Wer regelmäßiger Gast im Festspielhaus in Baden-Baden ist, könnte sich fast schon als Abonnent im Mariinsky - Theater St. Petersburg fühlen. Denn im Laufe einer mittlerweile zehnjährigen intensiven Zusammenarbeit mit Baden-Baden hat die russische Bühne über fünfzig Opern im Festspielhaus an der Oos gezeigt. Besonderes Aufsehen hatten die Gastspiele mit dem in mythologischer Patchwork-Manier erzählten "Ring des Nibelungen" vor 2 bzw. 4 Jahren erregt. Sogar einen "Lohengrin" in neugotischem Gewande hatte es einmal gegeben. Natürlich war auch das russische Repertoire bei den Gastspielen vertreten. Im Jahre 2002 stand "Boris Godunow" neben dem hier wenig gespielten "Mazeppa" von Tschaikowsky und der noch seltener zu hörenden Prokofjew - Oper "Die Verlobung im Kloster" auf dem Programm. Mehr von Tschaikowsky war 2005 zu sehen, darunter auch seine bei uns fast unbekannte Oper "Die Zauberin". Ein willkommener Blick über den Tellerrand also, zudem eine wertvolle Ergänzung zum hiesigen Opernbetrieb. Doch auch die Lust an Gängigem wurde bedient - so gab es zu den Winterfestspielen 2007 eine ganze Puccini-Woche.
Aus ihrer Zusammenarbeit konnten beide Häuser programmatisch Gewinn ziehen: Baden-Baden in der breiteren Auffächerung seines Opernangebots, das sich stets auf Übernahmen oder Kooperationen mit anderen Häusern oder Festspielen stützen muss und St. Petersburg die Möglichkeit, seine Opernarbeit näher in den Focus westlichen Interesses zu rücken. Die Einschätzung der künstlerischen Ergebnisse sind der regelmäßigen OMM - Berichterstattung zu entnehmen. Nicht immer fiel die Bilanz zufriedenstellend aus. Als unbestrittenes Plus kann trotz alledem jedoch gelten, dass eine in derart konsequenter Form betriebene Kooperation auf dem Feld des kulturellen Austauschs innerhalb Europas - noch dazu über die ehemals scharf trennenden Systemgrenzen hinweg - selten, wenn nicht einmalig sein dürfte.
Am Flügel: Hélène Grimaud - Dirigent: Valery Gergiev
(Foto: A. Kremper)
Treibende Kraft im wahrsten Sinne des Wortes ist dabei der St. Petersburger Opernzar Valery Gergiev, in Personalunion Chefdirigent, künstlerischen Direktor und Intendant des Mariinsky-Theaters. Auch beim diesjährigen Festspiel-Gastspiel hat er wieder vollen Einsatz gezeigt - in einem Dirigiermarathon insgesamt 5 Aufführungen dreier nicht gerade anspruchsloser Opern und mal eben noch ein Orchesterkonzert dazwischen, all dies ohne einen Tag Unterbrechung! Da kann schon einmal die Aufmerksamkeit leiden und manches Kunststück geriet auch nicht so konzentriert und ausgefeilt, wie es zu wünschen gewesen wäre. Dies war besonders zu spüren in Beethovens 5. Klavierkonzert, wo das Orchester vor allem in den Ecksätzen der musikalischen Intensität der Solistin Hélène Grimaud nicht ganz das Wasser reichen konnte und dies nicht allein, weil die konventionelle Lesart einen dickflüssigen Romantizismus fast unvermeidlich machte. Grimaud setzte eine glasklar und fein nuancierte Klangfarbigkeit dagegen, Pastellmalerei gegen al -fresco - Technik. In Schostakowitschs Zehnter konnte das Mariinsky-Orchester dann aber mit Fug und Recht aus dem Klangvollen schöpfen und die inneren Spannungen dieses symphonischen Gegenangriffs des politisch schwer attackierten Komponisten gegen das Stalinregime zu vollster Wirkung treiben.
"Der fliegende Holländer": Ballade im Plüschsessel.
Olga Sergeyeva (Senta) mit Chor
(Foto: A. Kremper)
Als Hauptattraktion war "Der fliegende Holländer" ins Zentrum der Winterfestspiele bugsiert worden, als Premiere der "Neuinszenierung" von Ian Judge, wobei es sich eigentlich nur um das Remake einer rund 15 Jahre alten Londoner Produktion handelte. Der Brite, in Opernhäusern aller Zonen beschäftigter Regisseur und als vielseitiger Routinier mit allen inszenatorischen Wassern gewaschen, hat allerdings mit dieser Produktion noch nicht einmal solides Handwerk abgeliefert, ganz zu schweigen davon, dass man einen neuen, interessanten musikdramatischen Entwurf hätte erleben können. Nicht einmal eine in sich schlüssige und den Kern der Konflikte auslotende Handlungsführung gelang in durchgängiger Weise. Die Sänger waren auf der weiten Bühne allein gelassen und mussten tief in die Kiste der Opernklischees greifen, weil schlüssige Rollenprofile fehlten. Auch die Chorführung war weitgehend einförmig und statisch.
