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Dogville

Oper in 18 Szenen
Libretto nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier
Musik von Gordon Kampe


in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Aufführungsdauer: ca. 2h (keine Pause)

Uraufführung im Aalto-Theater Essen am 11. März 2023
(rezensierte Aufführung: 15. März 2023)


Logo:  Theater Essen

Theater Essen
(Homepage)
Keine Gnade für die Menschheit

Von Stefan Schmöe / Fotos von Matthias Jung

Der Name ist Programm: Grace, also "Anmut", aber eben auch "Gnade", heißt die junge Frau, die auf der Flucht vor Gangstern Schutz im abgelegenen Bergdorf Dogville sucht. Die zunächst mit kleinen Gefälligkeiten das Wohlwollen der Dorfgemeinschaft gewinnen möchte. Was aber mit Gesten der Hilfsbereitschaft beginnt, entwickelt sich schnell zu einem perfiden System von Ausbeutung und Demütigung, spätestens als die Polizei nach ihr zu suchen beginnt, und endet mit systematischen Vergewaltigungen als vermeintlich gerechtfertigte "Entlohnung". So wird Grace zur Gefangenen des Dorfes. Und doch scheint sie bereit, ihren Peinigern zu vergeben, zeigt sogar Verständnis für deren Nöte. Und auch der Name des einzigen Mannes, der sie von Beginn an unterstützt (da gibt es auch eine zaghafte Liebesbeziehung), klingt schwer symbolbeladen: Tom Edison heißt er, wie der Erfinder und Pionier der Elektrifizierung, wobei sich der Tom Edison aus Dogville vor allem als moralische Instanz des Dorfes inszeniert, und der Grace am Ende den Gangstern zum furiosen Showdown ausliefert.

Vergrößerung in neuem Fenster Aus dem Nichts taucht Grace in Dogville auf, von Gangstern (und später auch von der Polizei) verfolgt.

Die Oper von Gordon Kampe, geboren 1976 im nicht weit von Essen entfernten Herne, war bereits im Entstehungsprozess eng verzahnt mit der Regie von David Hermann, die den Leidensweg dieser Grace wie einen Kreuzweg anlegt, schon optisch ein Stationendrama: Die Bühne von Jo Schramm zeigt eine Art aufsteigenden Tunnel, den Grace durchwandert, von Raum zu Raum in diesem eher schematisch angedeuteten als bildlich ausformulierten Dogville. Da kann derselbe Raum auch gleich zweimal zu sehen sein, sozusagen einmal in der Vergangenheit und einmal in der Zukunft, und das gibt der Geschichte eine klare Richtung entsprechend ihrer linearen narrativen Struktur. Die zurückhaltende und unpathetische, aber ungemein genaue Personenregie gibt sich wohltuend sachlich und überlässt es weitgehend der Musik, die Akzente zu setzen.

Formal ist die Oper Dogville damit ausgesprochen konventionell angelegt: Eine griffige, emotionale Geschichte wird ohne Umschweife erzählt, und das ausgesprochen spannend. Die Vorlage liefert der gleichnamige Spielfilm von Lars von Trier aus dem Jahr 2003 (den Stoff hatte der seinerzeitige Essener Intendant Hein Mulders vorgeschlagen), dessen Drehbuch Kampe in Zusammenarbeit mit dem Regisseur und dem Dramaturgen Christian Schröder zum (englischsprachigen) Libretto gekürzt hat. Von Triers ästhetischer Clou bestand darin, in einem radikalen Antillusionismus auf fast jede Kulisse zu verzichten und den Film auf einer Art Probebühne mit Kreidezeichnungen, mit denen Häuser und Straßen in Dogville lediglich angedeutet sind, zu drehen - ein Effekt, der bei der Übertragung auf die Theaterbühne (wo das Publikum ohnehin an leere Räume gewöhnt ist) natürlich verloren geht. Die konfliktreiche Story indes beweist immense opernhafte Qualitäten, die der Musik viel Raum geben - gerade dort, wo durch die Straffung (die Oper ist rund eine Stunde kürzer als der fast dreistündige Film) die argumentative Ebene durch eine emotionale ersetzt wird.

Szenenfoto

Die Gunst der Dorfbewohner will erarbeitet sein: Tom Edison überzeugt die Gemeinschaft, Grace in Dogville zu verstecken - sie wird sich durch Gelegenheitsarbeiten gefällig zeigen.

Auch im musikalischen espressivo der Tonsprache ist Dogville zumindest vordergründig konventionell, ja beinahe romantisch angelegt, aber nie anbiedernd. Kampe komponiert Klangflächen und -bilder, die genial in ein paar Takten die Stimmung umreißen und jeder der 18 Szenen eine eigene Farbe verleihen. Immer wieder schaffen tonale Akkorde eine Verbindung zu Hörgewohnheiten, und damit verortet sich die Musik in einer Tradition, die auf die unmittelbare emotionale Wirkung des Musiktheaters setzt. Wenn man so will: Dogville steht eher in der Tradition eines Schockers wie Salome als in der ironischen Brechung der Zeitoper wie Hindemiths Neues vom Tage, wo man Kampe, man denke an die bei der Ruhrtriennale 2019 gezeigte Gefährliche Operette, bei seiner ersten ganz großen Arbeit für das Musiktheater eher verortet hätte. Den doppelten Boden hört man allerdings in vielen Details, die mitunter gleich der musikalischen Unterlegung eines Zeichentrickfilms bis in einzelne Gesten hinein das Bühnengeschehen kommentieren. Unter dem akustischen Mikroskop hört man allerlei Boshaftigkeiten, und dass der betörende Klang einer Celesta bei Kampe nichts Gutes verheißt (ein Kinderlied schon gar nicht), merkt man schnell. Aber der wuchtige Gesamteindruck der großformatigen Komposition, die sich darin durchaus an Wagner & Co. orientiert, ist vor allem geprägt von einer fast hysterischen Nervosität und damit der Perspektive der verfolgten Grace. Es entsteht ein Unbehagen ganz im Sinne Hitchcocks, und die Nähe zur avancierten Filmmusik darf man Dogville sicher nicht zum Vorwurf machen: Hier ist ein raffinierter Opernkrimi für das große Publikum entstanden. Und die unterschiedliche klangliche Ausgestaltung der einzelnen Szenen lässt das Werk keineswegs zerfallen, sondern verbindet sich organisch zu einer großen Einheit.

