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Mehr als "einfach nur Ballett"Perspectives Nouvelles Saarbrücken / Moselle 2003 (I)
6.-14.6.2003
Von Angela Mense und Sebastian Hanusa
Die Saarbrücker "Perspectives Nouvelles" waren stets in mehr als einem Sinne grenzüberschreitend. Mit dem Schwerpunkt auf französischem Theater ein Aushängeschild für den Kulturaustausch in der Großregion Saarland/Lorraine, gab es auch inhaltlich oftmals Grenzen sprengendes. Die Mauern der Theatersäle wurden mit dem ursprünglichen Akzent auf Straßentheater durchbrochen und auch seitdem sich die Veranstalter stärker arrivierteren Produktionen verschrieben haben, sind ungewöhnliche Räume oder auch Grenzgänge zwischen den Künsten Programm.
Da fand die Late-Lounge mit den Konzerten mit aktuellen Chansons im letzten Jahr im reanimierten Stadtbad statt, ein Bunker wurde als Spielstätte genutzt. Leider musste dieses Jahr aus baurechtlichen wie finanziellen Gründen der Festival-Club in die weitaus langweiligere Diskothek "Garage" umziehen. Das letzte Chanson-Konzert der Band "Mes souliers sont rouges" fand gar in der sterilen Atmosphäre der Kongresshalle statt. Dafür gab es dieses Jahr immerhin ein ungewöhnliches Theater-Stau-Spektakel in lothringischen Wäldern und eine ganze Reihe von ästhetischen Grenzgängen und somit auch ausreichend Stoff für ein Musik-Magazin.
Die wohl spektakulärste Aufführung war Felix Ruckerts "Secret Service" im Vortragssaal des Saarland-Museums. In der Region ist der Berliner Choreograph und Körper-Fetischist spätestens seit seiner interaktiven Performance "Deluxe Joy Pilot" bekannt, die im Frühjahr 2002 auf dem Forbacher Festival "M@rs attack" zu "erleben" war (wir berichteten). Trotzdem waren manche der in der Eingangshalle Wartenden etwas kleinlaut geworden. Lagen doch auf einem Beistelltisch Bücher mit Namen wie "Public Sex", "Different Loving" oder "The Culture of Radical Sex" aus. Man musste eine Nummer ziehen, die irgendwann per Digitalanzeige aufgerufen wurde. Aus dem Saal drangen elekronische Klänge, mal ruhig wummernd, mal aufreizend hart. Die Atmosphäre eine kuriose Mischung aus Bordell und Einwohnermeldeamt. Beruhigend wirkte indes der Programmzettel, auf dem ein ausführliches Regelwerk auf die etwas andere Tanzveranstaltung vorbereitete. Eine Augenbinde werde dem "Zuschauer" angelegt, man solle sich von den Tänzern "führen und bewegen" lassen, es gehe um "Bewegung, Sinnlichkeit und Kommunikation", um einen "intelligenten, spielerischen Dialog".
Wo Bühne und Publikumsraum zu einem einzigen Aktionsfeld verschwimmen, der Zuschauer zum Tänzer wird und umgekehrt, ist die Anonymität der Augenbinde hilfreich. Peinliche Gefühle seitens introvertierter Kandidaten entstehen erst gar nicht. Der von der Alltagskultur diktierte räumliche Abstand zum Gegenüber kann ja muss ohne Skrupel durchbrochen werden, um eine Welt entdecken zu können, die bisher nur visuell faszinierte und deswegen ein Mysterium blieb: das moderne Tanztheater. Taktil und deswegen voller sinnlicher, aber nicht zwangsläufig erotisch aufgeladener Spannungen ist diese Welt. Den visuell geprägten Menschen stellt es vor eine angenehme Herausforderung. Die Tänzer sind, wenn sie sich dem Objekt "Zuschauer" nähern, zu erfühlen etwa durch die Körperwärme oder zu "erriechen". Ohne Vorwarnung wird man am Arm gestreichelt, gezwickt, hoch gehoben, durch den Raum geführt, gezogen, beschnüffelt. Leicht wird derjenige zum Spielball, der sich nicht "emanzipiert". Also kräftig zurückstreicheln, kneifen und schnüffeln! Wems gefällt, kann so oft wiederholen, wie er möchte oder direkt an Stufe 2 teilnehmen, wo sich so manche Befürchtung bestätigt: Neben der Augenbinde gibt es Handfesseln und Peitsche, möglichst viele Kleidungstücke sollen abgelegt werden. Nur für "Mutige", sagt das Regelblatt, die der "Herausforderung emotional und physisch gewachsen sind". Oder für Angsthasen, sagen wir, die sich unter dem Label "Kunst" etwas trauen, woran sie ein moralisches Über-Ich bisher gehindert hat.