"Der fliegende Holländer": Auch der Chor darf mal mit anfassen.
Alexei Tanovitski (Daland / Mitte), Yevgeny Akimov (Steuermann) mit Chor
(Foto: A. Kremper)
Zwischen Prolo ( Holländer) und Biedermeier ( Mary) schwankte eine zickige Senta. Tauwerk, Masten und Steuerrad erzählten das optische Seemannslatein und aus wogenden Stoffbahnen entstiegen am Anfang Dalands Matrosen dem Meer, in welches am Schluss Senta mit dem Holländer sanft gegen die untergehende Sonne entschwand. In einer Kintopp-Kulisse mit schepperndem Schiffsrumpf sollte eine breit über die Bühne laufende Blutspur dem Holländermonolog im 1. Akt den nötigen schaurig-unheimlichen Anstrich geben. Gemütlichkeit kam zu Beginn des 3. Aktes auf, als im norwegischen Hafen plötzlich alle Fenster der Kulissenwand wie beim Adventskalender erleuchtet aufsprangen. All diese Bebilderung kam aber über Bilderbuch nicht hinaus, vermochte nicht den Blick in tiefere Bedeutungsschichten des Werks zu vermitteln.
Die beiden Hauptpartien waren ordentlich besetzt. Olga Sergeyeva brachte für die Senta-Partie mühelos die notwendige Durchschlagskraft auf, jedoch überschlug sich im dramatischen Überschwang ihr Organ zu leicht ins unangenehm Scharfe. Vladimir Vaneyevs Holländer konnte stimmlich weit mehr überzeugen als darstellerisch. Besonders im Monolog gelangen ihm die Nuancen im Ausdruck, die er im Spiel nicht realisieren konnte. Alexei Tanovitski enttäuschte als Daland komplett, die Stimme war nicht focussiert und vom Timbre her auch nicht angenehm anzuhören. Die kleineren Rollen hinterließen wenig bleibende Eindrücke. Zu viel zu wünschen übrig ließ auch Gergiev am Pult. Er ließ das Orchester zwar mächtig auftrumpfen, was auch immer wieder zur Überlagerung der Sängerstimmen führte, aber der musikalische Spannungsbogen sackte zu oft in Nichts zusammen, weil er das Tempo aus unerfindlichen Gründen verlangsamte oder gar eine unvermittelte Pause einschob. Insgesamt sollte mit viel Vibrato und Klangexpression der Eindruck von Romantik erweckt werden, einer Romantik allerdings, die doch sehr anachronistisch erschien.
"Der fliegende Holländer": Erlösung nach 2 ½ Stunden Oper.
Olga Sergeyeva (Senta), Vladimir Vaneyev (Holländer) mit Chor
(Foto: A. Kremper)
Aus dem laufenden Repertoire brachte das Mariinsky-Theater Janaceks "Jenufa" mit, "Szenen aus dem mährischen Bauernleben". Der Untertitel gab offensichtlich die Richtlinie für die Ausstattung vor. Die Einheitsbühne (nicht logisch, was insbesondere den 2. Akt betrifft) stellte eine Art Grube dar, die von einer Holzbaracke überragt wird, was eher an ein Arbeitslager als an eine Mühle erinnerte. Die grau grundierten Kostüme schienen noch den Zeiten des Sozialistischen Realismus entlehnt. Regie geführt hat der blutjunge Vasily Barkhatov, der sich aber mit dieser Inszenierung nicht gerade als ideenreicher Szenenerfinder ausgewiesen hat. Die soziale Schärfe der Handlung blieb weitgehend auf der Strecke, zu sehr blieben die dramatischen Schlüsselstellen an der dekorativen Oberfläche haften. Weder war die Szene, in der eifersüchtige Laca Jenufas Gesicht zerschneidet, dramaturgisch genügend vorbereitet, noch die heranreifende Entscheidung der Küsterin, Jenufas Kind zu töten. Die Kunst des szenischen Aufbaus von Spannungsbögen vermisste man im Prinzip die gesamte Oper hindurch. Alles wuselte irgendwie durcheinander und mehr als tümliche Szenenarrangements war meist nicht zu sehen. Als Charaktere blieben die Figuren nur schemenhaft.
"Jenufa": Arm, aber adrett.
