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John Eliot Gardiner:
Bach - Musik für die Himmelsburg Portrait des Komponisten als VokalmusikerVon Stefan SchmöeHier spricht der Dirigent. John Eliot Gardiner nähert sich Johann Sebastian Bach in seiner rund 700 Seiten dicken Monographie mit dem Auge des sehr kundigen Interpreten, nicht der des Wissenschaftlers. Da die Quellenlage bei Bach vergleichsweise dünn ist, so der Ansatz, will Gardiner die Persönlichkeit des Komponisten in erster Linie aus den Werken erschließen. Wobei er, das ist das offensichtliche Manko des Bandes, ausschließlich auf die Vokalwerke eingeht: Die Kantaten, Passionen, Motetten und schließlich die h-Moll-Messe. Der ganze Bach wird daher nicht erschlossen, weil mit der Instrumentalmusik auch wichtige Lebensereignisse ausgeblendet werden. An Informationsgehalt mangelt es dem Band dennoch nicht. Gardiner versucht einerseits, sich halbwegs chronologisch an Bachs Lebensweg entlang zu bewegen, andererseits bestimmte Werke oder Werkgruppen als Komplex zu betrachten. Das geht nicht an allen, aber an vielen Stellen gut auf, so etwa mit dem Beginn von Bachs Tätigkeit als Thomaskantor in Leipzig, die der Komponist programmatisch mit zwei Jahrgängen von Kantaten für den sonntäglichen Gottesdienst begann. Hier ist Gardiner in seinem Element, als profunder Kenner der Musik erörtert er die vielfältigen Verflechtungen von Theologie und musikalischen Mitteln und breitet ein gewaltiges Panorama aus - das man noch gewinnbringender lesen kann, wenn man die entsprechenden Werke parallel dazu anhört (alle Kantaten, oftmals in Aufnahmen Gardiners, findet man bei Youtube). Das ist keine schnelle, aber eine unbedingt lohnenswerte und erhellende Lektüre. Gardiner deutet die Kantatenjahrgänge als Einstimmung und Vorbereitung der Leipziger Kirchen- und Stadtgemeinde auf die Passionsvertonungen, die er in jeweils eigenen Kapiteln ausführlich untersucht. Gegenüber dieser sehr dichten Darstellung treten die Zeiten geringerer Produktivität (man muss ergänzen: an Vokalmusik) in der Darstellung zurück. Nach dem Lesen bleibt der Eindruck, über bestimmte Phasen in Bachs Leben gut, über andere eher wenig informiert zu sein. Gardiner ist nicht nur leidenschaftlicher Musiker, sondern auch überschwänglicher Bach-Liebhaber. Seine Analysen sind weniger musikwissenschaftlich als vielmehr aufführungspraktisch und emotional angelegt. Neben sehr knappen strukturellen Analysen der Form oder Instrumentation betont er stets die Wirkung eines Kantatensatzes oder einer Arie. In der Regel ist das überzeugend, hier und da wird das eigene subjektive Empfinden anders sein. Die emphatische, mitunter saloppe, oft emotionale Sprache ist durchaus erfrischend. So heißt es über eine Arie aus der Kantate Meine Seufzer, meine Tränen BWV 13: "Dem bleichen Grabessound der beiden eine Oktave über der Solo-Violine schwebenden Blockflöten nach zu urteilen, scheint Bach wild entschlossen, seinem Publikum die ganze Erbärmlichkeit des Lebens in diesem Jammertal vor Ohren zu führen." Mitunter verliert er sich dabei aber auch in allzu gefühlsbetonte Phrasen im Gestus in die Jahre gekommener Konzertführer: "Nach der qualvollen Kreuzigung verströmen diese schwerelosen Mahnungen des Gesangs und der Oboen Wärme und Trost" (über die Arie Mache dich, mein Herze, rein aus der Matthäuspassion). Bei aller Komplexität des Gegenstands stört an mancher Stelle auch Gardiners Weitschweifigkeit, die sich nicht nur in der Vielzahl an Fußnoten zeigt. Schlüssig legt Gardiner dar, dass Bachs schöpferische Leistung eng an die historische Situation gebunden war und zu anderer Zeit oder an anderem Ort so nicht möglich gewesen wäre: Ohne die Position als Thomaskantor mit ihren musikalischen Voraussetzungen (Chor, Orchester, Solisten) und Notwendigkeiten (regelmäßige Dienste in den Kirchen mit neuen Werken), auch ohne die voraufklärerische, mitunter kleingeistige Atmosphäre wären solche Werke wie die Passionen wohl nie entstanden. Die Einordnung von Komponist und Werk in das soziokulturelle historische Umfeld gelingt Gardiner überzeugend. Er stellt Querbezüge zur Oper der Zeit ebenso her wie zur höfischen Musik. Eine zentrale Frage, die das Buch durchzieht und die Gardiner immer wieder stellt, bleibt mangels entsprechender Zeitdokumente unbeantwortet: Wie mögen Bachs unmittelbare Zuhörer auf seine Musik reagiert haben? Die Leser dieses Buches jedenfalls werden vieles von Bach nach der Lektüre wenn auch nicht immer anders, so doch vielschichtiger hören. (Februar 2017)
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