Wie man sich bettet, so liegt man
Von Roberto Becker
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Foto von © Pascal Victor / artcompress
Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist das ästhetisch und politisch avancierteste gemeinsame Stück Musiktheater, das Bert Brecht und Kurt Weill hinterlassen haben. Und mit dem sie seinerzeit auch gewaltig angeeckt sind. Die Uraufführung am 9. März 1930 in Leipzig war einer der großen Theaterskandale der untergehenden Weimarer Republik. Die Nazis probten da ihre Machtergreifung schon mal mit organisierten Pöbeleien im Theater. Das von Brecht über dem Text gehisste kapitalismuskritische Banner zu Kurt Weills souverän adaptierter Moderne (inklusive ihrer dazwischen verteilten populären Hits) ist heute eine inszenatorische Herausforderung.
Das Stück ist per se eine Enthüllung der Verhältnisse, bedarf also selbst keiner solchen durch die Regie. Seine tödliche Pointe ist die Erkenntnis, dass im Kapitalismus pur ohne Moos nix los ist und nichtbezahlte Rechnungen ein Verbrechen sind, todeswürdiger als Mord. Am Ende springt niemand von seinen "Freunden" für die Schulden, die Jim Mahoney gemacht hat, ein. Er wird tatsächlich nach einem absurden Prozess verurteilt und gehängt. "Wie man sich bettet, so liegt man…."
Probeaufnahmen am Filmset
Im Stück macht der metaphorische Hurrikan zwar einen Bogen um die Stadt Mahagonny, aber die allgemeine Proklamation des hemmungslosen "Du darfst" nach dieser Beinahekastatrophe, entfaltet eine ähnlich zerstörerische Wirkung. In Aix-en-Provence kracht es auf der Bühne des Grand Théâtre des Provence am Ende der (u.a. mit der Met und mit Amsterdam koproduzierten) Neuinszenierung des Weill-Klassikers durch Ivo van Hove denn auch gewaltig. Mit Fackeln, Farbbeuteln und dann auch noch einem gelben Tuch aus dem Schnürboden. In Frankreich ist das bekanntlich die Farbe des aktuell grassierenden Wutprotestes.
Wenn der Jim der Jenny auf den Leim geht
Und doch bleibt im Ganzen nach dieser Premiere der Eindruck zurück, dass Kurt Weills und Bert Brechts Klassiker etwas aus der Zeit gefallen ist. Was nicht nur an der Szene lag, sondern auch an der Art, wie Esa-Pekka Salonen das Londoner Philharmonia Orchestra und die Sänger auf diesen Ausflug in die imaginäre Stadt, in der alles erlaubt ist (außer kein Geld zu haben), musikalisch durch den Abend navigierte. Alles klang nach allzu weichgespültem Konzertsaal, die pointierten Zwischenmusiken eher wie ein Alibi. Die Protagonisten warfen sich zwar mit Vehemenz ins Zeug, aber die weite, meist nach hinten offene Bühne verschluckte viel. Weder Annette Dasch als Jenny Hill noch Karita Mattila als Witwe Leokadia Begbick drangen vokal wirklich überzeugend durch. Wenn die Mattila wütend mit dem Fuß aufstampft und die Fäuste ballt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, dann hatte das - unabsichtlich - durchaus auch eine doppelte Bedeutung. Zum Glück ist Nikolai Schukoff als Jim Mahoney stimmlich deutlich präsenter als der schwächende Dreieinigkeitmoses von Sir Willard White.
Wir brauchen keinen Hurrikan ...
Aber van Hove findet in dem Filmsetambiente, das Jan Versweyveld mit knappen Gerüsten und einer Green Screen Ecke für diverse (auch Porno-)Drehs andeutet, keinen wirklich packenden szenischen Nenner. Alles bleibt so eher eine Nummernrevue - mit einer behaupteten Revolte am Ende. Wenn der Hurrikan erwartet wird, fahren ein paar Riesenventilatoren auf und alle gucken betont sorgenvoll in die Live-Kameras. Großaufnahmen der Gesichter gibt es überhaupt öfter. Mit dem Set und dem Kameraeinsatz setzt van Hove bewusst und sozusagen verdoppelnd auf das Illusorische, das der ganzen Stadt Mahagonny anhaftet.
Arm sein ist tödlich in Mahagonny
Die eingeblendeten Szenenbezeichnungen in Deutsch und Französisch ("Die Stadt Mahagonny wird gegründet" und "Die Hinrichtung von Jimmy Mahoney") erfasst man nur von den mittleren Plätzen im Saal aus. Immerhin wertet van Hove die Frauenfiguren vor allem durch Mattilas und Daschs erhebliche Bühnenpräsenz auf. Die werden an der Seite von Fatty (Alan Oke) und Moses (Willard White) zu Mahagonny-Mitgründerinnen. Bzw. sind die Stars am Set. Was Dasch und Mattila dann auch gehörig zelebrieren. Doch die Verlegung der Parabel ans Filmset macht keinen wirklich spannenden Angelegenheit daraus. So ist das ganze mehr ein nostalgischer "Wie man sich bettet, so liegt man"-Abend als eine beunruhigende "Wir brauchen keinen Hurrikan"-Vision geworden. Schade.
FAZIT
Trotz der Starbesetzung enttäuscht die Neuproduktion des Aufstiegs und Falls der Stadt Mahagonny in Aix-en-Provence szenisch aber auch musikalisch.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Esa-Pekka Salonen
Inszenierung
Ivo van Hove
Bühne und Licht
Jan Versweyveld
Kostüme
An d'Huys
Video
Tal Yarden
Chor
Richard Wilberforce
Dramaturgie
Koen Tachelet
Chor Pygmalion
Philharmonia Orchestra
Solisten
Leokadja Begbick
Karita Mattila
Fatty, der "Prokurist"
Alan Oke
Dreieinigkeitmoses
Sir Willard White
Jenny Hill
Annette Dasch
Jim Mahoney
Nikolai Schukoff
Jack O'Brien / Tobby Higgins
Sean Panikkar
Bill, genannt Sparbüchsenbill
Thomas Oliemans
Joe, genannt Alaskawoljoe
Peixin Chen
Six Filles de Mahagonny
Kristina Bitenc Cathy-Di Zhang Thembinkosi Magagula Maria Novella Malfatti Leonie Van Rheden Veerle Sanders
Figurantes et figurants
Apollonia Crova Leïla Flayeux Suzy Deschamps Jeanne Chollier Maëlle Charpin Daria Pouligo Angelica Tisseyre Simon Copin Selime Benama Julien Degremont Tibo Drouet Laurent Ernst Florian Haas Simohamed Bouchra Laurie Freychet
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