Auch kleine Festspiele können große Eindrücke hinterlassen.
Und Notlösungen können sich als Glücksfälle erweisen. So geschah es bei den Herbstfestspielen in Baden-Baden. Denn es gab nicht allein beeindruckende Interpretationen, sondern auch überraschend Neues zu hören und eine Opern-Aufführung in anregender Realisation.
Wohl eher der Zufall als bewusste Programmplanung hatte es gefügt, dass alle Komponisten dieses viertägigen Konzertzyklus in Wien gelebt und gewirkt haben. Der Bogen spannte sich dabei vom Wiener Spätbarock in Gestalt Antonio Caldaras bis zur Schwelle der Wiener Moderne mit Schönbergs "Verklärter Nacht".
Mit der Orchesterfassung dieses Streichsextetts aus dem Jahre 1899 begannen die Wiener Philharmoniker ihr Konzert unter der Leitung von Pierre Boulez. Es klinge, als habe jemand über die noch nasse Tristan-Partitur gewischt, befanden Kritiker seinerzeit, und Boulez beglaubigte dieses Urteil durchaus, was die harmonische Kühnheit dieses Werks angeht, blähte den schwelgerischen Ton aber weit weniger auf, als es der Vergleich mit Wagner vermuten ließe.
Diesem Stück programmatischer Kammermusik, das es auch in der Bearbeitung für Streichorchester in seiner Struktur durchaus bleibt, liegt ein schwülstig-schwüles Gedicht des Expressionisten Richard Dehmel zugrunde, in welchem in Mond beschienener Nacht eine Frau ihrem Begleiter gesteht, dass sie ein Kind von einem anderen empfangen habe aus Sehnsucht "nach Lebensinhalt, Mutterglück und Pflicht". Der Mann nimmt daraufhin das Kind als sein eigenes an, als "Glanz" in seinem Leben. "Er fasst sie um die starken Hüften. Ihr Atem küsst sich in den Lüften. Zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht." In der Art der Gedicht-Aussage eigentlich ein Fall für den in der Wiener Nachbarschaft praktizierenden Professor Freud, musikalisch aber durchaus ein reizvolles Stück voller atmosphärischer Stimmungen zwischen äußerlich Sichtbarem und inneren Erleben. In changierenden Klangfarben und einem komplexem motivischen Geflecht malt die Musik die nächtlich verklärte Szenerie.
In großer Streicherbesetzung spielten die Philharmoniker dennoch zart wie ein Kammermusikensemble, transparent und klar wie es nicht jedes Orchester kann. Boulez ließ die Solostellen organisch aus dem Ganzen erwachsen und ebenso wieder zurückgleiten. Der sprichwörtlich silbrige Streicherklang der Wiener Philharmoniker verhalf diesem von äußerlichen Effekten freien Stück zu schönster Wirkung, unter Boulez führte es das Orchester als ein Meisterwerk subtil intimer Klangmalerei vor.
Selbstportrait Schönberg
Selbstportrait Arnold Schönbergs, Mai 1910.
Plakat einer Ausstellung der Gemälde Schönbergs
in Cesky Krumlov 2004.
Foto: Christoph Wurzel
In den letzten Jahren erarbeitete Boulez mit den Wienern vor allem Mahler und Bruckner. Mahlers Vierte war vor 2 Jahren in Baden-Baden zu hören, nun wurde Bruckners Siebente vorgestellt. Bemerkenswert zuerst der Dirigierstil von Boulez: in äußerst präziser Zeichengebung, gelassen und fern jeder Extrovertiertheit, mit kontrolliertem Körpereinsatz geht er ans Werk. Schon dies bannt die Aufmerksamkeit ans musikalische Geschehen, führt geradewegs hinein in das orchestrale Geflecht. Der scharfe analytische Blick des Dirigenten in die Partitur teilt sich aufmerksamen Zuhörern in klar strukturierten Klangereignissen mit. Es sind nicht die berüchtigten Brucknerschen Wolken, die hier verschoben werden, sondern deutlich durchhörbare Formteile eines organischen Ganzen. Dennoch bleibt nichts von der Emotionalität der Musik verborgen, keine Ausdrucksfacette wird relativiert - vor allem im zweiten, dem Trauersatz nicht, den Bruckner unmittelbar unter dem Eindruck des Todes von Richard Wagner vollendete. Nicht die Gefühle des Dirigenten drängen sich in den Mittelpunkt, sondern die Musik vermag die in ihr angelegten Empfindungen beim Publikum zu evozieren - romantische Musik mit unromantischen Mitteln.
