Wer kennt die Völker, nennt die Namen ...
Von Roberto Becker
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Foto von © Pascal Victor / artcompress
Dass das Wetter ein Risikofaktor bei den Vorstellungen ist, die unter freiem Himmel im Théâtre de l'Archevêché stattfinden, ist normal. Dass der Regen ausgerechnet vor der Eröffnungspremiere tatsächlich fällt, war zwar ärgerlich, aber kein wirkliches Problem. Es gibt Schlimmeres, als im nächtlichen Aix-en-Provence vor den Toren des zum Theater umfunktionierten erzbischöflichen Palastes zu warten und mit anderen Gästen ins Gespräch zu kommen. Nachdenklicher machen eher die in Frankreich längst üblichen Sicherheitskontrollen und die Tatsache, dass jede größere Veranstaltung von schwergewaffneten Soldaten bewacht wird. In diesem Jahr kommt hinzu, dass Pierre Audi - mit einer guten Tradition seiner Vorgänger brechend - im Laufe der Premierenwoche keine Pressekonferenz ansetzte und die Antwort auf die Frage nach dem Programm des nächsten Jahres auf frühestens Oktober oder November in Aussicht gestellt wurde. Angesichts der Planungsvorläufe solcher Festivals ist das erstaunlich und deutet auf erhebliche Anlaufschwierigkeiten bzw. möglicherweise wehenden politischen oder zumindest finanziellen Gegenwind für die neue Intendanz.
Rituale: Ankunft im Totenreich
Mit einer Stunde Verspätung konnten die 1200 Premierengäste auf den trockengewischten Holzsitzen dann Platz nehmen und sich dem Staunen über Castelluccis erneute Begegnung mit Wolfgang Amadeus Mozart hingeben. Seine Zauberflöte in Brüssel in einer bislang nie gesehen radikalen ästhetischen Zweiteilung war die eine Vorbereitung. Seine Passion (nach Bach) in den Hamburger Deichtorhallen die andere. Das eine als verstörend rätselhaftes Welttheater, das andere als eine Collage szenischer Behauptungen, die sich einem nur erschlossen, wenn man sich die Entstehungsgeschichte dazu anlas.
Ob der Schamanenzauber hilft?
Auf der Bühne des Théâtre de l'Archevêché erschloss sich Castelluccis Annäherung über die Bilder und ihre autonome und assoziative Kraft nicht in erster Linie als eine Totenmesse, sondern vielmehr als eine Erinnerung ans Vergängliche, bei der die Huldigung an das Leben durchscheint. Dabei beginnt alles recht düster. Mit dem Tod einer einsamen alten Frau, die allein auf leerer Bühne vor einem Bett steht, vor dem ein Fernseher läuft, der sie wohl als letztes mit der Welt da draußen verbindet. Dazu hat der Dirigent des Abends Raphaël Pichon Gregorianisches a capella arrangiert und zwei andere Mozart-Kompositionen (Meistermusik KV 477b und Miserere Mei KV 90) hinzugefügt. Nach ihrer letzten Zigarette legt sie sich ins Bett. Irgendwann ist sie verschwunden. Dann wird die Bühne von jenseitigen Gestalten bevölkert, die im Dunkeln schwarze Fahnen schwingen, während Pichon und sein 2006 gegründetes Orchester Pygmalion mit dem Introitus des Requiem einsetzen.
Wenn der Tod in den Alltag kommt…
Die alte Frau erwacht in einer folgenden Szene in einer anderen Welt - als junge Frau. Vielleicht ist sie auch dann jenes kleine junge Mädchen, das irgendwann rituell begossen und gefedert wird, in einer Wand hängt. Oder sogar dann das Baby, das in der berührenden Schlussszene auf dem Bauch liegend das Publikum anstaunt und gar nicht wissen kann, wie ihm geschieht. Vielleicht steht aber auch jede dieser personalisierten Szenen ganz für sich selbst. Hinter den bedächtigen Aktionen des Chores und der Statisten läuft eh ein ganz eigener Film ab. In endloser Folge werden Begriffe von ausgestorbenen Pflanzen und Tieren, von Landschaften und Völkern, von zerstörten Bauwerken (sogar die Berliner Mauer kommt dabei vor) und untergegangenen Städten, von Kunstwerken und allem, was man sich denken mag, bis hin zum Datum der Aufführung, die man gerade besucht, eingeblendet. In Gänze ist das eigentlich das, was man Schöpfung nennen könnte. Zusammen mit den tanzenden, assoziierenden Aktionen auf der Bühne und der Musik entsteht eine Art atmosphärisch assoziatives Gesamtkunstwerk, das fasziniert.
Eine Wort-Tonspur der Assoziationen
Da spielt dann der siebenjährige Junge Chadi Lazreq, der vor allem mit bewundernswerter Sicherheit solo singt, mit einem Totenschädel Fußball. Da tanzen alle wie bei einer Folkloreshow um einen Maibaum. Da wird eine endlose Folge der Kollisionen von Menschen mit einem Auto genau im Moment des Zusammenpralls nachgestellt. Bis alle nebeneinander auf dem Boden liegen wie die Toten nach einer Katastrophe. Dazwischen absolvieren die Solisten Siobhan Stagg (Sopran), Sara Mingardo (Alt), Martin Mitterutzner (Tenor) und Luca Tittoto (Bass) ihre Gesangsparts. Eindrucksvoll und wie auf dem Weg zum Jüngsten Gericht, wenn im Dämmerschein alle ihre Kleider ablegen und sich ängstlich aneinander schmiegen. Großen Effekt macht es auch, wenn sich dann der Bühnenboden aufrichtet, und alles was bis dahin dort liegenblieb, nach unten rutscht. Wenn dann zu den letzten Tönen jenes Baby suchend ins Publikum blickt, dann hat Castellucci gewonnen. Haushoch.
FAZIT
Romeo Castelluccis Requiem-Deutung verschaffte dem Festival in Aix-en-Provence einen fulminanten Auftakt.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Raphaël Pichon
Inszenierung und Ausstattung
Romeo Castellucci
Kostüme
Silvia Costa
Statisterie
Chor und Orchester
Pygmalion
Solisten
Sopran
Siobhan Stagg
Alt
Sara Mingardo
Tenor
Martin Mitterrutzner
Bass
Luca Tittoto
Kind
Chadi Lazreq
Tänzer und Tänzerinnen
Elliot Bussinet Benedetta Cimadamore Marie-Estelle de Fougerolles Simone Gatti Ana Isabel Gomez Torres Hinako Maetani Filippo Nannucci Hiroki Nunogaki Agathe Peluso Igor Prandi Michelle Salvatore
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