Online Online Veranstaltungen & Kritiken
Festspiele
Homepage zurück e-mail Impressum



Musikfest Bremen 1998

29. August bis 30. September

Rezensionen

von Annette van Dyck

Anonymous 4: Hildegard von Bingen am 8. Sept. 1998 in Unseren Lieben Frauen Kirche Bremen Terry Riley & Friends: Book of Abbeyozzud am 13. Sept. 1998 im Fischereihaven Bremerhaven
Klaus Maria Brandauer rezitiert "Peer Gynt" mit der Musik von Grieg gespielt von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen geleitet von Thomas Hengelbrock Esa-Pekka Salonen dirigiert das Philharmonia Orchestra London


Anonymous 4

am Di. 8. September, 20.00 Uhr in Unser Lieben Frauen Kirche

Programm:

Hildegard von Bingen: 11.000 Virgins - Musik zum Fest der Heiligen Ursula


"MIRABILIS DEUS IN SANCTIS SUIS" (Gott ist wunderbar in seinen Heiligen) - Klare Klänge von 'Anonymous 4'

DAS CHRISTLICHE ABENDLAND

'Gibt es wohl wirklich eine Möglichkeit, diese Art von Musik zu verstehen?', frage ich mich, während ich die über 500 Jahre alten Gesänge der vier Frauen höre, die in der Kirche Unseren Lieben Frauen in Bremen unter dem Namen Anonymous 4 konzertieren. Was verbindet uns noch mit dieser Zeit, in der die größte Sorge der meisten das tägliche Überleben und gleich danach die um das ewige, aber ständig gefährdete Seelenheil war? Können wir uns überhaupt vorstellen, in welch hohem Ansehen die christlichen Orden standen, wenn die Adeligen ihre Kinder dorthin gaben zur Erziehung, zur Versorgung und aus politischen Gründen? Wo sind eigentlich heutzutage die Freiräume, in denen (privilegierte) Frauen in einer Institution Karriere machen können, zudem Zeit finden, philosophisch-künstlerisch tätig zu sein und damit auch noch allgemeines Ansehen gewinnen?

"Philosophisch-künstlerisch" - man sollte Hildegard von Bingens Arbeit nicht so nennen. Ihre Musik und ihre Texte sind nicht im mindestens unseren Begriffen von Kunst und Philosophie verpflichtet. Immer geht es um den einzelnen Menschen und Gott; Hildegard beschreibt "Gesichte", die sie auf einer überklaren, man mag sagen: 'erleuchteten' Erkenntnisebene erlebt, wie sie Gläubigen vieler Religionen zugänglich ist. Gemeinhin bezeichnet man sie und andere seit dem 12. Jahrhundert ähnlich produktive Geistliche als Mystiker und Mystikerinnen. Damit faßt man christliche, oft lateinische Literatur zusammen, in der versucht wird, religiöse Spiritualität in einen bildhaften, expressiven Stil zu fassen. Es gab eine ganze Reihe solcher Männer und Frauen - die meisten von der römischen Kirche eher ungeliebt, weil sie oft eine sehr sinnliche, ekstatische und auch erotische Ausdrucksweise pflegten. Das Besondere an Hildegard war wohl, daß sie außerdem auch komponierte und daß sie zu den ersten bekannten Mystikerinnen gehört.

WERK UND AUTOR(IN)(EN)

Hildegard von Bingen wurde 1098 als 10. Kind in einer rheinhessischen Adelsfamilie geboren. Im Benediktinerkloster Disibodenberg bei Mainz erzogen übernimmt sie mit 38 Jahren dessen Leitung und gründet 1147 ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, pflegt Kontakte zu Papst, Kaiser und hohen Geistlichen, legt über sechzigjährig noch den Grundstein für ein weiteres Frauenkloster und stirbt im damals absolut biblischen Alter von 81 Jahren. Die Katholiken feiern Hildegards Andenken übrigens am 17. September.