Die Philharmoniker spielten in nahezu makelloser Schönheit, gestört nur von einer klitzekleinen Intonationstrübung der Trompete im 1. Satz. Die Dynamik war perfekt ausbalanciert, die Polyphonie transparent entfaltet, die Homogenität der Stimmen beeindruckend.
So verklang mit dem hymnischen Finale der Sinfonie ein Konzert von allerhöchstem Festspielniveau.
Pierre Boulez beim Konzert mit den
Wiener Philharmonikern im Festspielhaus.
Foto: Andrea Kremper
Eigentlich sollte die Oper das Highlight der Festspiele werden; Mozarts "Titus" in der Produktion des Festival d`Aix-en-Provence in Zusammenarbeit mit dem Festspielhaus. Eigene Opernproduktionen sind in Baden-Baden nicht rentabel und technisch auch nicht gut machbar, so setzt man auf Koproduktionen, des öfteren auch mit Aix-en-Provence, wo zumeist musikalisch erfreulich frische und durchaus bemerkenswerte Inszenierungen geboten werden. Doch auch an solch einem renommierten Festspielort kann es einmal einen Flop geben wie in diesem Jahr ausgerechnet die "Titus"-Produktion. Rezensenten ließen an der Inszenierung kein gutes Haar und auch der Baden-Badener Intendant Andreas Mölich-Zebhauser befand, dass er dies dem heimischen Publikum nicht zumuten solle. Als Notlösung blieb also die konzertante Aufführung - in veränderter Besetzung. So verlockend scheint diese Aussicht aber auf große Teile des Publikums nicht gewesen zu sein, denn die Absagen erzwangen den Wegfall der geplanten zweiten Aufführung und lichteten die Reihen auch an dem verbliebenen Abend.
Mozarts letzte opera seria ist ohnedies nicht für ihre Zugkraft berühmt, die überaus langen Rezitative (wenn auch hier etwas gekürzt) stammen weitgehend nicht aus seiner Feder und die musikalischen Einfälle gelten als konventionell. Dass dem Schnellschreiber für dieses Auftragswerk anlässlich der Krönung des böhmischen Königs wenig Zeit zur Verfügung stand, mag dafür gar nicht der entscheidende Grund gewesen sein, eher vielleicht schon die angegriffene Gesundheit. Wahrscheinlich aber ist auch das Sujet verantwortlich, dass diese verspätete Seria an die vorangegangenen Opern nicht heranreicht - ein Thema, das dem bürgerlich freien Künstler ferngerückt sein mochte: die barocke Vermischung einer Staatsaktion mit den ganz privaten Gefühlen hoher Personen, gespickt mit Intrigen und zuletzt einem lieto fine von dürftiger Überzeugungskraft, wenn auch die Aussage zum Anlass der böhmischen Krönungsfeiern ideologisch umso korrekter war. Dafür mag dem zu genauer und dramatisch wahrhaftiger Handlungs- und Personenzeichnung gereiften Komponisten einfach die rechte Motivation gefehlt haben.
Doch dass auch diese Oper "schöne Stellen" enthält und vor allem eine lohnenswerte Aufführung erlaubt, wurde nun in Baden-Baden erfahrbar.
Es spielte die Akademie für Alte Musik Berlin, ein Originalklangensemble, das z.B. an der Berliner Staatsoper für das barocke Repertoire zuständig ist und auch regelmäßig die Opernproduktionen der Innsbrucker Festwochen begleitet. Die Ouvertüre ging es recht kernig an, trocken in der Tongebung und etwas steif in der Agogik. Vor allem in den sensibel zurückgenommenen Arienbegleitungen entwickelte sich der Klang aber weicher und verbindlicher. Alain Altinoglu heizte bisweilen das eher verhaltene Temperament des Orchesters erfolgreich an.
