Die Welt als Leinwand und Vorstellung
Von Roberto Becker
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Foto von © Pascal Victor / Artcomart
Melancholie ist ihre zweite Natur. Dieser personifizierten Schönheit, genannt Belleza, ist schon bei ihrem ersten Auftritt bewusst, dass sie vergeht. Sie ist im Händels Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, dessen Premiere im Théâtre de l'Archevêché in Aix-en-Provence einhellig bejubelt wurde, die Hauptfigur.
Doch wem ist die Endlichkeit von Jugend und Schönheit schon nicht bewusst? Außer jenen vielleicht, die auf ihre Flächentatoos versessen sind und ausblenden, dass die verzierte Haut altert und faltig wird. Die eigentliche Frage aber ist, und da unterscheidet sich 1707 nicht grundsätzlich von 2016, wie man mit dem Unvermeidlichen umgeht. Eine Option besteht darin, sich ins Vergnügen zu stürzen und dem Augenblick zu leben. Die andere im Maßhalten und im bewussten Dreinschicken.
Die erste Variante ist amüsanter, hat aber ihren Preis. In Händels erstem Oratorium, das er 1707 zu einem Libretto seines Förderers Kardinal Benedetto Pamphili komponierte (und später in England noch zweimal überarbeitete), wird ein sozusagen moralisierender Diskurs über diese Fragen geführt. Die Prinzipien, um die es geht, sind dabei agierende Personen.
Die Schönheit (wie alle anderen auch in einem Look, der ungefähr auf die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts verweist) wird also einerseits vom Vergnügen belagert und verlockt und andererseits von Zeit und Erkenntnis belehrt. Małgorzata Szczesniak hat für diesen Diskurs ein modernes Kino mit bequemen Sitzen auf die Bühne gesetzt. Wir sitzen hinter imaginären Leinwand. In der Mitte wird dieser Raum von einem gläsernen Gang geteilt. Hier marschieren junge Leute auf, die in diesem Kino offenbar auch dem schönen Schein frönen wollen. Eine bunte Truppe, die die Rolle der Zuschauer genauso wie die der vom Diskurs Betroffenen einnimmt.
Hier setzt sich auch ein junger Mann als personifizierte Verführung - atemberaubend genau und heutig auf die Musik Händels choreografiert - in Szene. Für Regisseur Krzysztof Warlikowski und sein Team ist der moralisierende Diskurs eine Art Generationenkonflikt. Im Programmheft geht der auf westlichen Opernbühnen erfolgreichste polnische Regisseur mit den restaurativen Erfahrungen in seiner Heimat im Rücken noch weiter. Dort schreibt er, dass es ein Schock sei, den Text wirklich zu lesen. Er sei dogmatisch, habe kaum etwas mit der politischen oder literarischen Kühnheit des damaligen Venedigs oder der Griechen und ihrer Mythologie zu tun. Warlikowski wähnt sich bei der Lektüre vielmehr nach Rom versetzt, als dem Herzen der religiösen Macht, dem Mekka der Gegenreformation, wie er es nennt. Und er sieht eine Parallele zu seiner Heimat, denn auch in Warschau mobilisiere die Kirche Massen, um vor allem kritisches Denken zu lähmen. Auch in Frankreich, schreibt der Pole, bedrohe die Entstehung neuer Fundamentalismen den Säkularismus.
Das bleibt bei der szenischen Umsetzung freilich nur Kontext im Hintergrund. Was wir sehen, ist ein stringenter in sich nachvollziehbarer Konflikt zwischen besorgten Eltern und einer behüteten aber erwachsen werdenden Tochter und einem jungen Mann, der um sie wirbt und den die Eltern eher kritisch beäugen. Wegen des Verbots von Frauen auf der Bühne ursprünglich für Männer und Kastraten geschrieben, wirkt die heutige Besetzungskombination gleichwohl geradezu auf nachholende Weise authentisch. Die Belleza wird von der jungen Sopranistin Sabine Devieilhe hochsouverän zwischen gefährdet und begierig gesungen. Der Counter Franco Fagioli ist mit der ihm eigenen Vehemenz bemüht, seinem Namen (Piacere) Ehre zu machen. Ihm ist eine der schönsten Händel-Arien überhaupt, das Lascia la spina vorbehalten. Der geschmeidige Tenor Michael Spyres ist dem gegenüber die Zeit und die wunderbar mezzowarm strömende Sara Mingardo die Erkenntnis (Disinganno).
Musikalisch gehört diese italienisch inspirierte erste Fassung des Oratoriums in die Abteilung der händelschen Luxusklasse. Ein kraftvoller musikalischer Wurf, was die szenische Umsetzung schwierig und reizvoll zugleich macht. Emmanuelle Haïm hat mit ihrem auf historischen Instrumenten spielenden Orchester Le Concert d'Astrée eine betörend treffsichere Begleitung der exzellenten Protagonisten aus dem Graben beigesteuert.
FAZIT
In Aix-en-Provence ist Krzysztof Warlikowski, Emmanuelle Haïm und ihren Protagonisten eine überzeugende theatralische Umsetzung von Händels Oratorium gelungen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Emmanuelle Ha&ïuml;m
Inszenierung
Krzysztof Warlikowski
Ausstattung
Małgorzata Szczesniak
Licht
Felice Ross
Video
Denis Guéguin
Choreographie
Claude Bardouil
Dramaturgie
Christian Longchamp
Le Concert d'Astrée
Solisten
Bellezza
Sabine Devieilhe
Piacere
Franco Fagioli
Disinganno
Sara Mingardo
Tempo
Michael Spyres
Schauspieler
Mama Bouras
Margot Briosne Frejaville
Sherine Colin
Johanna Costa
Léa De Carvalho Massabo
Amani Djelassi
Thaïs Drujon D'astros
Hélène Fouque
Rui Jin
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