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Ruhrfestspiele Recklinghausen 01.05.2017 - 18.06.2017 Counting Sheep
Guerilla-Folk-Oper in Zusammenarbeit mit Hot Feat Canada Ltd. und Selfconscious Theatre Premiere in der Halle König Ludwig 1/2 in Recklinghausen am 2. Mai 2017 |
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Revolution hautnah Von Thomas Molke / Fotos: © Jeremy Mimnagh Bei dem Titel Counting Sheep mag man vielleicht an eine Methode denken, die einem bei Schlafstörungen eine Möglichkeit bieten soll, die innere Ruhe zu finden. Bei der ersten Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen sind mit den Schafen aber wohl eher die "Lämmer" gemeint, die im Rahmen der ukrainischen Bürgerrevolution 2013 und 2014 "zur Schlachtbank geführt wurden". Mark und Marichka Marczyk, die an dem Aufstand auf dem Maidan in Kiew beteiligt waren, haben ihre Erinnerungen an diese Erlebnisse in eine, wie sie es selbst bezeichnen, "ukrainische Guerilla-Folk-Oper" verpackt, mit der sie dem Publikum nicht nur die Ereignisse schildern wollen, sondern es auch noch aktiv in das Geschehen einbeziehen. Entstanden ist dieses Projekt 2015 im Rahmen des Summer Works Performance Festivals in Toronto und erlebt nun nach der begeistert aufgenommenen Europapremiere beim Edinburgh Fringe Festival seine Deutschlandpremiere in der Halle König Ludwig 1/2, die nach kompletten Stilllegung der Zeche 1965 viele Jahre später von Erich Scharfenberg gekauft und umgebaut wurde und lange Zeit Künstlern als Atelier zur Verfügung stand, bevor sie dann 2013 in eine Spielstätte für Theatergruppen umgewandelt wurde. Solidarität und Gemeinschaft bei fröhlicher Musik Für die Aufführung ist der Ort mit Sicherheit geeigneter als das Ruhrfestspielhaus, da er in seinem für ein Theater unkonventionellem Aufbau einen direkteren Kontakt zum Publikum herstellen kann. So mischen sich bereits vor Beginn der Vorstellung drei Musiker in den recht beengten Eingangsbereich der Halle und unterhalten mit folkloristisch anmutenden Klängen mit einer Trompete, einer Posaune und einer Pauke die Zuschauer, bevor man über eine Treppe nach oben zur Bühne geführt wird. Hier ist in der Mitte ein riesiger Tisch aufgebaut, und die Solisten laden die Zuschauer freundlich ein, an diesem Tisch zu einem gemeinsamen Essen Platz zu nehmen. Die Sprachbarriere wird dabei mit Musik überbrückt, während man es sich bei Saft, Schwarzbrot, Gurken und Krautsalat gemütlich machen kann. Neben den Tellern liegen auf dem Tisch weiße Theatermasken, die die Solisten im Verlauf des gemeinsamen Essens aufsetzen und die in ihrer Form mit kleinen Ohren an den Seiten an Schafsköpfe erinnern. Auch die Zuschauer haben die Möglichkeit, sich zu maskieren, wobei nur wenige diese Möglichkeit nutzen. Scheinbar beiläufig flimmert auf der Rückwand im Hintergrund ein kleiner Fernseher, der aber plötzlich die Meldung bringt, dass Präsident Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen wolle. Widerstand gegen die Staatsgewalt Die Videoprojektion nimmt bald die gesamte Rückwand ein und konfrontiert die Zuschauer mit den Bildern, die man damals in den Nachrichtensendungen verfolgen konnte. Zunächst versucht man den Widerstand mit Musik auszudrücken. Eine Frau entfaltet auf dem Tisch ein riesiges rotes Tuch, mit dem sie einem Soldaten entgegentritt. Auch die Szene, in der die Demonstranten mit einem riesigen Bagger, die Polizeikräfte auseinandergetrieben haben, wird nachgestellt. Noch sitzt das Publikum als Betrachter an dem großen Tisch. Doch plötzlich werden Schutzhelme herumgereicht, und der riesige Tisch in seine Einzelteile zerlegt. Gemeinsam mit den Solisten errichtet man riesige Barrikaden, um den Maidan vor der Einnahme durch die Polizei zu schützen. Nun müssen auch die Zuschauer, die zunächst noch auf Bänken außerhalb des Geschehens gesessen haben, mithelfen. Ehe man sich versieht, befindet man sich unter den Steine werfenden Demonstranten und hat, fast schon ein bisschen erschreckend, das Gefühl, das Richtige zu tun. Nun ist das komplette Publikum Teil der Revolution geworden, und es gibt wahrscheinlich kaum jemanden im Saal, der nicht mitfiebert. Nachdem man dieses Gemeinschaftsgefühl mit Tanz zu ukrainischer Folklore gefeiert hat, kommt das böse Erwachen. Einer der Demonstranten wird erschossen. Die Solisten verteilen Rosen an die Zuschauer, mit denen diese den in einem Tuch eingewickelten Leichnam bedecken, bevor dann alle Zuschauer hinter den Wänden in einem schmalen niedrigen Raum zusammengepfercht werden. Vier Solisten stehen an einem Tisch und errichten kleine Erdhügel, die sie mit einem Holzkreuz ausstatten, und legen dabei ihre Masken ab. Währenddessen statten sich rechts und links zwei Soldaten mit Sprengstoffpaketen aus und richten ihre Maschinengewehre zunächst auf die vier Solisten am Tisch, bevor sie sich mit den Gewehren dem Publikum zuwenden. Das Licht verlischt, und das Schießen beginnt. Man ist sprachlos. Fast möchte man den Zuschauern, die zu klatschen beginnen, Einhalt gebieten. Aber bei aller Betroffenheit überwiegt wohl der Respekt für das Dargebotene. Auch die Solisten scheinen Schwierigkeiten zu haben, mit dem Applaus umzugehen. Zu tief mögen zumindest bei Mark und Marichka Marczyk noch die Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse sitzen. Leicht vorwurfsvoll scheinen ihre Augen zu sagen: "Das ist kein Spiel hier." Aber der große Beifall mag wohl auch die Erleichterung zum Ausdruck bringen, dass es das zumindest für die Besucher an diesem Abend glücklicherweise doch ist. FAZIT Die Produktion geht unter die Haut und rückt die ukrainische Revolution durch Einbezug des Publikums erneut ins Bewusstsein. Weitere Rezensionen zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen 2017
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ProduktionsteamMusikalische Leitung Regie Bühne Choreographie Video Lemon Bucket Orkestra
SolistenVolodymyr Bedzvin
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- Fine -