Die Äbtissin hat in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Zuge einer neuen Mittelalterbegeisterung eine opulente Renaissance erfahren; ihre mystischen Texte werden besonders in Esoterik-Kreisen gelesen. Man findet ihre Musik nicht nur in Samplern auf CD, und neuerdings kann man sogar All-Hildegard-Konzerte besuchen - jedenfalls war das zu besprechende so überschrieben.

Doch gibt es kein Ursula-Drama aus der Feder von Hildegard, nur ein lateinisches Stück "Ordo Virtutum", frei übersetzt 'Das Reich der Tugend', eine etwas dröge, will sagen: trockene Anweisung, wie man sich im Mittelalter standesgemäß verhält, die mit der Heiligen Ursula eher wenig zu tun hat. Also lauschten wir zwangsläufig einer neuen Zusammenstellung von diversen Gesängen aus dem 12. bis 14. Jahrhundert aus verschiedenen Quellen von unterschiedlichen Orten stammend darunter sechs Kompositionen, die Hildegard zugeschrieben werden; die meist einstimmigen Gesänge waren sinnvoll für die täglichen Andachten 'Vigil', 'Laudes' und 'Vesper' geordnet, jeweils unterbrochen von der Erzählung der Legende von Ursula und ihren 11.000 Jungfrauen in hübschem Märchen-Englisch.

Laut Programmheft zeichnen sich Hildegards Gesänge durch einen jeweils besonders weiten Ambitus und durch relativ häufigen Gebrauch von Quinten und Quarten aus sowie durch gedehnte Melismen. Letzteres war tatsächlich recht ohrenfällig und unterscheidet sich schon deutlich von einer Psalmenlitanei, doch ich würde mir niemals zutrauen, die nicht von Hildegard komponierte Musik von ihrer eigenen zu unterscheiden: zu ähnlich klangen viele Melodien und erforderten von den Zuhörern Geduld und das Einlassen auf den meditativen Charakter des Konzertes.

Bemerkenswert allerdings, wie sensationell einfache zweistimmige Passagen plötzlich wirken, wenn das Ohr sich erstmal an den einstimmigen Gesang gewöhnt hat. Sogar ein monotoner Bordun ruft dann die Wirkung eines Tutti-Einsatzes in einer Symphonie hervor.

DIE INTERPRETEN

anonymus4.jpg - 13,35 KAbgesehen von der Programmzusammenstellung, der Quellenauswahl und der Dramaturgie des Abends haben die Interpretinnen auch dieses klare Klangerlebnis zu verantworten. Ein bißchen spielte auch die Akustik der Kirche Unser Lieben Frauen in Bremen mit, aber den wie eine Mischung aus knabenhaften und ungeschulten Stimmen wirkenden homogenen Klang und die insgesamt sichere Intonation verdanken wir 'Anonymous 4', dem Frauenquartett, das sich nach der Bibliotheksbezeichnung einer der berühmtesten Quellen der Notre-Dame-Mehrstimmigkeit benannt hat. In den wenigen mehrstimmigen Teilen des Konzertes und in der Zugabe schien außerdem das souveräne harmonische Zusammenwirken von Susan Hellauer, Johanna Maria Rose, Marsha Genensky und neuerdings Jaqueline Horner auf. Es ist gut, daß sich ein solch professionelles Ensemble der heute fast fremden mittelalterlichen Kirchenmusik annimmt.

PUBLIKUMSREAKTIONEN

Kaum jemand verlor nach dem Konzert ein Wort über das Konzert, sehr ungewöhnlich. Vielleicht ist das Bremer Publikum doch zu reformiert, um von der mystischen Feierlichkeit dieser alten Kirchengesänge länger beeindruckt zu sein, als ein herzlicher Applaus dauert. Schade, ich finde es durchaus inspirierend, sich in seinen Wahrnehmungsgewohnheiten mal etwas stören zu lassen.

