Schlafes Bruder
Von Roberto Becker
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Foto von © Patrick Berger / artcompress
Es sind vor allem die Uraufführungen, die in einem lukullischen oder unterhaltenden Programm die großen Festivals adeln, ja wohl sogar legitimieren.
Mit der schon von Pierre Audis Vorgänger offensiv gepflegten Blickerweiterung des südfranzösischen Traditionsfestivals auf die Impulse aus dem Raum der südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer korrespondiert auch die jüngste Uraufführung. Diesmal stellt sich mit Les mille endormiers (Die schlafenden Tausend) ein israelisches Autorenteam dem inneren politischen Grundkonflikt seines Landes. Der aus Haïfa stammende 36jährige Komponist Adam Maor hat zu einem Libretto seines Landsmannes Yonatan Levy eine Kammeroper geschrieben, die zwischen Fantasie und Wirklichkeit changiert und dafür eine surreale Form findet. Elena Schwarz hält am Pult die Musiker des Ensembles "United Instruments of Lucilin" und die vier Sänger über 9 Szenen hinweg für eine reichliche Stunde präzise zusammen.
Der Premier uns eine Beraterin
Auch wenn hier niemand mit Steinen wirft oder Volksgruppen aufeinander losgehen, ist das ein Stück Musiktheater, das sich ziemlich nah an die ungelösten Konflikte Israels heranwagt.
In der ersten Szene diskutieren der Premierminister und sein Sicherheitschef über den Hungerstreik von tausend palästinensischen Verwaltungshäftlingen. Der Landwirtschaftsminister informiert sie darüber, dass die Ressourcen des Landes zur Neige gehen und eine Missernte droht. Ein Telefonanruf des amerikanischen Präsidenten beim Premier informiert, dass die Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedet haben, um den Niederschlag über Israel zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wird beschlossen, die Gefangenen in einen Tiefschlaf zu versetzten und sie im Amt des Premierministers zu belassen, bis sich die Dinge beruhigt haben. Jetzt werden die Namen jener schlafenden Tausend proklamiert.
Der Premierminister in der Klemme angesichts schlechter Nachrichten
Nach drei Jahren scheint es so, dass die Idee, die Häftlinge in einen Tiefschlaf zu versetzten, tatsächlich funktioniert. Der Premierminister und seine Beraterin Nurit diskutieren in dem mit Betten vollgestellten Büro miteinander über Staatsangelegenheiten. Plötzlich kommt ein Demonstrant und stört den Frieden: "Herr Ministerpräsident, wachen Sie auf! Die Leute haben Albträume!" Auch bis zur nächsten Szene ist wieder Zeit vergangen. Auch der Premierminister leidet jetzt unter der allgemeinen Schlaflosigkeit, von der die Menschen in Israel betroffen sind. Als er Nurit nach einer Zeitung fragt, die er noch nicht gelesen hat, bietet sie ihm eine lokale Zeitung aus dem ländlichen Norden des Landes an. In dem Blatt wird von einer regionalen Panik über eine zunehmende Anzahl von Kindern berichtet, die nachts an epileptischen Anfällen leiden und nach ihrem Aufwachen arabisch reden.
Die Schläfer im Amtszimmer
In der fünften Szene mit dem Titel "Die Schreie der Babys" erinnert ein Gedicht genau an diese Schreie und an die Schlaflosigkeit ihrer Eltern. Daraufhin versucht der Premierminister, Nurit wegzuschicken. Er wirft ihr Verrat vor und gibt schließlich zu, dass auch er seit sieben Jahren Albträume hat. Er kommt zu dem Schluss, dass die Albträume, die die Nation plagen, durch eine luzide Traumoperation im Auftrag der schlafenden Tausend verursacht werden, die sich damit eine Art psychischen Tunnel in die jüdische Traumwelt gegraben haben. Da erscheint wie aus dem Nichts der Sicherheitschef und übernimmt die Kontrolle. Er verkündet seinen Plan, einen Agenten zu entsenden, der als schlafender Araber verkleidet ist, um die palästinensische Schlafwelt zu infiltrieren und die Terrorzelle der luziden Träumer zu zerstören. Nurit wird für diese Mission ausgewählt, in der achten Szene von S. hypnotisiert und in einen tiefen Schlaf versetzt. In der letzte Szene schließlich ("Die Sonne ist aufgegangen") begegnet Nurit in ihrer Trance den schlafenden Tausend. Der Premierminister ruft Nurit zur Rückkehr auf, aber der Sicherheitschef lässt das nicht zu. Die schlafenden Tausend haben eine geistige Heimat auf der ätherischen Ebene geschaffen, frei von physischen, zeitlichen und nationalen Beschränkungen. "Es kann für die Menschheit keine andere Heimat geben, als die zwischen einer Seele und einer anderen." Für diese kafkaeske Atmosphäre und die Eloquenz der Protagonisten findet Maor eine bündige kammermusikalische Sprache.
Die Agentin auf Traumreise
Mit machtvoller Eloquenz verkörpert der Bariton Tomasz Kumięga im Zentrum - vokal und auch am Schreibtisch mitten auf der Bühne von Julien Brun - jenen Premierminister, in dem man durchaus das Abbild des amtierenden israelischen Regierungschefs erahnen kann. Gan-ya Ben-gur Akselrod ist seine Assistentin Nurit. Den Sicherheitschef steuert der Bass David Salsbery Fry bei. Eine besondere Rolle spielt Benjamin Alunni, der allein durch das archaisch märchenhafte Kostüm, das ihm Anouk Schiltz auf den Leib geschneidert hat, das Traumhafte der Geschichte verkörpert. Neben dieser Rolle des Sängers übernimmt er noch weitere kleinere Rollen, wie die es Landwirtschaftsministers und die des Demonstranten.
Das ungewohnte Hebräisch bewährt sich dabei verblüffend gut als Opernsprache.
Die Bühne im Théâtre du Jeu de Paume wird von mehrstöckigen Betten mit jenen Schläfern beherrscht, die das Geschehen ebenso beobachten wie die Zuschauer. Nur eben von der anderen Seite.
FAZIT
Es ist ein nachdenklicher, atmosphärisch dichter Musiktheaterabend, der sich nicht anmaßt, klüger zu sein, als all jene, die bislang vergeblich um Ansätze einer Lösung im Nahen Osten ringen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Elena Schwarz
Inszenierung
Yonatan Levy
Bühne
Julien Brun
Kostüme
Anouk Schiltz
Licht
Omer Shizaf
Dramaturgie
Amir Farjoun
United Instruments of Lucilina
Solisten
Prime Minister
Tomasz Kumięga
Nurit, sein Assistent
Gan-ya Ben-gur Akselrod
S, Head of Secret Services
David Salsbery Fry
A Voice of the World / Minister of Agriculture /
Demonstrator / Cantor
Benjamin Alunni
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