Man wolle mit den Programmen
des Festspielhauses Weltspitzen-Niveau erreichen, hatte Intendant
Andreas Mölich-Zebhauser anlässlich des 10-Jahres-Jubliäums
versprochen. Mittlerweile ist dieses Versprechen eingelöst. In
Baden-Baden geben sich die musikalischen Weltstars buchstäblich die
Klinke in die Hand und die Konzerte halten ein künstlerisches Niveau,
das kaum zu überbieten ist. So fällt auch die Bilanz des
Konzertherbstes 2011 in Baden-Baden zum Besten aus.
Bereits der Start in die Konzertsaison bot ein Konzert der
Sonderklasse. Das von Claudio Abbado eigens für das Lucerne Festival
gegründete Lucerne Festival Orchestra geht nur selten auf Tournee.
Baden-Baden war es gelungen, dieses außergewöhnliche Orchester, das
sich aus exzellenten Musikerinnen und Musikern anderer Spitzenorchester
sowie namhaften Instrumentalsolisten zusammensetzt, für ein Gastspiel
zu gewinnen. Wiederholt wurde ein Konzert vom Lucerne Festival 2011 mit
Mozarts Haffner-Sinfonie und
der Sinfonie Nr. 5 von Anton
Bruckner. Claudio Abbado dirigierte. Bei Mozart gelang bereits in den
ersten Takten, was schwer zu machen ist: der Musik eine Leichtigkeit zu
geben, ohne sie beiläufig erscheinen zu lassen. Und wie perfekt die
Orchesterstimmen aufeinander abgestimmt waren, wie durchsichtig die
filigrane Instrumentierung hörbar wurde – ein Ganzes entstand wunderbar
aus sich verwebenden Teilen. Das Andante wurde ein Musterbeispiel für
Lieblichkeit ohne Süßlichkeit. Die Interpretation von Bruckners Fünfter
Sinfonie kam in ihrer emotionalen Intensität und ihrer klanglichen
Schönheit der Vollkommenheit sehr nahe. Abbado gelang eine perfekte
Synthese aus tiefster kontemplativer Ruhe (vor allem am mystischen
Beginn) und der Entfaltung der inneren Dramatik (im Scherzo mit
höchst konzentrierter rhythmischer Präzision). Und doch wurde es keine
von Pathos getränkte Feierstunde, sondern ein Erlebnis reinsten Klangs,
vermittelt durch die Weisheit und das Feingefühl des 78jährigen
Dirigenten.

Claudio
Abbado in Baden-Baden mit dem Lucerne Festival Orchestra in
Mozart-Besetzung
In den vergangenen Jahren haben sich Jonathan Nott und die Bamberger
Symphoniker gemeinsam als führende Interpreten der Sinfonien von Gustav
Mahler profiliert. Mit ihren Einspielungen haben sie zahlreiche Preise
eingeheimst. In Baden-Baden waren sie erst zu Pfingsten mit Mahlers
Achter (unser Bericht) zu hören gewesen. Nun gastierten Orchester
und Chefdirigent mit Mahlers Vierter
Sinfonie im Festspielhaus, gekoppelt mit Schuberts Unvollendeter als erstem
Programmpunkt. Diese Paarung erwies sich als nahezu geschwisterlich.
Mahlers ironisch nostalgischer Ton schien in Schuberts inniger
Melancholie eine ältere Schwester gefunden zu haben: Ergänzung,
Kontrast und zugleich Wesensverwandtschaft. Das Orchester spielte auf
höchstem technischen Niveau, modellierte allerfeinste klangliche
Schattierungen und ließ die musikalische Seele beredt sprechen. Ein
sparsames Vibrato sorgte besonders bei Schubert für einen schlanken,
klaren Ton. Mahlers subtile Klangkoloristik wurde mit feinstem Gespür
entfaltet. Nott stellte die Untergründigkeit in Mahlers Ton ohne grelle
Effekte sensibel und zugleich deutlich heraus, in Feinzeichnung, nicht
al fresco. Die jugendliche Stimme von Christine Landshamer gestaltete
das „Eng’lische Leben“ im letzten Satz in passender Weise. Das Konzert
war ein schöner Beweis für die mittlerweile errungene Spitzenposition
dieses Orchesters.