Elena Vitman (Alte Buryjovká), Irina Mataeva (Jenufa) und
Jorma Silvasti (Laca) (alle Bildmitte) und Chor
(Foto: A. Kremper)
Die Sängerinnen der beiden weiblichen Hauptrollen konnten allerdings die szenischen Schwächen bisweilen vergessen machen. Irina Mataeva sang eine makellos lyrische Jenufa und brachte diese emphatische Musik zum Strahlen, die der Komponist in tiefer Erinnerung an seine verstorbene Tochter dieser Rolle eingeschrieben hat. Die Sängerin spielte zudem in berückender Natürlichkeit und mit großer emotionaler Ausstrahlung. Leider war die Anlage der Rolle der Küsterin den darstellerischen Möglichkeiten von Larisa Gogolevskaya entsprechend nicht genügend angemessen, denn als Elektra hatte sie zwei Tage zuvor eine darstellerische Glanzleistung geliefert. Aber allein ihre sängerische Kraft machte auch die Stiefmutter zu einer beherrschenden Bühnenfigur. Jorma Silvasti, als einziger nichtrussischer Darsteller in allen gezeigten Produktionen, glänzte als Sänger des Laca, auf die er international abonniert zu sein scheint. Ebenso aber wie auch der Sänger des Steva (etwas vergröbert vulgär: Sergei Semishkur) war er von der Regie sträflich vernachlässigt worden.
Auch Janaceks Partitur präsentierte Gergiev mit dickem klanglichen Pinselstrich, mehr auf Klangopulenz als auf expressionistische Schärfe zielend. Die von Charles Mackerras wiederentdeckte Brünner Fassung (1908), die sich wegen ihrer Authentizität auf deutschen Bühnen mittlerweile durchgesetzt hat, war hier offensichtlich nicht gewählt worden, stattdessen die traditionelle, von Janacek nur zähneknirschend akzeptierte Wiener Bearbeitung von Karel Kovarovic (1916), die einen üppigen Orchesterklang vor allem im triumphal verklärenden Schluss aufweist. (Leider schweigen sich die Baden-Badener Programmhefte in derartigen Fragen meist aus.)
Oben Glanz und Glamour (rechts im weißen Überwurf
Olga Savova als Klytämnestra mit Dienerinnen)
und unten das heulende Elend (Larisa Gogolevskaya als Elektra).
(Foto: N. Razina)
Wahres Festspielniveau erreichte allerdings die Neuproduktion der "Elektra" aus dem Jahre 2007. Jedenfalls mit dieser Inszenierung von Jonathan Kent ist die russische Bühne in der Gegenwart modernen Musiktheaters angekommen. Was bei Hofmannsthal / Strauss in den Mauern von Mykene spielt, ist hier in der Villa von Neureichen angesiedelt - der Kontext legt die postkommunistische Gesellschaft des heutigen Russland nahe. Das geniale Bühnenbild von Paul Brown lässt Einblicke in die Oberfläche und die Untergründe dieser Gesellschaft zu: in einem Querschnitt durch das hochherrschaftliche Haus ist die Szene zweigeteilt in eine Belle Etage im großbürgerlichen Stil des neuen Geldadels und in ein Kellergeschoß, in dem Elektra zwischen altem Gerümpel als Ausgeschlossene mehr haust als wohnt, eine Obdachlose im eigenen Elternhaus. Ganz lebt sie in manischer Erinnerung an den ermordeten Vater, dessen Fotos sie sich immer wieder per Diaschau ins Gedächtnis ruft und wirkt so wie das personifizierte schlechte Gewissen ihrer neurotischen Mutter, die ihre bösen Erinnerungen im Luxus erstickt hat. Dieser Regieansatz wirkte so überzeugend, weil er so klar war. Larisa Gogolevskaya lieferte von allen Darstellern das faszinierendste Rollenportrait - eine Elektra, die paralysiert ist von ihrem Schicksal und tierhaft der Erfüllung ihrer Rachegelüste entgegenfiebert. Das war sowohl darstellerisch als auch sängerisch eine durchweg atemberaubende Leistung. Ihre sängerische Kraftreserven reichten mühelos bis zum taumelnden Schlussgesang. Als Klytämnestra konnte Olga Savova ihr vor allem stimmlich durchaus Paroli bieten, eine gleiche darstellerische Intensität erreichte sie leider nicht. Großen Eindruck aber machte Elena Nebera in der Rolle der Chrysothemis, die in ihrer Anmut und frischen Jugendlichkeit als guter Kontrast zu Elektra angelegt war. Vadim Kravets war ein die Szene beherrschender Orest und so geriet der Moment der Wiedererkennung zwischen Bruder und Schwester zu einer bewegenden Schlüsselszene der Oper.
Die Klangrausch-Partitur von Richard Strauss kam dem Temperament von Valery Gergiev sicherlich von allen gezeigten Stücken am besten entgegen und hier gelang auch eine uneingeschränkt überzeugende Orchesterleistung. Selbst der Gefahr, die Sänger zu überdecken, konnte Gergiev hier aus dem Wege gehen. Im Gegenteil - die Textverständlichkeit war weitgehend gut, was bei dieser Oper durchaus keine Selbstverständlichkeit ist. Besonders gelang Gergiev die Feinabstimmung der gegensätzlichen Ausdrucksebenen in dieser Partitur voller Kontraste und Extreme.
FAZIT
Eine ambivalente Bilanz: wenig festspieltaugliche Opern-Konvention begegnet spannendem Musiktheater.
Die Gastspielserie der St. Petersburger Oper in Baden-Baden wird fortgesetzt.