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Ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht zur ersten Begegnung mit der Elbphilharmonie Verliebt in die ElphiText und Fotos von Bernd Stopka
Die Elbphilharmonie ist ein Ereignis. Von allen Seiten, von außen wie von innen. Sie steht wie ein futuristisches Raumschiff auf der Spitze der Elbinsel Grasbrook in der Hamburger Hafenstadt und weist mit ihrem hohen Bug in Richtung See, vielleicht ja in Richtung Aufbruch. Und sie weist in die Höhe. Das könnte den Auftrag symbolisieren, den sie sich selbst gegeben hat. Auf jeden Fall legt dieser optische Eindruck die Erwartungen sehr hoch. Vielleicht sogar noch höher als die der Besucher, Besichtiger und Steuerzahler, die nach nun rund zehnjähriger Bauzeit in wildesten Stürmen und Kämpfen mit einem Einsatz von 789 Millionen Euro sehen, erkunden und erleben wollen, was dabei herausgekommen ist.
Der gläserne Aufsatz auf den roten Backsteinen des ehemaligen Kakao-, Tee- und Kaffeespeichers spiegelt die Vielfalt des Hamburger Wetters wider: vorbei- und aufziehende Wolken in ihren unterschiedlichen Formen und Schattierungen, Rauch aus dem Hafen und nicht zuletzt natürlich die vielfältigen Farben des Himmels zu unterschiedlichen Tages- und Sonnenzeiten, mal überirdisch strahlend, mal dämonisch dunkel. Man könnte sie einen ganzen Tag lang nur anschauen und würde unzählige Eindrücke und Varianten erleben. Die Elbfährenlinie 72 pendelt zwischen den Stationen „Landungsbrücken“ und „Elbphilharmonie“ und ermöglicht die umfassendsten Blicke auf das Gebäude, wenn man an Deck steht und den Eindruck hat, dass man das Haus zu drei Vierteln umfährt. Mütze und Handschuhe sind im Winter dabei ratsam. Von meinem maritimen Hotel aus komme ich in zehn Gehminuten zur Elphi. Am Freitagabend gehe ich zu Fuß – am Sonntagmorgen nehme trotzdem die Fähre, einfach wegen des Eindrucks. Tom aus Augsburg sei Dank, der mich auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hat. Ganz praktisch gesehen kommt man auf diese Weise auch am nahesten an das Gebäude heran, denn die Infrastruktur der öffentlichen Verkehrsmittel lässt da (noch) einiges zu wünschen übrig
Der Besuch der Plaza, dem öffentlichen Teil zwischen Stein und Glas, ist kostenlos, es werden aber Zählkarten ausgegeben, um eine Überfüllung zu vermeiden (Konzertbesucher können mit ihrer Eintrittskarte ab zwei Stunden vor Beginn hinauf). Man erreicht sie über die längste gebogene Rolltreppe der Welt, durch die sogenannte „Tube“. Das klingt wie ein Nadelöhr – ist es aber nicht. Nur wehe, wenn sie mal ausfallen sollte. Die wenigen Fahrstühle können die Massen dann nicht bewältigen, dann heißt es, die Rolltreppe hinauflaufen… Steinboden und Glaselemente bilden optisch die Verbindung der beiden Gebäudeteile, gebogene Glaswände halten zudem den Wind ab, der von der sogenannten Außenplaza hereinwehen würde. Die Außenplaza ist kein Platz, sondern ein Rundgang um das ganze Gebäude auf 37 Metern Höhe, der großartige Aussichten auf Stadt und Hafen entweder direkt oder sich im Glas spiegelnd ermöglicht. Schon am ersten Wochenende, nach dem 3. oder 4. Konzert, scheint sich eine Tradition anzubahnen vor dem Konzertbesuch: „Einmal ums Haus gehen“ hört man immer wieder. Und auch wenn man nicht zu den Glücklichen gehört, die eine Karte für ein Konzert der laufenden, restlos ausverkauften Saison ergattern konnten, geht man einmal ums Haus, schaut im Souvenirladen vorbei, trinkt etwas im Bistro oder besucht das Restaurant „Störtebeker“ – wenn man denn einen Platz bekommt. Reservierung vor und nach den Konzerten ist dringend empfohlen.