Es mag ein weiterer Hinweis auf die Fremdheit dieser Welt sein, in die uns Anonymous 4 zu entführen versuchte. Und obwohl man sich nicht vormachen sollte, daß ein solches Konzert auch nur irgendwie 'authentisch' wäre, würde ich mich an Ihrer Stelle bei nächster Gelegenheit auf ein 'Fremdgehen' mit Anonymous 4 einlassen.

nach oben


Terry Riley & Friends

am So. 13. September, 20.00 Uhr im Fischereihafen in Bremerhaven

Programm:

The Book of Abbeyozzud:

D. Tanenbaum/ W. Winant: Dias de los muertos:
Se Aparece la Muerte Inocentemente por la tarde (1997)
La Muerte en Medias Cladas Negras
D Tanenbaum: Barabas
T. Silverman, D. Tanenbaum: Cantos Desiertos (1996):
Quixote - Canto Desierto - Llanto - Tango Ladeado - Francesco en Paradasio
Gyan Riley: Piedad (1995)
G. Riley, D. Tanenbaum: Zamorra (1996)
A.Pierri, G. Riley, T. Riley, T. Silverman, D. Tanenbaum, W. Winant: MissiGono (1998)


"It cost a fortune, but life is free..." - Teure Eintrittskarten für ein minimal(istisch)es Werkstattkonzert mit Terry Riley und seinen Freunden

DRUMHERUM

Hierzulande bestehen trotz der Erfolge einiger Minimal-Komponisten wie Steve Reich und Phil Glass immer noch große Informationslücken über amerikanische Musik. Man kennt ja vielleicht George Gershwin, evtl. auch noch Aaron Copland (Appalachian Spring) oder Samuel Barber (Adagio for Strings), aber das war's dann. Kein Mensch hat jemals Musik von Harry Partch (1901-1976) gehört, geschweige denn Conlon Nancarrow (1912-1997) oder George Crumb (1929-); aber all diese Leute wollte ich erwähnen, um Ihnen etwas über die Musik von Terry Riley zu erzählen, was mach ich denn jetzt nur?

Fangen wir mit Keith Jarrett (1945-) an. Von Zeit zu Zeit höre ich begeisterte, mit entfernten Blicken erzählte Berichte über dessen Klavierkonzerte, besonders das Köln-Konzert. Seine Musik gehört fast schon zur New Age-Szene, und gerade mit Jarrett am Klavier ist Terry Riley am Klavier durchaus vergleichbar. Außerdem hat der Klavierstil Rileys aber auch viel zu tun mit der experimentellen Musik Conlon Nancarrows, dessen Kompositionen für elektrisches Klavier sehr komplizierte Rhythmen aufweisen: es hört sich oft ein bißchen wie zerhackt an, wie ein etwas holpriger Ragtime; auch der Jazzpianist Art Tatum hat manchmal so gespielt.

Wichtig für das Verständnis vieler Minimal-Komponisten ist nicht zuletzt die lange Tradition der Naturmystik in den Vereinigten Staaten, die für manche zeitgenössischen Komponisten zum Grundkonzept ihrer Arbeit geworden ist. Schon Partch verband seine Musik mit mystisch-magischen Bedeutungen, er baute jedes seiner Viertel- und Drittelton-Instrumente selbst, um die angestrebten exotischen Klänge zu optimieren, seine Kompositionen wie etwa 'Daphne of the Dunes' könnte auch von einem heutigen Minimalisten stammen, wurde aber 1958 geschrieben.

Den etwas abseits von Szenen und Richtungen arbeitenden George Crumb würde ich nicht als Minimalisten bezeichnen, doch seine illustrative, häufig Naturklänge imitierende Musik nimmt einige Prinzipien der New Age-Musik vorweg; auch Crumb glaubt an ein ideales harmonikales Weltbild, dessen Bedrohung er in seinen Kompositionen immer wieder thematisiert. Typisch für ihn sind unter anderem ungewöhnliche Kombinationen von Sprache, Musik und bildlicher Darstellung.

