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"Wir sind eine Traumfabrik, aber auch eine Ressource für die Stadt!“

Kurz vor der Vorstellung der neuen Carmen von Olivier Py am 3. Juli 2012, sprach Joachim Lange mit Serge Dorny, dem Intendanten der Oper Lyon

Der Belgier Serge Dorny, Jahrgang 1962, führt seit 2003 die Oper in Lyon. Dem Haus hatte der Architekt Jean Nouvel 1989 eine spektakuläre Dachkonstruktion und ein modernistisches Innenleben verpasst. Dorny hat seinen Inhalt und das Verhältnis zur Stadt, in deren Mitte es steht, umgekrempelt. So radikal, dass er heute als erfolgreichster Opernintendant in Frankreich und als Anwärter auf den Chefposten der Nationaloper in Paris gilt, die er zumindest in der Außenwirkung längst hinter sich gelassen hat.

Am Beginn des Gesprächs im 9. Stock, also in dem modernen Aufbau der Oper, in einem separaten Büro am Rande einer Führungsetage mit der Transparenz eines Großraumbüros und mit einem fantastischen Blick über die Stadt, muss Serge Dorny schnell noch die Entscheidung fällen, dass die Michaela, die in den ersten Vorstellungen der laufenden Carmen-Serie eingesprungen war, auch dann singt, wenn das Fernsehen mitschneidet…


OMM: Der Münchner Ring ist auch gerade vom Absagepech verfolgt …

Dorny: Das Schlimmste, was ich mal erlebt habe, war eine Lohengrin-Produktion, in der erst so gut wie alle Sänger ausgefallen sind und dann auch noch die Vertretungen. Ein Alptraum! Manchmal hat man aber auch Glück im Unglück. Wie bei Peter Steins Lulu. Er wollte es mit einer Sängerin machen, die aussah wie 16. Doch die viel kurz vor Probenbeginn aus. Wir haben dann Laura Aiken dazu überredet, ihre Verpflichtungen in Spanien abzusagen und einzuspringen. Am Ende der drei Wochen Probe wollte Peter Stein dann, dass ich die Mailänder Scala und das Theater an der Wien überzeuge, anders als ursprünglich auch für diese Stationen geplant, Laura Aiken als Lulu zu belassen. Wir haben also die ursprüngliche Besetzung annulliert und für Laura Aiken war es ein großer Erfolg.

OMM: Wobei da ja das Stagione-Prinzip, wie hier bei Ihnen, ein Vorteil ist …

Dorny: Das Repertoiresystem hat seine Vorteile, aber das andere System auch. Nach meiner Auffassung gehört einer Mischform die Zukunft. Das Repertoire ist für die alltägliche Anwesenheit der Oper in der Stadt nötig. Auch für die Erweiterung des Publikums. Stagione hat den Vorteil, dass neue Produktionen mehr Zeit bekommen, um sich zu entwickeln. Man entwickelt ein Produkt und präsentiert es dann. Man sollte einen Rhythmus finden, mit ein paar Monaten Repertoire und ein paar Monaten Stagione.

OMM: Sie sagen das jetzt nicht aus finanziellen Erwägungen?

Dorny: Nein – es ist auch für die Dynamik eines Hauses wichtig. Es ist ja nicht so, dass im Repertoirebetrieb der Chor und das Orchester jeden Tag mit dem gleichen Eifer zur Arbeit kommen. Kunst zu machen aber, das kann nichts Alltägliches sein. Durch die Konzentration der Kräfte beim Stagione gibt es einen Energieschub für das Haus. Es ist eine neue Befragung für alle. Wenn der Betrieb alltäglich läuft, dann überwindet man die Schwierigkeiten nur kosmetisch. Um Qualität zu liefern, muss man Zeit haben.

OMM: Und man braucht das Publikum dazu ...

