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Jens Malte Fischer
Carlos Kleiber - Der skrupulöse Exzentriker


Alexander Werner
Carlos Kleiber – Eine Biografie


Ein kleines und ein großes Buch über einen ganz großen Künstler

Von Peter Bilsing

Wer sich näher mit dem Phänomen Carlos Kleiber, diesem außergewöhnlichen Menschen und musikalischen Magier, beschäftigen möchte, dem seien unbedingt zwei Bücher empfohlen: Zunächst ein kleines Buch über den großen Dirigenten mit dem Titel Carlos Kleiber – Der skrupulöse Exzentriker von Jens Malte Fischer.

Recht kurz, aber ausgesprochen liebevoll kann sich der Kleiber-Freund mit dem kleinen Büchlein weiterbilden, das über die Bayerische Akademie der Schönen Künste 2007 bei Wallstein erschienen ist - das erste Buch, das sich nach des Dirigenten Tod mit dem Phänomen „Carlos Kleiber“ beschäftigte. Der Autor, Münchner Theaterwissenschaftler und Germanist, hat einen zum Angedenken Kleibers in der „Bayerischen Akademie der Schönen Künste“ gehaltenen Vortrag als Büchlein (ein echtes Kleinod) mit vielen späten, bisher unveröffentlichten Portrait-Bildern Anne Kirchbachs dekoriert, herausgebracht. Gerade diese Bilder sind von großer Faszination und lassen schon für sich alleine den Titel des „skrupulösen Exzentrikers“ plausibel erscheinen. Das Büchlein von schmalen 95 Seiten Umfang (davon gut ein Drittel Diskografie), ist ein Mischung aus Hommage und Essay. Schon quantitativ kann es keine umfassende biografische Aufarbeitung sein. Immerhin reißt es Themen, wie „Die Macht des Dirigenten“ oder „Der Perfektionist“ bzw. „Der Schwierige“ und „Risiko-Dirigent“ zwar oberflächlich, aber doch kritisch an. Es zeigt sich die Schwierigkeit, das künstlerische Profil eines der größten Dirigenten unserer Zeit in Kurzform zu erfassen. Bei solcher Zeilenbeschränkung muß der Versuch anekdotenhaft bleiben. Doch es läßt sich gut lesen und ist immerhin ein qualitativ anspruchsvoller Einstieg, um sich danach mit Alexander Werners umfangreicherer Biografie auseinanderzusetzen. Ein Fazit dieses Essays: „Es gibt Schwierige, denen man fast alles verzeiht.“ Ein guter, ein versöhnlicher Satz.

Aber bringen mehr Seiten auch mehr Klarheit in das Enigma „Carlos Kleiber“? Die Alternative liegt vor: Ein großes Buch über den großen Dirigenten mit dem Titel Carlos Kleiber – Eine Biografie von Alexander Werner.

Das knapp 600-seitige Kompendium ist sicherlich das umfangreichste und angesehenste Werk, welches sich je mit Carlos Kleiber beschäftigt hat. Für eine Biografie, die chronologisch und anhand von Zeugnissen vieler Freunde, Verehrer und Lebengefährten quasi akribisch das Leben dieses schwierigen Genius verfolgt und nachvollzieht, ist das Buch nicht nur höchst informativ, sondern auch angenehm lesbar in sehr flüssigem Stil geschrieben. Das freut Hirn und Herz. Eine fast 30-seitige Diskografie der veröffentlichten Mitschnitte zeigt und widerlegt nicht unbedingt das (Vor-)Urteil, Kleiber habe ein musikalisch nur sehr einseitiges Repertoire, ähnlich Celibidache, sein eigen genannt. Es tauchen schon immer wieder dieselben Komponisten auf: Strauß, Wagner, Brahms, Weber, Beethoven, Puccini und Verdi. Nun wissen wir es exakt: 5 Bohèmes, 6 Rosenkavaliere, 8 Traviatas und 6 Tristans hat der Maestro u.a. auf Scheiben produziert – illegale Mitschnitte der Fans aus Privatarchiven blieben unberücksichtigt. Werner hat sich einer Riesenarbeit unterzogen, denn direkte Informationen oder Aussagen der Erben lagen aus den bekannten Gründen (informative Totalverweigerung des Familienarchivs durch die Kinder + lebenslange Interviewablehnung des Maestros) nicht vor, daher kann man keine grundlegende Persönlichkeitsanalyse erwarten, aber die unzähligen Mosaikfetzen der Zeitzeugen geben doch letztendlich ein prägnantes und nachvollziehbares Bild aus den unzähligen Puzzleteilen.