DER KOMPONIST UND SEINE FREUNDE

Terry RileyTerry Riley will sich ebensowenig festlegen lassen. Die Bezeichnung Cross-Over-Komponist kann man schon gelten lassen, denn er bezieht seine stilistischen Anregungen aus verschiedensten Bereichen; vor allem mag man nicht entscheiden, ob die Musik in eine der Schubladen 'E-Musik' oder 'U-Musik' abgelegt werden kann (das weiß nur die GEMA). Riley kratzt auch nicht zu knapp an der Position des Komponisten selbst: Riley & Friends bezieht sich auch auf die Autorschaft des "Book of Abbeyozzud", eine ganz neue, etwas merkwürdig aufgebaute Komposition, die die Melancholie spanischer Gitarrenmusik mit der Motorik von Minimalmusik verbindet und im Fischereihafen in Bremerhaven ihre Europapremiere erlebte. Außer Terry Riley am Klavier waren auch die Gitarristen David Tanenbaum, Alvaro Pierri und Gyan Riley, der Percussionist William Winant und Geiger Tracy Silverman an der Entstehung beteiligt, wobei Terry Riley wohl für die meisten Stücke verantwortlich zeichnet. Bis auf Pierri, der einschlägig als klassischer Gitarrist bekannt ist, versammelten sich hier eine Reihe von Cross-Over-Musikern, die - wenn ich eine Ansage von Tanenbaum richtig verstanden habe - sich im Urlaub zum gemeinsamen Musizieren und Komponieren oder zumindest zum Zusammenstellen von zwischen 1995 und 1998 entstandenen Einzelkompositionen zusammengefunden hatten.

MUSIK UND DARBIETUNG

Die Stücke bekamen ihren geheimnisvollen Titel von Terry Riley: 'Abbeyozzud' ist der Name einer Straßenausfahrt in der Nähe von Rileys Haus. Das Stück soll 24 Teile haben, vermutlich wurden nicht alle gespielt; leider ging dies aus dem schrecklich unpräzisen Programmheft nicht hervor. Manche Stücke hatten wohl auch mehrere Sätze, aber das Publikum hatte wegen fehlender Information keine Chance, Zusammengehörigkeiten zu würdigen, also klatschen wir nach Gutdünken. Es war ohnehin schwierig die Abfolge nachzuvollziehen, da noch während des Konzertes Besetzungswechsel und veränderte Stückfolgen angesagt wurden. Nicht daß dies so furchtbar wäre, aber es unterstrich den Werkstattcharakter, den das ganze Konzert auch aufgrund der geringen Publikumsresonanz besaß und der sich auf die Qualität der Darbietung massiv auswirkte.

David Tanenbaum und Tracy Silverman'Tag des Todes' für Gitarre und Schlagzeug schien mir nichtssagend, klanglich undurchdacht und trotz eines engagierten Winant schlecht zusammengespielt. Mit 'Barabas' schien Tanenbaum überfordert, und die 'Wüstengesänge' erschöpften sich weitgehend in ungeübten Plattheiten. Gerade einfache Linien müssen sauber intoniert sein, aber es war insgesamt nicht gerade der Abend von Silverman und Tanenbaum, warum auch immer. Immerhin schien bei 'Tango Ladeado' und (vermutlich) 'Francesco en Paradaiso' ein geistreicher Kompositionsstil durch mit witzigen, den Tango überzeichnenden Rhythmen und klangvollen minimalistisch repetitiven Läufen.

Nach der Pause endlich ein Niveausprung um mehrere Meilen aufwärts: Terry Rileys Sohn Gyan spielte 'Piedad', ein wunderbar melancholisches Stück, das in der besten Tradition spanisch-südamerikanischer Gitarrenmusik steht und vom Vater für den Sohn geschrieben wurde. Gyan Riley bestach durch einwandfreie Technik und sichere musikalische Gestaltung, aber er hatte es vor der Folie des ersten Teils auch leicht, unsere Begeisterung zu gewinnen. Zusammen mit ihm verbesserte in 'Zamorra' auch David Tanenbaum den Eindruck, den er bei uns hinterlassen hatte, doch die Synchronisierungsprobleme blieben ein Charakteristikum dieses Konzertes. Der erste Satz des von allen mit Spannung erwarteten minimalistischen Ensemblestücks 'MissiGono' war meines Erachtens ein Fiasko, da stimmte aber auch nichts überein. Schließlich wurde es dann doch noch recht unterhaltsam, besonders als Terry Riley anfing, zu einem Siebenermetrum zu singen. Leicht sarkastisch mutete der Text an: "it cost a fortune, but life is free..." - das Leben ist tatsächlich teuer, man denke nur an die Ticketpreise des Musikfestes; und keiner gibt einem die Garantie auf ein gutes Konzert, weil sich die Künstler ja doch immer ihre Freiheit nehmen...