Von der Plaza aus führen jeweils breite Holztreppen in den Großen und den Kleinen Saal. Das Einlasspersonal, wegen der roten Mützen liebevoll die „Rotkäppchen“ genannt, ist sehr freundlich, auch wenn die Menge der Einzulassenden mal unruhig wird. Wird einem Einlass gewährt, sieht man vor allem eins: Treppen, Treppen, Treppen – mit für meine Füße oft eher ungünstigen Stufenabständen. Es gibt große und kleine Foyers zwischen den Treppenaufgängen, die mit ihren hellen Holzböden und -treppen, weißen Wänden und zum Teil gläsernen Außenwänden schlicht, aber elegant wirken. Das merkt man aber erst, wenn man seinen Platz im Weinberg der „Elphi“ gefunden hat, denn bei den ersten Besuchen braucht es durchaus etwas Zeit, um das System zu verstehen und auch, um die versteckten kleine Fahrstühle zu finden, die einem das Treppensteigen abnehmen können und mit denen die Damen ohne Treppen zu steigen erkunden können, ob es bei anderen Toiletten kleinere Warteschlangen gibt. Denn auch in der Elphi konnte diese uralte Frage der Menschheit nicht gelöst werden: Warum gibt es immer zu wenig Damentoiletten? So manch ein Herr verrichtet dann das Kleingeschäftliche am Pissoir mit einer Reihe von Damen hinter sich, die die geschlechtlich nicht korrekte, aber blasentechnisch unumgängliche Abkürzung zu den Herrenboxen nehmen.
Der Saal ist architektonisch abgekoppelt und steht auf Dämpfern, die jegliche Außengeräusche abhalten sollen (und tatsächlich auch können). So wirken die Eingänge zum Allerheiligsten wie Schleusen, wie Schleusen zum Himmel, denn der Eindruck beim Betreten des Saales ist geradezu überirdisch. Der helle Raum mit seinen weinbergartig in unterschiedlichen Höhen angeordneten Emporen, die, je höher man kommt, immer weniger Sitzreihen haben, wirkt groß und behütend zugleich. Man sitzt um das Orchester herum, das nur leicht verschoben, aber fast mittig das Zentrum des Saales bildet. Von ganz oben hat man fast den Eindruck, man säße über dem Orchester, so schaut man herunter, sieht es in seiner ganzen Größe und Anordnung – wie im Orchesterschema eines Musiklexikons. Und hier oben entwickelt sich der Klang einfach wunderbar zwischen Transparenz und Mischklang. Aber auch hier hört man alle Nebengeräusche, vor allem die des Publikums. Es ist utopisch zu glauben, dass man 2100 Leute auch nur fünf Minuten lautlos halten kann – aber es müsste dennoch möglich sein. Und wann erfindet endlich mal jemand lautloses Papier für Programmhefte?!
Nun kommen zwei weitere Elemente hinzu: Einerseits sitzen in den ersten Wochen viele Leute im Saal, die die Elphi erleben wollen und nicht wirklich wegen des musikalischen Programms kommen, und zweitens ist so etwas dann eine ganz besondere Herausforderung, wenn ein gigantisch-grandioses Oratorium zur Uraufführung kommt, das zwar die klanglichen Möglichkeiten des Hauses wunderbar demonstriert, als Werk für sich genommen aber nur in wenigen Momenten bewegen kann – und das sind meistens die, in denen Komponist Jörg Widmann längst verstorbene Kollegen zitiert. Arche heißt das (Mach)werk für Riesenorchester, Riesenchor, Kinderchor, Knabensopran, zwei Kinder als Erzähler, Sopran und Bariton, das kein geringerer als Kent Nagano vom Pult her aus der Taufe hebt. Es führt vom Anfang der Welt bis zur Jetztzeit (Wagner nimmt den Untergang derselben gleich mit, braucht dafür dann aber auch 16 statt eineinhalb Stunden). Inhaltlich geht es von der Schöpfung gleich zur Sintflut über und ärgert sich über einen Gott, der die Menschen erst erschafft und dann gleich(!) wieder ersäuft. Der Vorwurf, warum ein Gott die Menschen nicht so lassen kann, wie er sie erschaffen hat und ihnen einfach alles Ungute vergibt, widerspricht sich geradezu im Teil „Liebe“, wenn eine zickige Eva auf einen plumpen Adam trifft und wiederholt sich im Finale, wenn die Kinder fordern, dass man nicht auf Götter, sondern auf sich selbst bauen und hoffen soll. Inhaltlich also ein ähnliches Ragout wie musikalisch: Bibel und Philosophen quergelesen und verwurstet.