Mit dem Label „Weltbestes
Orchester“ versehen kam das Concertgebouworchester aus Amsterdam nach
Baden-Baden. Auch dem Dirigenten Andris Nelson eilte ein famoser Ruf
voraus. Man durfte also zu Recht gespannt sein. Beides wurde mit dem
Konzert vollauf bestätigt. Mit Tschaikowskys Romeo und Julia – Ouvertüre als
Eröffnungsstück legten Dirigent und Orchester schon die Spur zum
fulminanten Finale mit Strawinskys Petruschka-Ballett.
Klanglich höchst konzentriert war schon der Einstieg mit den
verhalten dunkel grundierten Klangfarben der choralartigen Einleitung.
Plastisch ausgearbeitet kamen dann die Themen, bis sich das
musikalische Geschehen immer weiter dramatisch anspannte und bis zum
tragischen Schluss aufs Höchste steigerte. Eine ganze Oper war hier zu
einer Ouvertüre verdichtet. Zu derart spannender Handlungsmusik machte
das Orchester auch die burlesken Szenen eines russischen Jahrmarkts,
die Strawinsky für die Diaghilev-Ballett-Truppe 1911 komponiert hatte.
Auch ohne Tanz entfaltet die Musik zu Petruschka allein schon
enorme Imaginationskraft, aber die Interpretation durch das
Concertgebouworchester steigerte sie noch einmal zu einem
phantastischen Bilderbogen vor dem geistigen Auge des Zuhörers. Doch
nicht allein die illustrative Realistik, sondern auch die stupenden
spieltechnischen Raffinessen dieser Musik meisterten das Orchester
brillant. Und Andris Nelsons schien mühelos dieses Geschehen
anzutreiben und sich im Gegenzug davon mitziehen zu lassen. Zum Staunen
war solche Präsenz am Pult, die aus dem Orchester höchste
Virtuosität herauszauberte. Dieses wirklich atemberaubende Programm
wurde noch ergänzt durch eine aufregende Darbietung von Camille
Saint-Saens 5. Klavierkonzert
, das wegen seines orientalischen Kolorits vor allem im 2. Satz das
Ägyptische genannt wird. Jean-Yves Thibaudet spielte den Klavierpart
mit viel Eleganz und feinnervigem Anschlag. Auch hier bewies das
Orchester große Sensibilität im Gestalten der Klangfarben. So rundete
sich ein Programm, das besser für dieses exzellente Orchester nicht
hätte passen können.
Alljährlich zu Gast in
Baden-Baden ist mindestens einmal das Mariinsky-Theater aus St.
Petersburg. Mit Valery Gergiev verbinden Intendant und das ganze Haus
eine künstlerisch wie auch privat als intensiv bezeichnete
Freundschaft. 2011 bestritten die russischen Künstler das Programm der
Herbstfestspiele und brachten erneut Musik von Peter Tschaikowsky an
die Oos. Authentischer lässt sich Musik kaum darbieten. Das Paket war
übervoll gepackt: In drei Konzerten waren alle sechs Sinfonien zu hören, gekoppelt mit
je einem Solokonzert, die jeweils von jungen Künstlern, allesamt
Preisträger des 14. Internationalen Tschaikowsky--Wettbewerbs,
bestritten wurden. Gergiev präsentierte also bewusst den Nachwuchs dem
westeuropäischen Publikum, Musiker, von denen man auch hierzulande wohl
noch mehr hören wird. Mit dem 1.
Klavierkonzert nutzte der 1991 in Nischni Nowgorod geborene
Daniil Trifonov (1. Preis) seine Gelegenheit und wurde zu Recht vom
begeisterten Publikum mit ausgiebigem Applaus bedacht. Seine stupende
technische Perfektion und seine Ausdrucksskala auch an Zwischentönen
klangen schon sehr differenziert ausgebildet und gefestigt. Generell
präsentierte er sich authentisch und seine Interpretation wie aus einem
Guss. Am 2. Abend spielte der 1988 in Eriwan/Armenien geborene Narek
Hakhnazaryan (1. Preis im Fach Cello) die Rokoko-Variationen mit jugendlichem
Elan, viel melodischem Charme und hoher Virtuosität. Der Geiger Sergey
Dogadin (2. Preis bei nicht vergebenem 1. Preis), der sich am dritten
Abend den Herausforderungen des Violinkonzerts
stellte, zeigte sich technisch auf hohem Niveau, musikalisch dagegen
noch recht konventionell und mit noch geringem persönlichen Profil.