Terry Riley am Klavier als Zugabe machte mir klar, daß ich einfach im falschen Konzert war: ich hätte zu seiner Soloperformance am Donnerstag gehen sollen und mich von seiner routinierten, jazzig-newagigen Spielweise beeindrucken lassen sollen.

PUBLIKUMSREAKTIONEN

Nochmals würde ich den Weg von Bremen nach Bremerhaven für eine solche Zumutung ganz bestimmt nicht auf mich nehmen. Andererseits tut es mir leid, ein Konzert mit im Prinzip interessanter neuer Musik verreissen zu müssen.

Es war sicher nur etwas für hartgesottene Fans, die in der Pause mit den Musikern ein Bier trinken. Niemals aber, niemals würde ich mitten im Konzert, 10 Minuten vor der Pause von meinem Sessel aufstehen und quer durch den Saal trampelnd demonstrativ den Ausgang suchen wie diese vier männlichen und weiblichen Typen da am Sonntagabend. Das war wirklich das Letzte.

nach oben

Brilliante Symbiose der Künste. Brandauer spricht "Peer Gynt" in einer konzertanten Fassung

Mitwirkende:

Klaus Maria Brandauer / Peer Gynt
Ursula Fiedler (Sopran) / Solveig
Martà Kosztolànyi (Sopran) / 1. Säterin /Anitra
Edith Saint Mart (Alt) / 2. Säterin
Rannveig Sigurdardottir (Alt) / 3. Säterin
Robert van der Vinne (Baßbariton) /Dieb
Dominik Wörner (Baßbariton) / Hehler

weitere Sprecher:
Steffi Dvorak / Solveig
Maria Hengge / Aase
und andere

Christian Weißkircher, Lichttechnik

Collegium Vocale Gent
Deutsche Kammerphilharmonie

Thomas Hengelbrock, Dirigent
Klaus Maria Brandauer, Regie

GANZ KURZER EXKURS ZUR MUSIKKRITIK

Oh, es erhebt doch in ganz anderem Maße, Menschen uneingeschränkt zu loben als irgendwie an ihnen herumzukritteln und die eigene Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen. Soviel dazu!

KONZEPT UND KONTEXT

"Konzertante Fassung von Henrik Ibsens Drama" wurde genannt , was wir da geboten bekamen, aber eigentlich war es vor allem eine Rezitation des Dramas mit musikalischen Zwischenspielen, Gesängen und melodramatischen Passagen. Kein Einwand dagegen - vor allem dann nicht, wenn die Künste mal einmal derart brilliant zusammenwirken. Wer hatte eigentlich die Idee zu dieser furiosen Kombination, die nichts von der gepflegten Langeweile konzertanter Opernfassungen hatte, sondern schon nach 5 Minuten unsere Phantasie auf die Reise in die kargen Hochebenen Norwegens schickte, auf die Gipfel am Rand der zerklüfteten Fjorde, zu Trollen und Feen, Elch und Schneehuhn? Vielleicht hält hanseatische Bescheidenheit den Dirigenten Thomas Hengelbrock davon ab, seine Kreativität und Archivarbeit in den Vordergrund zu spielen, jedenfalls hatte Klaus Maria Brandauer (auch) durch seine Regiearbeit einen erheblichen Anteil am überzeugenden Erfolg des nicht von jeher nicht ungefährlichen Konzeptes, den tiefgängigen Ibsen-Text mit einer Folge von 'Klassikschlagern' zu garnieren.