Kresimir Spicer
Der kroatische Tenor Kresimir Spicer,
der 2003 auch schon den Aeneas (Purcell)
in Baden-Baden gesungen hatte.
Foto: pr
Dass in einer konzertant gebotenen Oper die Sängerinnen und Sänger langweilig auf den Stühlen sitzen, muss nicht sein - so war eine aufmerksame Dramaturgie auf den Einfall gekommen, die Rezitative gestisch gestalten zu lassen. Durch Auftritte und Abgänge, körpersprachliche Momente und mimische Akzentuierung kam eine halbszenische Darstellung zustande, die nicht nur den Inhalt der gesungenen Passagen zu übersetzen, sondern auch deren Länge angenehm zu verkürzen vermochte. Und die Sängerinnen und Sänger spielten mit, was dem konzertanten Ritual eine angenehme Lebendigkeit verlieh. Kresimir Spicer zeichnete den Imperator eher als verinnerlichten Träumer denn als strahlenden Helden. Anfangs ein wenig flackrig im Piano-Ton ( "Del più sublime soglio") gewann er Sicherheit bis zu den strahlend eleganten Koloraturen in seiner dritten Arie ("Se all´impero, amici Dei"). Marie-Claude Chappuis sorgte als Sesto mit warm strömendem Mezzo und großer Ausdruckspalette besonders in der von der obligaten Klarinette begleiteten Entsagungsarie ("Parto, ma tu ben mio") für ein ergriffenes Publikum. Ebenfalls Liebesverzicht leistet Vitellia und ihre Arie, das Rondo "Non più di fiori", wird vom Bassetthorn reizvoll begleitet, dessen Einsatz hier auf offener Bühne beeindruckend zu erleben war. Eva Jenis sang die Partie mit sicherer Einfühlung und dem nötigen gesättigten Stimmumfang. Mit weichem und leicht geführtem Sopran gestaltete Amel Brahim Djelloul eine innige Servilia und Stéphanie d`Oustrac mit einnehmend schöner Stimme deren Liebhaber Annio. Simon Kirkbride dagegen gab den Publio ein wenig knödelig. Souverän rundete der Arnold-Schönberg-Chor das Bild einer musikalisch gelungenen Aufführung ab.
Thomas Hengelbrock, Gründer und Leiter des
Balthasar-Neumann-Ensembles und -Chores.
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Eine außergewöhnliche Musikerpersönlichkeit ist Thomas Hengelbrock - mehrfach schon bewiesen auch in Baden-Baden mit Aufführungen, die man nicht so schnell vergisst. Sein und seiner Ensembles Markenzeichen ist es in gleicher Weise, bekannten Werken die Patina abzupolieren wie Neuentdeckungen zu spannenden Abenteuern werden zu lassen. Hengelbrock scheint mit dem untrüglichen Spürsinn eines musikalische Schatzsuchers ausgestattet zu sein. So stellte er in Baden-Baden dem Mozartschen Requiem eine Dies- irae-Vertonung von Antonio Caldara voran.
Caldara starb genau 20 Jahre, bevor Mozart geboren wurde. Er wirkte in Wien als Vizekapellmeister am kaiserlichen Hof. Unter seinen rund 80 Opern findet sich auch "La clemenza di Tito", eine Vertonung eben desselben Librettos von Metastasio, dessen sich Mozart später bediente. Caldaras Musik soll im Wien des Spätbarock beliebt gewesen sein - dass sie auch heute noch beeindrucken kann, bewies die Aufführung des "Dies irae" durch Hengelbrock und seine Ensembles.
Dieses bisher unbekannte Werk (es wurde erst 1978 veröffentlicht) fordert den Vergleich mit Mozarts Requiem geradezu heraus. Beide Komponisten halten sich an denselben Text aus der lateinischen Messliturgie. Caldara vertont die Erzählung vom Weltgericht fast opernhaft und musikalisch äußerst vielfältig und abwechslungsreich. Der Text ist in 18 Nummern unterteilt und wird in szenenartiger Abfolge in unterschiedlichen Formen musikalisch gestaltet- von der virtuosen Soloarie über das mehrstimmige Ensemblestück bis hin zur komplexen Chorfuge spannt sich der kompositorische Formenreichtum.. Den Soloinstrumenten bietet Caldaras ausladende Komposition ein breites Wirkungsfeld und sowohl die Gesangs- wie Instrumental-Solisten der Balthasar-Neumann-Ensembles konnten mit einem präzisen Gespür für Phrasierung und Spannungsaufbau die Bandbreite ihrer Künste zeigen. Caldaras Musik erblühte in spätbarocker Pracht und zugleich ließ sie in ihrer tiefen Emotionalität den Übergang zu Mozarts Komposition erahnen. Diese freilich stößt viel weiter in individuelle Ausdrucksbereiche eines subjektiven Ichs vor . Und so glänzend extrovertiert Caldaras Werk auch erklang, so verinnerlich und tief emotional berührend erreichte Mozarts Komposition die Zuhörer.