Dorny: Bei vielen Opernhäusern ist die Struktur der Zuschauer das Problem. Man vertraut nämlich immer nur auf das immer gleiche Publikum. Die Existenz eines Theater in einer Stadt basiert aber auf dem Vertrauen von verschiedenen Schichten. Und das ist heute oft ein Defizit.

OMM: Das haben sie ja mit Ihren Auslastungszahlen von 96% offenbar geschafft.

Dorny: Und wir machen dabei nicht das einfachste Repertoire. In dieser Spielzeit haben wir zum Beispiel auch achtmal Die Nase von Schostakowitsch auf dem Programm, Wagners Parsifal, Schoenbergs Von heute auf morgen, Strawinskys Rossignol oder die Uraufführung von Jérôme Combiers Terre et cendres…. – das ist ja alles nicht sofort eingängig.

OMM: Jetzt verraten Sie doch mal, wie man das macht. In Paris ist eine volle Oper ja einfach durch die riesige Stadt garantiert.

Dorny: In Paris ist Janáceks „Sache Makropulos“ auch nicht voll….Wir haben hier in Lyon in der Kernstadt 500 000 Einwohner, mit der Agglomeration sind es insgesamt 1,5 Mio. Das ist so wie Brüssel. 80% unseres Publikums kommen aus dem Departement, das ist normal. Bis in die nächste Oper müsste man mindestens zwei Stunden fahren. Als ich 2003 anfing, gab es schon eine gute Auslastung von ungefähr 87%. Aber die war exklusiv an Abonnenten gebunden. Nur etwa 10% kamen nicht über das Abo in die Oper. Im Bewusstsein der Leute war die Oper damit zwar immer voll, aber für sie nicht zugänglich.

Wenn man aber schon eine Auslastung von 87% garantiert hat und nur noch 10 % dazu gewinnen muss, dann bringt es nicht viel, Ressourcen in die Kommunikation zu stecken. Da lebt die Oper nur von den Abonnenten. Das heißt aber auch, sie ist isoliert an der Peripherie einer Stadt. Wir arbeiten aber mit öffentlichen Geldern von allen Steuerzahlern. Für mich heißt das: die Oper sollte offen sein für alle. Wenn das nicht so ist, dann hat es die Kulturpolitik schwerer die Gelder zu verteidigen, die für die Oper ausgeben werden. Schließlich schwächt man eine Institution auch, wenn man von den Abonnenten abhängig ist. Man muss dann machen, was die hören wollen. Das ist wie bei einem Produkt, für das man nur einen Kunden bestimmt ist.

OMM: Und was haben Sie gemacht? Die Abos etwa gekündigt?

Dorny: Mein Weg, das Bild von der vollen Oper, in die man nicht reinkommt, zu ändern, war eine Limitierung der Abonnements. Die schließen nämlich nicht nur einen Teil des Publikums aus, sie kosten wegen der hohen Rabatte auch viel Geld. Jetzt kostet ein Abo deutlich mehr und ist ein Privileg. Auch haben wir die Preisstruktur verändert. Die teuren Plätze kosten jetzt mehr, aber die billigsten haben wir von 30 auf 5 Euro gesenkt. Und wir haben das Programm geändert.

OMM: Und das hat funktioniert?

Dorny: Ja. Heute haben wir 23% Abonnenten und eine Auslastung von 96% im Durchschnitt! Dabei sind 52% der Zuschauer jünger als 45 und 25% jünger als 26 Jahre alt. Und ich kann ein Programm machen, das nicht nur aus Traviata, Trovatore, Tosca oder eben Carmen besteht. Heute kommen viel mehr ganz verschiedene Leute, die die Oper für sich angenommen und uns in die Lage versetzt haben, ein neues Repertoire zu etablieren. Was wieder die Augen und Ohren für das Bekannte öffnet. So ist, Schritt für Schritt, ein gegenseitiges Vertrauen entstanden.

OMM: Wie haben Sie das an den Mann und die Frau oder eben den Jugendlichen gebracht?