Eduard GriegEduard Grieg bevorzugte das Musiktheater nicht gerade: seine Oper blieb unvollendet und von seinen beiden Bühnenmusiken kennen wir eigentlich nur die zu 'Peer Gynt' und auch diese vor allem durch die beiden Suiten, die Grieg daraus zusammengestellt hat. Ibsens Stoff von 1867 in Kombination mit Griegs brilliantem Orchesterstil von 1876 hatte außerhalb Norwegens wenig Erfolg. Ibsens Kritik am rücksichtslosen Willen des Einzelnen zur Selbstverwirklichung, seine ironischen Seitenhiebe auf die politischen Mächte in Europa und die selbstverständliche Einbindung einer irrealen Erlebnisebene des Protagonisten weisen 'Peer Gynt' als modernes Drama aus, dessen Bilder sicherlich Komponistenkreativität beflügeln kann. Doch das Musiktheater war am Ende des 19. Jahrhunderts vielleicht noch zu selbstbewußt und zu stark der heroisch-romantischen Operntradition verpflichtet, als daß die Kombination von philosophischem Drama und romantischer Bühnenmusik auf Dauer überzeugen konnte.

Na, macht nichts. Wir verdanken den Bemühungen der Komponisten eine Reihe immer noch sehr beliebter Suiten und Musiken - die L'Arlesienne-Suite von Georges Bizet gehört auch dazu -, die das Unmodern-Werden der Gattung 'Bühnenmusik' überlebt haben. Ach, wenn man es sich genau überlegt, hat diese Gattung vielleicht einfach nur das Medium gewechselt: von der Bühne auf's Zelluloid.

"WAS SEI DES MANNES STREBEN?"

Klaus Maria Brandauer'Dem Publikum ein Stern zu sein.' - Ich rede von Klaus Maria Brandauer. Dieses Gefühl für Zeit, diese Varianz der Stimmfärbung und -dynamik, die Überzeugungskraft der Gesten und seine gesamte konzentrierte und souveräne Haltung! So etwas ist Weltklasse, wenn Sie mir diese politische Äußerung gestatten. - Und es ist nicht weit von Musik in der Kontrolliertheit der Aktionen, im Zusammenwirken mit den anderen Akteuren, im punktgenauen Einsatz der Stimme.

Das gefiel mir ungeheuer gut, doch dies allein hätte den Abend nur halb so sehenswert gemacht. Eine weitere Hälfte ist seiner Regietätigkeit zu verdanken, die trotz geringer Mittel wie Auf- und Abgänge, Positionen, Aufstehen und Setzen jede Verdi-Inszenierung in Mailand hätte blaß aussehen lassen; sie wurde ergänzt durch eine dezente Lichtregie (Christian Weißkircher), die den Konzertraum der Glocke atmosphärisch einfärbte.

Thomas HengelbrockUnd die letzte Hälfte der Anerkennung (kann ich nicht rechnen? doch ich kann) gebührt der Gemeinschaft der übrigen Mitwirkenden, dem klangreinen, klar artikulierenden Chor, dem frisch und flexibel aufspielenden Orchester, den zahlreichen Sprechern und Sprecherinnen, den Sängern und Sängerinnen (hier besonders hervorzuheben: das aufregende Timbre der Martà Kosztolànyi als Anitra und die unverbrauchte Stimme der Ursula Fiedler als Solveig) und nicht zuletzt dem Dirigenten Thomas Hengelbrock, der die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen tempo- und differenzenreich durch den Grieg führte. Ihm gelang es, der Musik jede romantisch-schwülstige Sentimentalität zu nehmen und Griegs glänzenden, farbenreichen Orchesterstil deutlicher als sonst üblich in die Nähe von Bizet und Berlioz zu rücken.