Vergrößerung in neuem Fenster Im Lieferwagen des Obsthändlers will Grace fliehen, als die Situation mehr und mehr eskaliert, aber die Flucht endet nach einer Vergewaltigung dort, wo sie begonnen hat: in Dogville.

Den Film Lars von Triers dabei nicht zu kennen, dürfte insgesamt eher von Vorteil sein, weil damit der permanente Abgleich entfällt. Die Oper übernimmt die Handlung und die emotionale Wucht der Vorlage, setzt aber eigene Akzente und besteht als eigenständiges Kunstwerk. Gestrichen hat Kampe die Partie des allwissenden Erzählers aus dem Film (und verschiebt damit die Perspektive zu der von Grace ). Eine Schlüsselszene des Films allerdings fehlt, nicht ohne Verluste. Dort nämlich kauft sich Grace nach und nach sieben kleine Porzellanfiguren, die im Zuge der eskalierenden Handlung von Vera, einer Frau aus dem Dorf, zerstört werden, als Teil von Grace's Bestrafung für vermeintliches Fehlverhalten gegenüber Veras Kindern. Der besondere Zynismus besteht darin, dass Vera Grace anbietet, mit der Vernichtung der Figuren aufzuhören, wenn Grace die Tränen zurückhalten kann - was dieser nicht gelingt. Bei Lars von Trier ist das vielleicht der Moment, der die Welt von Dogville aus den Angeln hebt und letztendlich den Glauben an das Gute im Menschen oder in der Menschheit entscheidend erschüttert. Auch Kampe spielt im Finale darauf an, was aber ohne die geschilderte Szene wie ein nur schwach motivierter Effekt mehr irritiert als schockiert. Am Urteil über die Menschheit lassen allerdings Bühnen- und Klangbilder keinen Zweifel.

Szenenfoto

Grace wird angekettet und steht jedem Mann zur sexuellen Verfügung - nur Tom, in sie verliebt, bleibt als Beschützer (und wird doch zum Verräter).

Lavinia Dames, Ensemblemitglied der Rheinoper Düsseldorf-Duisburg, gibt der Grace lyrische Emphase und Verletzlichkeit - eine durch und durch eindrucksvolle Gestaltung der umfangreichen Hauptpartie (trotzdem wird es interessant sein, die Rolle mit einer dramatischeren Sopranistin zu hören - Folgeinszenierungen von Dogville wird es ganz sicher geben). Um sie herum beeindruckt das Aalto-Theater mit einer sehr guten Ensembleleistung, allen voran Heiko Trinsinger als triebgesteuerter Familienvater Chuck, aber auch mit dem (sparsam eingesetzten) Countertenor Etienne Walch als Bill Henson und der agilen Maartje Rammeloo als Liz und Andrei Nicoara als erblindetem James McKay. Ein wenig blass bleibt Tobias Greenhalgh als Tom Edison, der solide gesungen ist, aber vokal mehr Gewicht bräuchte, um zur zentralen Figur der Dorfgemeinschaft zu werden. Essens scheidender Chefdirigent Tomáš Netopil am Pult der guten Essener Philharmoniker setzt mehr auf den großen Sog und orchestrale Farbigkeit als auf Schärfe im Detail.


FAZIT

Eine Uraufführung, die zeigt, wie mitreißend und lebendig die alte Gattung Oper im 21. Jahrhundert sein kann: Auch über beinahe zwei Stunden (ohne Pause) fesselt Dogville vom ersten bis zum letzten Ton musikalisch mit unmittelbarer Wucht und viel boshaftem Hintersinn. Ein großer Wurf, in klaren und prägnanten Bildern auf das dramatische Finale hin inszeniert, und auch musikalisch sehr eindrucksvoll umgesetzt.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Tomáš Netopil

Inszenierung
David Hermann

Bühne und Licht
Jo Schramm

Kostüme
Tabea Braun

Dramaturgie
Christian Schröder
Patricia Knebel



Statisterie des Aalto-Musiktheaters

Essener Philharmoniker


Solisten

Tom Edison Jr.
Tobias Greenhalgh

Grace
Lavinia Dames

Thomas Edison Sr.
Bart Driessen

Chuck
Heiko Trinsinger

Vera, Chucks Frau
Marie-Helen Joël

Ma Ginger
Almuth Herbst

Bill Henson
Etienne Walch

Liz Henson
Maartje Rammeloo

Martha
Alice Lackner

Jack McKay
Andrei Nicoara

Olivia
Christina Clark

Ben
Rainer Maria Röhr

Big Man
Karel Martin Ludvik

Policeman
Albrecht Kludszuweit

Jason
Sänger aus dem Kinderchor






Weitere Informationen
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