Beglückender dann mein zweites Konzert im schon jetzt liebgewonnenen Großen Saal am Sonntagmorgen um 11 Uhr. Zur großen Überraschung und Freude ist der erste Teil mit dem ersten Teil der beiden Eröffnungskonzerte identisch. Auch diesmal gehen die Werke die Stilepochen wechselnd nahtlos ineinander über und schärfen Gehör und Denken, zeigen die Vielfalt der musikalischen Möglichkeiten einerseits und andererseits die akustischen Möglichkeiten des Saales. Es ist eine wohlüberlegte und kluge Auswahl, auch mit Bezügen der Komponisten zur Hansestadt. Und es ist kein gefälliges Programm, sondern ein Hinweis darauf, dass die Elphi das musikalische Leben in all seiner Vielfalt zeigen, erlebbar und die Musik im Raum geradezu fühlbar machen will. Das ist hier schon einmal geglückt.
Nach der Pause dann Mendelssohns zweite Symphonie Lobgesang. Sie ist nicht jedermanns Geschmack, aber ich liebe sie seit Jugendzeiten heiß und innig. Das Duett "Ich harrete des Herrn" lässt mir seit Jahrzehnten immer wieder wohlige Schauer über den Rücken laufen. Glücklicherweise hat man dem zweiten Sopran, der eigentlich nur für das Duett vorgesehen ist, auch noch ein Duett mit dem Tenor gegönnt, in dem die Einspringerin Hanna-Elisabeth Müller einmal mehr ihren wunderbar klaren Sopran von höchsten Qualitäten hören ließ, der sich vom dunkleren vibratoreichen Klang ihrer Kollegin Maria Bengtsson deutlich unterscheidet, die das „Die Nacht ist vergangen!“ wie ein Engel der Verkündigung aus der Höhe einer Empore singen darf. Pavol Breslik ließ seinen schönen, schlanken, wenn auch nicht allzu großen Tenor schweben, klebte mir allerdings zu sehr am Klavierauszug und zwei unsichere Einsätze lassen darauf schließen, dass ihm eine etwas intensivere Vorbereitung auf die Partie gutgetan hätte. Doch das mag auch den Anstrengungen der Eröffnungskonzerte mit der ebenso anspruchsvollen wie langweiligen Uraufführung des Werkes für Tenor und Orchester von Wolfgang Rihm zur Elphi-Eröffnung geschuldet sein, die er bravourös bewältigt hat. Die vereinigten Chöre des Norddeutschen und Bayerischen Rundfunks klingen sehr harmonisch miteinander und das Orchester des NDR, das sich inzwischen NDR Elbphilharmonieorchester nennt, spielt (sicher auch wegen der alles hörbar werden lassenden Akustik) hochkonzentriert unter seinem Chef Thomas Hengelbrock, der hier den eher schlanken Klang und rasche Tempi bevorzugt.
Die Musiker sind Diener im Weinberg der Musik. Die ist ein segnender Gott, wenn man gut ist – aber ein erbarmungslos strafender, wenn man unartig ist. Man hört alles. Jeden verwackelten Einsatz, jede kleinste Unsauberkeit, zuweilen auch unvermeidliche Nebengeräusche, denn immerhin ist Musikmachen ja auch Knochenarbeit, was oft vergessen wird. Einem Cellisten reißen ein paar Haare am Bogen, er reißt sie ab und man hat den Eindruck, jedes einzelne Haar brechen zu hören. Diese Akustik ist Segen und Fluch, aber nach meinen Eindrücken aus zwei ganz unterschiedlichen Bereichen des Hauses (ganz oben und ganz unten vorn) keinesfalls so problematisch, wie sie nach den Eröffnungskonzerten oftmals beschrieben wurde. Aber wir wären nicht in diesem unserem Lande, wenn nicht alles Schöne und Gute erst einmal verrissen und niedergemacht werden würde (Stichwort: Expo). Bei meinen nächsten sieben Konzerten in der Elbphilharmonie sitze ich immer an anderen Stellen und bin gespannt, wie sich die Akustik dort jeweils zeigt. Am späten Abend bin ich aus Hamburg zurückgekommen - todmüde, aber beglückt und begeistert und ein bisschen verliebt in die Elphi. (Januar 2017)
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