PUBLIKUMSREAKTIONEN UND FAZIT

Die gerade renovierte Glocke in Bremen wird wohl nahezu ausverkauft gewesen sein, obwohl sie schon die zweite Aufführung dieser konzertanten Peer Gynt-Fassung erlebte. Das Publikum war ohne Ausnahme genauso begeistert wie ich; das gelegentlich etwas unterkühlt wirkende Bremer Publikum riss es zu Fußgetrampel hin und von den Sitzen. Gehen Sie noch schnell am 23. 9. hin, wenn Sie können.

nach oben

Esa-Pekka Salonen dirigiert das Philharmonia Orchestra London

am Mi. 30. September, 20.00 Uhr in der 'Glocke' in Bremen

Programm:

Esa Pekka Salonen, 'L.A. Variations' (1996)
Claude Debussy, 'La Mer' (1903-1905)
Igor Strawinsky, 'Le Sacre du Printemps' (1913)


Sinnliche Herausforderungen - Salonen dirigiert das Philharmonia Orchestra London

KEINE LEICHTE KOST FÜR DAS BREMER PUBLIKUM

Allerhand: wer hätte gedacht, dass eine konzertante Aufführung von Strawinskys 'Sacre' noch Menschen dazu bewegt, den Konzertsaal verständnislos zu verlassen? - Trotz einer bewundernswerten Aufführung zudem! Tja, man muß wohl sagen: für manche endet die Musikgeschichte eben doch im Jahre 1910.

HOLLYWOOD-VARIATIONEN

Dabei möchte ich den lauten Stöhnern, die das erste Stück kommentierten, fast recht geben. Die von Salonen 1996 für das Los Angeles Philharmonic Orchestra komponierten "L.A. Variations" schienen mir lieblos gespielt; besonders zu Beginn erweckten unsaubere Unisono-Passagen in den Streichern diesen Eindruck. Der Fortgang des Stückes wollte nicht überzeugen: mal passierte dort etwas, mal da - ich würde dies nicht nur der Komposition anlasten, sondern als Zeichen dafür sehen, dass das Stück den Musikern zu unvertraut war, als dass sie souverän aufeinander reagieren könnten wissend, was musikalisch geschehen muss.

Esa-Pekka SalonenSalonens Komposition schien mir ansonsten eher harmlos für ein modernes Orchesterstück, teilweise in sehr konventioneller Weise musikalische Mittel der sogenannten klassischen Moderne verwendend, also sozusagen 'neoneoklassizistisch'. Bläser und Schlagwerk dominierten unsere Ohren; die Streicher gingen in so manchem Tutti völlig unter. Harmonisch arbeitete Salonen mit Sechstongruppen, sogenannten Hexachorden, wie dem Programmheft zu entnehmen war; man kann seine Musik jedoch nicht als atonal, eher freitonal bezeichnen, denn manche Passagen entsprachen in ihrem harmonischen Verlauf fast bruchlos konventionellen Kadenzen. Dem Ohr wurde auch in einigen an Gershwins 'Amerikaner in Paris' erinnernden Einflechtungen geschmeichelt mit rhythmischen Bigbandanklängen. Wirklich gut gefiel mir Salonens Auskosten der tiefen, dumpfen Register verschiedener Orchesterinstrumente. Salonen empfahl sich hier jedenfalls als Komponist für Hollywoodfilmmusik, allerdings im Thriller-Bereich.

IMPRESSIONISTISCHE RUHEPAUSE

Claude DebussyAls die ersten Streicher die sinfonische Malerei 'La Mer' zu skizzieren begannen, atmeten alle auf - aus verschiedenen Gründen. Ich fand, dass das Orchester jetzt ein wesentlich besseres Bild abgab, akustisch gesehen. Leichte Probleme in den Streichern blieben zwar offenkundig, besonders wenn fragile Übergänge zu spielen waren, doch insgesamt agierten alle (auch der Dirigent) sehr viel differenzenreicher. Wir hörten spannungsvolle dynamische Entwicklungen, im zweiten Teil weitgespannte Bögen vereint mit durchsichtiger Phrasierung. Eine konzentrierte Atmosphäre verbreitete sich, Bedingung für das hohe Tempo. Schön klingende Flöten versüßten uns das 'Spiel der Wellen'. Gekonnt dramatisch davon abgesetzt: der Dialog von Wind und Meer - toll, wie Salonen und die Philharmonia dort interagierten. Salonens Dirigat bringt nicht nur Hörenswertes hervor, seine Choreographie muß man schon auch als sehenswert bezeichnen.