Hengelbrock hatte sich nicht, wie manch anderer Vertreter der historischen Aufführungspraxis für die Aufführung des reinen Fragments entschieden, sondern für die vollständige, von Süßmayr vollendete Form. Dabei konnte der innere dramatische Spannungsbogen erhalten und mit allen Raffinessen der historisch informierten Aufführungspraxis ausgestaltet werden. Sei es das kraftvolle expressivo im "Dies irae" oder die Geste des furchtsam frommen Flehens im leichten staccato des "Lacrymosa" - die Musik spricht durch die subtil ausgefeilten Linien und Klänge. Obwohl sich alle in einem profanen Konzertsaal befanden, konnten sich wohl viele nach dem Verklingen der letzten Takte einer gewissen spirituellen Ergriffenheit nicht entzeihen und der verdiente Beifall rauschte erst nach kurzem Innehalten auf.
Rudolf Buchbinder
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Eine schöne Tradition der Festspiele in Baden-Baden folgend gab es am Sonntagmorgen eine musikalische Matinee: Rudolf Buchbinder spielte Mozart und Beethoven.
Grüblerisch begann er mit Mozarts d-Moll Fantasie, die er hart kontrastierend in ihre Formteile zerlegte, deren starken Ausdrucksgehalt er zugleich förmlich herausmeißelte. Es folgten die auf den ersten Blick leichtfüßigen Variationen über "Ah! vous dirai-je, Maman", denen Buchbinder aber allen Formenreichtum entlockte und ebenso Tiefsinn wie Witz und heitrer Laune ihre Rechte gab. Mit diesen zwölf meisterlichen Miniaturen führte er durch seinen pianistischen Zaubergarten.
Buchbinder ist kein Pianist, der seine technische Perfektion als Selbstzweck ausstellt, sein Spiel kennt keine auftrumpfende Virtuosität, ist nicht auf Effekte aus. So kam er besonders in der Sonate KV 333 mit ihrer kantablen Klarheit und nobel klassischem Gleichgewicht dem am nächsten, was Walter Gieseking als Eigenart der Mozartschen Musik bezeichnete, nämlich dass sie leicht und schwierig zugleich sei und sie richtig zu spielen bedeute, den Grat zwischen Natürlichkeit und Ausdruckstiefe nicht zu verfehlen. Mit untrüglichem Stilgefühl gestaltete Buchbinder die drei Sätze zu einem harmonischen Ganzen und zeigte damit einen ganz anderen Mozart als zu Beginn in der innerlich aufgewühlten d-Moll-Fantasie. Drei Werke und drei Facetten dieses "Wunderkinds" im ersten Teil eines Konzerts zu aufzufächern: das verdient das Prädikat besonders wertvoll.
Nach der Pause folgten zwei Sonaten von Beethoven, in denen Buchbinder weit eher eine subjektive Gestaltung wählte und besonders in der "Appassionata" allen dramatischen Steigungen und Windungen nachspürend an emotionaler Investition nicht sparte. Seine Entschlossenheit zu unbedingter Werktreue stellte er auch in seiner ersten Zugabe, dem As-Dur Impromptu von Franz Schubert unter Beweis. Mit einer Johann-Strauß-Paraphrase in Lisztscher Manier schloss Buchbinder den vielfältigen Reigen seines Konzerts: wie Champagner perlten die Töne, die Melodien schwänzelten und tänzelten umeinander, das Klavier schluchzte und schwelgte und schwungvoll flog unversehens ein Festival davon.
FAZIT
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