Den Reigen der Sinfonien eröffneten am ersten Abend die 1. Sinfonie Winterträume und die 6. Sinfonie,
womit zugleich ein Bogen im sinfonischen Schaffen Tschaikowskys
geschlagen wurde. Valery Gergiev und das Orchester des St. Petersburger
Mariinsky-Theaters schienen zu dieser Sinfonie eine nicht so eine
intensive Beziehung zu haben (so klangen u.a. die Hörner in einigen
Passagen eher dezent und nicht so hymnisch dominant wie komponiert)
wie die den Abend beschließende Pathétique.
Für sie gehören dieses Werk eindeutig zu den Leib- und Magen-
Kompositionen. Mit großen Ruhepunkten und intensiver Spannung
gestalteten Valery Gergiev und das Orchester diese emotional und
trotzdem bewusst ausgewogene Interpretation, die packte und bewegte. An
den beiden anderen Abenden standen sich die zweite sog. Kleinrussische und die 4. Sinfonie sowie die dritte sog. Polnische und die 5. Sinfonie gegenüber. An diesen
Abenden öffnete Gergievs zupackender Zugang die leidenschaftliche
Melodik und die emotionale Expressivität in Tschaikowskys Musik sehr
deutlich. Nach dem dritten Konzert riss das Orchester (ohne
Dirigenten!) mit einer zündend präsentierten Polonaise aus dem 3.
Akt von Eugen Onegin das
Publikum zu den verdienten Begeisterungsstürmen hin.
Zu den ganz großen Erlebnissen dieses Konzertherbstes in Baden-Baden
gehörte auch die Liedmatinee mit Christian Gerhaher, der einen großen
Teil der Lieder von Gustav Mahler bot. Mit Gerold Huber als Begleiter
am Klavier gelangen ergreifend intime Interpretationen der Gesellenlieder, einer Auswahl von Wunderhornliedern und der Rückert-Lieder. In seinen Liedern
wurzelt Mahlers musikalische Welt und Gerhaher und Schneider erfassten
sie in Gesang und Spiel: das Leid (Das
irdische Leben), die Hoffnung (Um
Mitternacht), den Traum (Die
zwei blauen Augen), die Schönheit (Ich atmet’ einen linden Duft),
Ironie und Spott (Um schlimme Kinder
artig zu machen)
und nicht zuletzt die Liebe (Liebst du um Schönheit). Eine großartige
Stunde musikalischer Interpretationskunst und ein wunderbares
Beispiel für die Harmonie zweier kongenialer musikalischer Partner.
Gerhahers enorm wandelbare Stimme ergänzte Gerold Huber durch sein
höchst differenziertes Spiel als Begleiter am Flügel.
FAZIT
Ob
„Festspiele“ oder nur „normales Programm“: Das Festspielhaus in
Baden-Baden spielt in der ersten Liga der Konzerthäuser und dies auf
den ersten Plätzen.
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Die Programme
6. Oktober 2011
Lucerne Festival
Orchestra
Claudio Abbado,
Dirigent
Wolfgang Amadeus Mozart:
„Haffner“ – Sinfonie KV 385 D-Dur
Anton Bruckner:
Sinfonie Nr. 5 B-Dur
22. Oktober 2011
Bamberger Symphoniker
Jonathan Nott,
Dirigent
Christina Landshamer,
Sopran
Franz Schubert:
Sinfonie h-Moll „Unvollendete“
Gustav Mahler:
Sinfonie Nr. 4 G-Dur
28.Oktober – 1. November 2011
Herbstfestspiele
Orchester des
Mariinsky – Theaters St. Petersburg
Valery Gergiev,
Dirigent
Daniil Trifonov,
Klavier
Narek Hakhnararyan, Violoncello
Sergej Dogadin,
Violine
Peter Iljitsch
Tschaikowsky:
Sinfonien 1 – 6
Klavierkonzert Nr. 1
Rokoko-Variationen
Violinkonzert
19. November 2011
Concertgebouworchester
Amsterdam
Andris Nelsons,
Dirigent
Jean-Yves Thibaudet,
Klavier
Peter Iljitsch
Tschaikowsky: „Romeo und Julia“ Fantasieouvertüre
Camille Saint-Saens:
Klavierkonzert Nr. 5
Igor Strawinsky:
Petruschka
27. November 2011
Christian Gerhaher,
Bariton
Gerold Huber,
Klavier
Lieder von Gustav Mahler
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