Dorny: Wir hatten vergessen zu kommunizieren. Ich habe vieles gemacht. Kommunikation ist ja nicht nur Presse. Zur Präsentation der neuen Spielzeit bin ich etwa in allen Arrondissements gewesen und habe sie dort vorgestellt. Das war sehr anstrengend, aber gut. In der ersten Saison haben wir das Cafe im Eingangsbereich der Oper etabliert. Die Leute nehmen die Oper jetzt ganz anders wahr. Es heißt jetzt „Treffen wir uns an der Oper“. Vor allem haben wir sehr viel für junge Leute gemacht. Wir haben die Region überzeugt, 3000 Karten für Abiturienten zu kaufen. In einem Wettbewerb der Schulen reichen die Lehrer Projekte ein und wir verteilen auf der Basis von Dossiers die Karten. Die Lehrer bereiten das im Schuljahr mit den Schülern vor, dann kommen sie, besichtigen das Gebäude, sehen Vorstellung und haben hinterher ein Gespräch mit den Künstlern. Und die nehmen daran alle teil. Im September werden wir eine Aktion machen, wo es Karten für freie Plätze für 10 Euro gibt. Dazu kommt unsere Arbeit in den armen Gegenden der Stadt und in den Vorstädten, wo wir mit vielen Vereinen und Schulen zusammenarbeiten. Wir versuchen den Leuten dort, mit Kunst und Kreativität neue Hoffnung zu geben.

OMM: Das klingt sehr grundsätzlich und optimistisch.

Dorny: Zwischen Oper und der Stadt hat sich tatsächlich eine eigene Dynamik entwickelt. Nehmen Sie die Rapper und Breakdancer vor der Oper. Die haben hier immer geprobt. Ich haben Ihnen gesagt: ich will hier eine Cafe machen, aber Euch nicht wegschicken. Ich habe ihnen angeboten, in der Oper zu proben. Sie haben den Schlüssel bekommen und wir eine Liste mit Namen. Dann haben sie in der Oper geprobt und wir haben sie dabei noch mit Profis unterstützt. So haben sich neues Vertrauen und neue Ehrlichkeit etabliert. Jetzt kommen viele zu den Vorstellungen oder zum Jazz oder ins Amphitheater. Sie alle spüren, dass die Oper etwas für ihre Lebensqualität bringt. Wir sind eine natürlich eine Traumfabrik, aber wir sind auch eine Ressource für die Stadt!

OMM: Wie steht es mit der Finanzierung der Oper?

Dorny: Wir haben einen Etat von 40 Millionen Euro (das ist so wie Brüssel), davon sind 27 Millionen Subventionen, wovon der Staat 20%, die Stadt 60% und das Departement und die Region je 10% tragen.

OMM: Das ist ja ein ziemlich hoher Eigenanteil …

Dorny: Wir machen viele Tourneen. Wissen Sie, wir sind ein Kulturakteur, aber wir nehmen auch an der sozialen und ökonomischen Dynamik der Stadt teil. Heute muss eine Kulturinstitution in diesen Dimensionen arbeiten. Wenn man das mit Überzeugung artikuliert und dann macht, dann funktioniert es. Wenn man es nur macht, weil man es machen muss, funktioniert es nicht.

OMM: Ist das die Grundlage für Ihren Erfolg?

Dorny: Ja, aber man könnte das Konzept so nicht einfach woanders wiederholen. Man muss immer analysieren, wie die jeweilige Situation vor Ort ist und dann etwas Eigenes, eine Identität entwickeln. Heute sind viele Opernhäuser austauschbar. Was ich in der Stadt A sehe, kann auch zur Stadt B gehören. Wir müssen dem Haus eine eigene Identität geben, die nur zu Lyon gehört.

OMM: In Deutschland macht man das in Stuttgart gerade so.

Dorny: Stimmt, das ist ein positives Beispiel. Ich habe gerade mit Jossi Wieler in Madrid darüber gesprochen. Wir haben ja seine Alcina hier gehabt. Wir sind beide davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist.