Debussys zwischen 1903 und 1905 entstandenes 'La Mer' anzuhören, ist im Prinzip eine Lehrstunde für Filmkomponisten. Ein dunkles Tremolo des Streicher langsam und klanglich bruchlos in ein düsteres Crescendo des gesamten Orchesters münden zu lassen, hat Debussy den Leinwandillustratoren im dritten Teil von 'La Mer' vorgemacht. Außerdem wurde meinen Ohren zum erstenmal bewußt, dass auch einige Minimaltechniken hier abgekupfert sind: wer mag, höre sich daraufhin doch mal den ersten Teil an.

EIN OPFER DER OHREN: DER 'SACRE' IN DER GLOCKE

Na, so 100 Dezibel werden's schon gewesen sein, die da permanent den Sturm auf unsere Ohren organisierten beim 'Sacre du Printemps', dem 'Frühlingsopfer'-Ballett, das Igor Strawinsky für Diaghilews Ballet Russe komponierte. Vielleicht ist die Akustik der Glocke doch ein bißchen zu gut für große Orchester; ich mag das aber noch nicht so beurteilen nach zwei Konzerten, die ich nun dort gehört habe. Vielleicht hätte auch Salonen die Philharmonia ein bißchen bremsen können, dann wäre vielleicht der eine oder andere Saalflüchtling doch noch bis zum Schluß geblieben, wer weiß.

Igor StrawinskySalonen führte uns einen gewalttätigen Sacre vor mit gnadenlos queren Rhythmen, hart und ohne Gnade die widerständigen Bläsereinsätze; das ließ schon ein wenig ahnen, warum der 'Sacre' bei seiner Uraufführung 1913 einen Eklat verursachte und man der Musik Barbarei vorwarf. Begnadet aber die Blech - und Holzbläser der Philharmonia: sicher und präzise in ihren Einsätzen, schön oder harsch im Ton wie erforderlich. Und laut...

Der 'Sacre' ist eine Ochsentour für Dirigenten mit seinen zahlreichen Tempo- und Taktwechseln und gehört hierzulande eigentlich nicht gerade zum zentralen Orchesterrepertoire, zumal es Ballettmusik ist und bleibt. Eigentlich schade, dass das in den Vereinigten Staaten sehr populäre Stück hier nicht öfter zu hören ist. Aber es braucht halt schon ein couragiertes Konzertmanagement, wie wir an den Publikumsabwanderungen gesehen haben; es braucht ein rhythmisch sicheres Orchester mit vorzüglichen Schlagzeugern und Bläsern sowie einen Spitzenklassen-Dirigenten, der nicht nur auf dem Podium glänzen, sondern dort richtig arbeiten will.

FAZIT

Das Publikum war teilweise unmöglich: man sollte schon wissen, worauf man sich einläßt, wenn man in ein Konzert mit Kompositionen des jungen Dirigenten, Debussys und Strawinskys geht. Manchen war wohl schon die Musik von 1913 zu modern.

Salonen bevorzugt den großzügigen Orchesterklang, das Ausschöpfen aller Klangreserven bis zur physischen Schmerzgrenze in Kombination mit temporeichem und präzisem Dirigat. Tatsächlich kann ich mir seinen Interpretationsstil gut für Mahler- und Brucknersinfonien vorstellen, doch Schwärmer seien gewarnt: Salonen verwöhnt sein Publikum nicht mit geschliffenen Klangträumen, sondern fordert es quasi körperlich heraus! Mich zumindest reizt das ungemein.

nach oben



Homepage zurück e-mail Impressum
©1998 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de/