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Musikphilosophische Gipfelstürme auf europäische und amerikanische Art
Von Stefan Schmöe
Zwei ganz dicke Brocken tischt Pierre-Laurent Aimard dem Klavierfestival Ruhr auf: Zunächst Beethovens Sonate op. 106 "für das Hammerklavier", mit rund 50 Minuten Dauer die längste (und für viele die komplizierteste) aller Klaviersonaten Beethovens, und danach gibt es eigentlich nichts mehr zusagen. Für Aimard freilich doch, nämlich Charles Ives' nicht viel kleiner dimensionierte zweite Sonate mit dem Titel Concord, Mass., 1840-60, deren Programm weit über das (ohnehin schon überaus komplexe) rein Musikalische hinaus geht. Das Publikumsinteresse an dieser überaus anspruchsvollen Programmzusammenstellung wie am Pianisten, ein Stammgast beim Klavierfestival Ruhr (es ist laut Programm bereits sein 24. Konzert in diesem Rahmen), ist groß - und die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord ausverkauft.
Aimards Zugang zu Beethoven darf man getrost eigenwillig nennen, schon äußerlich an der immer wieder unorthodoxen Sitzhaltung abzulesen (manchmal springt er auch auf). Der Anschlag klingt nicht weiter raffiniert, die klangliche Dimension dieser Riesenkomposition nur angedeutet. In der rasenden Fuge des Finalsatzes verlieren die Sechzehntelkaskaden an Klarheit. Zäsuren und Abschnittswechsel deutet Aimard nur vage an, spielt auch manchmal fast unwillig darüber hinweg. Das monumentale Adagio hat man sicher schon "singender" gehört, die Binnenstruktur aller Sätze prägnanter, Details konturierter. Und trotzdem ist diese drängende, geradezu ungeduldige Interpretation durchaus interessant. Man erahnt hinter dem, was real erklingt, die geistige Konzeption des zum Zeitpunkt der Entstehung 1817 weitgehend ertaubten Komponisten, der in der Zeit der Entstehung im Jahr - eine Musik, die sich vor dem inneren Ohr entwickelt und die Aimard nicht weiter als notwendig auf der Hörbühne entfaltet.
Anders der Zugang zu Ives' großer Sonate, deren Titel sich auf das Städtchen Concord im US-Bundesstaat Massachusetts, nicht weit entfernt von Boston gelegen, bezieht. Concord war Mitte des 19. Jahrhunderts Lebensmittelpunkt mehrerer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller - Henry James verglich die Bedeutung des Ortes mit der von Weimar für die deutsche Literatur. Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne, Amos Bronson Alcott und dessen Tochter Louisa May Alcott sowie Henry David Thoreau gehörten Mitte des 19. Jahrhunderts zu den in Concord lebenden Hauptvertretern des amerikanischen Transzendentalismus. Mit ihren Namen sind die Sätze der Sonate überschrieben, die dadurch ein philosophisches Programm erhält. Gleichzeitig schlägt Ives den Bogen zu Beethoven, zitiert die Hammerklavier-Sonate, viel häufiger aber das Schicksalsmotiv aus der 5. Symphonie, das die Sonate in vielfältigen Verwandlungen durchzieht. Dazu bedient sich Ives, Gustav Mahler in dieser Technik nicht fern, bei europäischen Volksliedern und beim Ragtime.
Aimard spielt dies mit ungeheurem Farbreichtum (deutlich differenzierter und bewusster als bei Beethoven zuvor), mit Gespür für Details wie für die Proportionen des Werks. Die überraschenden Wendungen haben Witz. Aimard trifft hervorragend die Balance zwischen den Anklängen an die Romantik, deren idealistische Spielart ja thematisiert wird, und der Modernität dieser Musik: Ein eindrucksvolles Plädoyer für dieses Werk. Am Ende des mit hohem Körpereinsatz absolvierten Parforceritts durch Ives' Gedankenwelten sagte der Moment der Ruhe nach dem Verklingen des entrückten Schlusses mehr aus als der Beifall danach.
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Klavierfestival Ruhr 2017 Landschaftspark Duisburg-Nord, Gebläsehalle 12. Mai 2017 AusführendePierre-Laurent Aimard, KlavierProgrammLudwig van Beethoven:Klaviersonate Nr. 29 B-Dur Hammerklavier-Sonate - Pause - Charles Ives: Piano Sonata No. 2 Concord, Mass., 1840-60
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