Lebende Bilder "In h-Moll"
Selber ästhetisch-moralisches Über-Ich zu sein, bot Ingrid von Wantoch Rekowskis Stück "In h-Moll" dem Publikum reichlich Gelegenheit. Da vergreift sich die derzeit in Brüssel lebende Regisseurin doch tatsächlich an einem der Höhepunkte abendländischer Musikgeschichte, Bachs "Messe in h-Moll"! Statt einer ordentlichen Aufführung mit Solisten, Chor und Orchester bevölkern je fünf Schauspielerinnen und Schauspieler die Bühne. In Lumpen Marke "flämisch-barock" gekleidet, wippeln sie geschäftig umher, drängeln sich aneinander, beschnuppern sich, werfen sich in Pose. Plötzlich fangen sie an, a capella Teile aus der h-Moll-Messe zu singen. Zwar sehr musikalisch, aber eben nicht mit ausgebildeten Stimmen, nicht mit der artistischen Vituosität, die das hoch anspruchsvolle Stück an die Sänger stellt. Eine Vergewaltigung des großen Thomaskantors? Was manchen Kunstfreund brüskiert, ist der originelle Versuch, Bachs Musik als Folie für barocke Tableaux vivants zu nutzen, die in loser Folge einen Assoziationsraum zwischen Metaphysik und alltäglichem Kleinkram entfalten. Ganz im Stile der alt-niederländischen Malerei begegnet einem das pralle Leben, wenn die Schauspieler in kurzen, pantomimischen Szenen menschliche Grundkonflikte zwischen Liebe, Lust und Tod skizzieren. Die Musik stiftet den formalen Zusammenhang und strahlt dabei auf eigentümliche Weise trotz oder wegen des "dürftigen" Vortrags eine tiefe Humanität aus. Leider hat das Geschehen auf der Bühne eine geringe Variationsbreite, so dass sich gegen Ende eine gewisse Langeweile einschleicht.
Tanztheater mit dem Holzhammer bot das Kollektiv "Peeping Tom" mit "Le Jardin". In der ersten Hälfte des Abends wurde ein Film vorgeführt: Im Ambiente eines mehr als zwielichtigen Nachtclubs läuft ein skurriles Varieté-Programm, während hinter der Bühne die Perversion tobt. Eine kleinwüchsige Tänzerin wird gedemütigt, schmierige Gestalten kaufen Frauen, und einem alten Mann (Simon Versnel) wird die minderjährige Tochter der Barmusiker zugeführt. Die Darstellungsweise des Films ist schonungslos, die menschlichen Abgründe werden ohne Verklärung und in aller Härte dargestellt.
Im zweiten Teil sitzt der gealterte Päderast der reale Simon Versnel nackt in einem Garten aus Kunstrasen und Plastikblumen. Die Endstation ist erreicht, nach der Perversion bleibt nur die Leere. Im Garten spielen sich absurde Situationen ab. Ein Tänzer macht wilde, akrobatische Verrenkungen, deren Charakter am ehesten als potenzierter Spasmus beschrieben werden kann. Eine Frau kommt hinzu, man tauscht Aggressionen aus. Der alte Mann erinnert sich an verflossene Besitztümer. Sinn- und Perspektivlosigkeit prägen das Geschehen, und nur mitunter kommt eine skurrile Komik auf so z.B. in dem Pas de Deux zwischen Frank Chartier und dem für sein fortgeschrittenes Alter und trotz beträchtlicher Leibesfülle erstaunlich gelenkigen Versnel. Letztlich bleibt ein taubes Gefühl nach einem kompromisslos harten Stück, das für sich beansprucht, nicht richten und nur darstellen zu wollen, das dem Publikum keinen Standpunkt andienen will. Über Ablehnung und Ekel hinaus lässt einen das Stück jedoch kalt, gerade, da es selber indifferent gegenüber seinem Sujet bleibt. Man nimmt zur Kenntnis.
Klinkerdomino in "d'avant"
Die Konfrontation von Orient und Okzident, von jüdischer, christlicher und moslemischer Kultur steht im Mittelpunkt von "davant". Das Stück ist eine Produktion der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Es entstand in Zusammenarbeit von je zwei Mitgliedern des in Gent ansässigen Kollektivs Ballets C. de la B (Sidi Larbi Cherkaoui, Damien Jalet) und des Ballett-Ensembles der Schaubühne (Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Luc Dunberry).
Vor einem Baugerüst zeigen die Tänzer, die gemeinsam auch die Choreographie entwickelt haben, Freundschaften und Konflikte zwischen vier Männern, die zugleich Repräsentanten der verschiedenen Kulturkreise sind. Dabei wird stark mit Symbolen gespielt, von der Kreuzigungspose über den Gebetsteppich bis hin zur jüdischen Kopfbedeckung. Deren Einsatz vermeidet indes die Eindeutigkeit, so daß es gelingt, den hochkomplexen kulturellen Beziehungen mit einer differenzierten und mehrdeutigen Darstellungsweise gerecht zu werden und Platitüden zu vermeiden. Der Ablauf des Stückes wird durch jene zentralen Motive strukturiert, die in einer geschickten Dramaturgie variiert und in verschiedene Kontexte gesetzt werden.
Ein weiterer zentraler Bestandteil ist die von den Tänzern selber gesungene Musik ein- und mehrstimmige Gesänge des Mittelalters. Deren karge
aber trotzdem sinnliche Strenge gibt dem Abend eine ganz besondere Atmosphäre, die durch die bespielten Materialien der Baustelle (Ziegelsteine, Stahlrohre
) zusätzlich unterstrichen wird. Faszinierend ist darüber hinaus, daß sich auch ironische Elemente bruchlos in das Ganze einfügen. So wird augenzwinkernd die gemeinsame Begeisterung für den Fußball gefeiert oder eine schräge Demo zelebriert. Formal ungemein dicht ist "davant" eine gelungene Reflexion über die gemeinsame Geschichte von Morgen- und Abendland und war neben Marguerite Donlons "BeBeb/Chocolate" der zweite ballettistische Höhepunkt des Festivals.
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