OMM: Sie haben hier ja gerade Olivier Py mit einer Carmen. Der ist ja einer von den interessanten Regisseuren, die bisher in Deutschland noch nicht verbraten wurden.

Dorny: Bei den Regisseuren, auch bei den guten, muss man aufpassen, ob ein Werk zu ihm passt. Nicht jedes Werk passt zu jedem Regisseur. Außerdem muss man immer die Notwendigkeit kommunizieren, warum man etwas macht. Ich bin jedenfalls nicht bereit, ein Türhüter von einem Mausoleum zu sein. Wenn man das akzeptieren würde, dann käme das Ende. Es wäre nur die Frage: wann. Für mich ist es wichtig zu sagen: Ich will, dass die Kunstform Oper eine Zukunft hat. Das Publikumsproblem haben wir uns selbst kreiert. Die Form Oper hat nämlich alles, um auch das heutige Publikum zu begeistern.

OMM: Das heißt auch mit neuen Werken?

Dorny: Neue Werke und Aufträge sind wichtig. Die Vergangenheit ist eine Ressource, aber sie ist nicht unendlich. Man kann sie nur nutzen, wenn man Aufträge für die Zukunft gibt. Die Vergangenheit kann nicht die Legitimierung für uns heute sein.

OMM: Stimmt es eigentlich, dass das Publikum in Frankreich konservativer ist, als beispielsweise in Deutschland?

Dorny: Bei uns können Sie Olivier Py, Ivo van Hove oder David Marton sehen. Die haben ein Publikum. Natürlich gibt es ästhetische Kulturen, die unterschiedlich sind. Aber man sollte das Publikum nicht einfach nur in seiner Meinung und Erwartung bestätigen. Man muss es nicht provozieren, das finde ich nicht gut, aber man muss Befragen und nicht einfach bestätigen, was wir schon wissen.

OMM: Haben Sie das Gefühl, dass die Oper Lyon die große Pariser Oper in gewisser Hinsicht abgehängt hat? Fühlen Sie sich als erstes Opernhaus in Frankreich? Man liest oft, dass Sie ein Anwärter auf den Intendantenposten in Paris sind.

Dorny: Die Frage ist schwer zu beantworten für mich. Im Moment ist sie nicht aktuell und ich sollte sie auch nicht beantworten. Ich mache hier kein Projekt gegen Paris, sondern für Lyon. Wir haben ein ganz anderes Projekt. Das ist jetzt meine 10. Saison. Das Projekt ist konsequent und hat sich nicht geändert. Es war so, als Mortier in Paris war, auch schon so wie jetzt. Eine Kulturinstitution ist ein Projekt, das Zeit braucht, um sich zu entwickeln und zu stabilisieren. Und dann hört ein Projekt natürlich auch mal auf. Was nicht aufkommen sollte ist ein familiäres Verhältnis zwischen Objekt und Person. Man muss das Gefühl haben, dass es immer noch ein Kampf ist, dass man noch nicht alles kennt…

OMM: Könnten Sie sich auch vorstellen, an einem großen Opernhaus in Deutschland zu arbeiten?

Dorny: Warum nicht. Ich bin zwar Belgier, aber ich habe auch schon in England gearbeitet und bin ein Europäer. Es hat mich immer fasziniert, in anderen Kulturen zu arbeiten. Das bedeutet ja nicht nur Kampf mit einer Institution, sondern auch die Aneignung einer Kultur. Man lernt, mit anderen Augen zu sehen, was andere kennen, aber vergessen haben. Aber einfach wiederholen kann man nichts. Das haben manche Kollegen vergessen….




(Juli 2012)




Foto Serge Dorny
Serge Dorny (Foto © Philippe Pierangeli)

Serge Dorny wurde 1962 in Belgien geboren. Er begann seine berufliche Laufbahn 1983 am Théâtre de la Monnaie in Brüssel, ging 1996 als Künstlerischer Leiter des London Philharmonic Orchestra nach London und ist seit 2003 Opernintendant in Lyon.






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