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James Rhodes:
Der Klang der Wut



Anzug? Scheiß drauf! Bach und Chopin für alle!

Von Stefan Schmöe

Hierzulande ist der englische Konzertpianist James Rhodes ziemlich unbekannt; eine Autobiographie des gerade einmal 41-jährigen wäre kaum von Interesse - doch die hat es in sich: Offen berichtet Rhodes, wie er als Schüler immer wieder von einem Sportlehrer vergewaltigt wurde, von Suizidplänen und Aufenthalten in der Psychatrie. Auch wenn er sich mit Details zurück hält, wird schnell klar, wie verharmlosend der Begriff "sexueller Missbrauch" sein kann. Eine Darstellung aus der Perspektive des Opfers, unverstellt zwischen Selbstmitleid und Selbsthass pendelnd und darin sehr authentisch, in drastischer, oft obszöner Sprache - das wäre, so beklemmend das auch ist, kein Fall für das Musikfeuilleton, nicht einmal dadurch, dass Rhodes den zwanzig Kapiteln des Buches jeweils ein klassisches Musikstück an die Seite stellt (alle Stücke können über eine entsprechende Playlist beim Musikdienst spotify nachgehört werden).

Musik als Gegenentwurf, aber auch emotionale Überhöhung der traumatisierenden Realität - das ist im Buch weniger kitschig als man meinen könnte (auch wenn ein entsprechender Beigeschmack bleibt), weil man Rhodes seine Geschichte abnimmt, aber auch der Begeisterung wegen, die aus seinen (inhaltlich eher banalen) Äußerungen über Musik spricht. Rhodes' zentrale Idee geht aber noch darüber hinaus: Wenn die Musik von so existentieller Bedeutung sein kann, so der Hauptgedankengang, dann muss man sie aus den Fängen einer oberflächlichen bürgerlichen Repräsentationskultur befreien und öffnen für alle, insbesondere für "kulturferne" soziale Schichten. Und so verschiebt sich der Akzent mehr und mehr vom Nacherzählen der eigenen Lebensgeschichte hin zu einem flammenden Plädoyer für einen "anderen" Konzertbetrieb.

Das ist ja ein an und für sich nicht unsympathischer Ansatz. Rhodes gefällt sich in der Attitüde des rebellierenden Pop-Stars unter den klassischen Pianisten, der gleichzeitig musikalische Tiefe, ja: Wahrheit vermitteln möchte statt glänzender Oberfläche. Andererseits ist er erzkonservativ, wenn es um die Auswahl der Musik geht: Bach, Chopin, Schumann und Schubert, aus dem 20. Jahrhundert gerade noch Ravel. Musical oder Crossover lehnt er ab, alles jenseits der vertrauten Tonalität auch. Brahms und Chopin auf der einen, Ligeti und Birtwistle auf der anderen Seite, das sind, so schreibt er, "wirklich zwei ganz verschiedene Ligen". Da geht er eine merkwürdige Allianz mit denen ein, die er ansonsten wütend angreift.

Seine Forderungen an einen besseren Konzertbetrieb wirken dabei oft wie von Vorgestern. Das beginnt bei der Bestandsaufnahme: "Nahezu alles, was die klassische Musik betrifft, ist reglementiert: Kleiderordnung, Aufführungspraxis, Programmhefte, Beleuchtung, Präsentation, Konzertformat, Beifall, Auswahl des Repertoires, Aufführungszeiten, Etikette für Interpreten und Publikum, Auswahl des Veranstaltungsortes und so weiter und so fort". Nun ist die ungeschriebene Kleiderordnung in den allermeisten deutschen Konzerthäusern - hochpreisige Festivals vielleicht ausgenommen - längst liberal, Konzerte zur Lunch-Time und an ungewöhnlichen Orten haben sich in vielen Städten etabliert; Gesprächskonzerte sind ein erprobtes (und hier und da wieder verworfenes) Format, die Auswahl des Repertoires ist in aller Regel deutlich weiter als das, was Rhodes mit seinem programmkonservativen Zugang selbst zuließe, und Beifall am Ende eines Stücks statt zwischendurch dient ja weniger der Gängelung des Publikums als der Aufmerksamkeit für den Spannungsbogen eines Musikstücks. Weitere Forderungen wie "Geht in die Schulen!" beherzigt inzwischen auch so gut wie jedes Orchester. Ziemlich alte Hüte also, die Rhodes da präsentiert. (Und anderes scheint kaum durchdacht: "Erlaubt dem Publikum, Getränke mit hineinzunehmen." Das passiert ja inzwischen gelegentlich - und kann ganz schön stören.)

Das sind keine wirklich neuen Ideen; stattdessen arbeitet sich Rhodes an populären Klischees ab (da dürfen die Musikkritiker - "als Akademiker verkleidete Arschlöcher und Wichser" - nicht fehlen). Mit deftiger Sprache. In der deutschen Übersetzung (Giovanni und Ditte Bandini) wimmelt es von Formulierungen wie "scheißt auf die ganze verfickte Sippe" (gemeint ist hier die Konzert- und Plattenindustrie), und auch 35 Jahre nach dem ersten Schimanski-Tatort bleibt da eine gewisse Irritation. Den Musikbetrieb derart drastisch zu hinterfragen, in der Verbindung zur eigenen (dem Betrieb völlig entgegenstehenden) Biographie inhaltlich wie auch sprachlich, das hat auch etwas Befreiendes. Kurz gesagt: Ein rätselhaftes Buch mit vielen Passagen zum Ärgern, aber über ein paar Dinge denkt man trotzdem nach.

(Februar 2016)



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Cover


James Rhodes:
Der Klang der Wut
Wie die Musik mich am Leben hielt
Titel der Originalausgabe:
Instrumental. A Memoir of Madness, Medication and Music.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

320 Seiten,fester Einband
Nagel & Kimche, Zürich 2016
ISBN 978-3-312-00654-0
€ 22,90
als E-Book (ePUB-Format) € 16,90



Weitere Informationen unter:
www.hanser-literaturverlage.de/
www.jamesrhodes.tv/




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