Vom Übervater Erich Kleiber geprägt und ein ewig Zweifelnder an der Musik, zerbricht er manchmal fast an seinem eigenen Qualitäts-Anspruch. Ein Irrationalist, ein Getriebener aber dennoch gelegentlich sehr lebenslustiger Bonvivant, wie wir ausgiebig erfahren. Hier ähnelt er durchaus seinem Vorbild, Herbert von Karajan. Aber Kleiber war nicht nur einer der ganz großen Pultstars, sondern wahrscheinlich auch einer der schwierigsten, um den sich unzählige Legenden rankten. Mit vielen wird aufgeräumt, und Alexander Werner bringt Licht in manches Dunkel und Gemunkel. Und auch wenn er Musiker, Intendanten, Kollegen und Musikmanager schier in den Wahnsinn trieb, spricht man letztendlich überwiegend positiv über ihn. Zuviel des Guten – mag man kritisieren.

Mir persönlich erscheint manches zu nett; die vielen posthumen Ehr- und Achtungsbezeugungen erinnern manchmal doch allzu sehr an die Lobhudeleien filmischer „Making Of“s. Doch vorbildlich und übersichtlich gelistet sind alle Zitatnachweise seriös nachprüfbar. Werner verzichtet auf persönliche Spekulationen, Wertungen oder Mutmaßungen, er läßt andere sprechen. Das ehrt ihn und verhindert eine Gratwanderung zum Tratsch, was ihm einige Kritiker vorgeworfen haben. Das Buch ist kein Stück gigantisch aufgeblasene Fanpost, wie es leider die meisten Künstlerbiografien heutzutage sind. Bei allem Zitatenreichtum steht doch immer die Seriosität im Vordergrund. Ein schwerer, solide gebundener Band alter Buchkultur, gewichtsmäßig schon fast ein Wälzer, der für den ehrlichen Preis von knapp 30,- Euro auch einen respektablen bibliografischen Gegenwert gibt.

Darüber hinaus wird es viele Leser motivieren, sich einmal verstärkt und unter dem Aspekt des nun „Eingeweihten“ ausgiebiger mit des Maestros musikalischem Erbe zu beschäftigen. Schrieb ich über Jens Malte Fischers kleinen „Almanach“: Es zeigt die Schwierigkeit, das künstlerische Profil eines der größten Dirigenten unserer Zeit in Kurzform zu erfassen - muß ich jetzt, auch nach diesen 600 Seiten ergänzen, daß die Fülle der Informationen und Zeitzeugen nicht allzu viel mehr über den Charakter dieses seltsamen Mannes enthüllt hat. Es ist zu hoffen, daß irgendwann die Familienarchive geöffnet werden, damit die historisierenden Biografien ein klares psychologisches Fundament bekommen. Zum Trost: Auch beim großen Herbert von K. ist dies trotz mittlerweile sieben umfangreicher bibliografischer durchaus ernstzunehmender Würdigungen auch noch nicht überzeugend gelungen. Kommt Zeit kommt Rat! Es gibt noch Hoffnung "Potius sero quam nunquam." Besser spät als nie, so hoffen wir mit Livius und auf ein Einsehen der Familien Kleiber.

Noch eine Anmerkung: Unbedingt zu empfehlen ist allen Musikfreunden die bei Arthaus erschienene DVD Carlos Kleiber – Rehearsel and Performance, die Kleiber bei den Proben für die Overtüren zu Fledermaus und Freischütz zeigt. Mehr dazu finden Sie hier.

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Cover


Jens Malte Fischer
Carlos Kleiber –
Der skrupulöse Exzentriker

Bilder von Anne Kirchbach
Wallstein Verlag Göttingen 2007
Kleine Bibliothek der Bayerischen Akademie
der Schönen Künste Bd.1


94 Seiten mit 29 Abbildungen
Einband: gebunden, Schutzumschlag
Format: 12,5 x 20,6 cm
ISBN-10: 3-8353-0138-1
ISBN-13: 978-3-8353-0138-2
€ 15,00

Weitere Informationen unter:
www.wallstein-verlag.de



Cover


Alexander Werner
Carlos Kleiber – Eine Biografie

590 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
Schott Musik GmbH Mainz, 2008
ISBN 978-3-7957-0598-5
€ 29,95

Weitere Informationen unter:
www.schott-musik.de




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