweite Ausruferin
Laia Vallés

Dritte Ausruferin
Clare Tunney

Der Totenrichter
Simon Bailey

Sprecher des Totengerichts
Thorbjörn Björnsson

Eine kommentierende Frauenstimme
Gina-Lisa Maiwald

Trautonium
Peter Pichler

Akkordeon
Ulrich Schlumberger


Weitere
Informationen

erhalten Sie vom
Staatsoper Stuttgart
(Homepage)



Da capo al Fine

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