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Lustvolle Irritationen
Von Stefan Schmöe
Marc-André Hamelin seziert Chopin. Er zerlegt die Polonaise-FantaisieAs-Dur op. 61 und das vierte Scherzo (E-Dur, op. 54) in die Bestandteile. Hier eine kleine Überleitung, sonst eher beiläufig gespielt, die bei Hamelin trocken-gewichtig exerziert wird, als entstamme sie einer Toccata von Bach; dort eine kleine virtuose Figur, die er mit einer technischen Brillanz in den Mittelpunkt rückt, als hinge alles an dieser Passage. Und wenn man alle Chopin-Gewissheiten aufgegeben hat, dann erklingt, gleich einer Insel der Romantik, im allerverträumtesten Pianissimo eine Melodie auf, wie man sie sich poetischer nicht vorstellen kann. Eigentlich müsste diese Dekonstruktion im Desaster enden, aber Hamelin gelingt es, die Bausteine wieder zu einem faszinierenden Ganzen zusammenzusetzen. Das ist weit weg von der Eleganz der Pariser Salons, in denen der Komponist reüssierte, und auch von gängigen Romantik-Vorstellungen oder dem typischen gefälligen "Chopin-Tonfall". Jede Note klingt bei Hamelin genau durchdacht, keine, über die er hinwegspielen würde. In der Summe wirkt das sehr analytisch, intellektuell, kalkuliert, auch ein wenig unterkühlt - aber dabei ungemein spannend.
In diesem Kontext ergibt es Sinn, dass der Pianist den Abend mit Ferruccio Busonis Bearbeitung der Chaconne aus J. S. Bachs zweiter Violinpartita beginnt, und zwar unter dem Komponistennamen Busoni ohne den Zusatz "/ Bach": Mit hämmerndem, trockenem Anschlag hebt Hamelin in den ersten vier Variationen die in der Klavierfassung gegenüber Bachs intimer Konzeption für Solovioline stark vergrößerte Klangdimension hervor. Er strukturiert klar und blockhaft, nur selten gibt es Crescendi oder Decrescendi - hart setzt er Abschnitt gegen Abschnitt, oft mit harten stilistischen Kontrasten. Das ist kein vorsichtiges Nachempfinden des Bach'schen Originals, sondern eine präzise durchdachte Auseinandersetzung mit Bachs Material unter Busonis Blickwinkel von 1890/91, und der weist in dieser Interpretation voraus auf das 20. Jahrhundert. Und in diesem Spiegel - Busoni setzt Bach neu zusammen - erscheint auch Chopin als Konstrukteur, von dem aus plötzlich Leitlinien etwa zu Strawinsky aufschimmern. Diese distanziert forschende durchaus auch ein wenig ironische Sicht auf die Musik griff Hamelin in der zweiten von drei Zugaben auf mit einer eigenen Komposition, der Toccata on L'homme Armé über ein französisches Chanson aus dem 15. Jahrhundert. Auch da spielt Hamelin als Komponist wie als Pianist fast ein bisschen spöttisch mit verschiedenen Stilebenen, kombiniert brillante Virtuosität mit einem trockenen, im archaisch mittelalterlichen Grundton.
Auf den eher fragmentierenden ersten Teil folgt nach der Pause eine deutlich geschlossenere Sicht auf Schuberts letzte Klaviersonate in B-Dur, wenn auch hier nicht ohne Eigenwilligkeit und Überraschungsmomente. Das Hauptthema nimmt er sehr langsam, im Ausdruck durch leichte Verzögerungen der Melodie gegenüber den Akkorden der linken Hand fast schleppend, dazu mit seiner überragenden Anschlagskultur sehr verhangen. Erst am Schluss der Exposition klart es auf. Nicht nur die überraschenden Tonartwechsel leuchtet er mit großer Subtilität aus. Dieser Sonatensatz bleibt ein Mysterium. Das folgende Andante spielt er flüssig, wobei die jeweils dritte der Achtel, die die Melodie umspielen, fast unhörbar leise erklingt, und damit schafft Hamelin eine ganz eigene Aura. Das Scherzo zieht atemlos in irrem Tempo vorbei, im Trio betont er die Noten auf den unbetonten Taktzeiten so stark, als habe Bartók bereits mitkomponiert, und das Finale hat bärbeißigen Witz - und das alles ist derartig genau durchdacht (und geht auf), dass die Musik Rätsel und Logik zugleich erhält. Ein großer Abend, für Hamelin bereits der 15. beim Klavierfestival Ruhr.
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Klavierfestival Ruhr 2019 Mülheim an der Ruhr, Stadthalle 5. Juni 2019 AusführendeMarc-André Hamelin, KlavierProgrammFerruccio Busoni:Chaconne aus der Partita Nr. 2 für Violine solo von J. S. Bach Frédéric Chopin: Polonaise-Fantaisie As-Dur op.61 Scherzo Nr. 45 E-Dur op. 54 - Pause - Franz Schubert: Sonate Nr. 21 B-Dur D960 Zugabe: Alexander Skrijabin: Etüde cis-Moll op. 2/1 Marc-André Hamelin: Toccata on L'homme Armé Charles Trenet: En avril à Paris (Transkription von Alexis Weissenberg) Klavierfestival Ruhr 2019 - unsere Rezensionen im Überblick
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