Abendfüllende Intrigen
Von Roberto Becker
/ Fotos von Falk von Traubenberg
Für das Nationaltheater in München wurde noch in letzter Sekunde eine Sondergenehmigung erteilt, um die starre, in Bayern geltende Obergrenze für Zuschauer von 200 auf 500 zu erhöhen. Für das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth gab es diese Ausnahmereglung nicht. Das Haus ist zwar eines der größten seiner Art und als UNESCO Weltkulturerbeschmuckstück prächtig herausgeputzt, aber es ist intimer. Dass die Argumente, die im Falle von München zählten, nicht gleichermaßen für das Bayreuther Ausnahmetheater (das technisch gesehen eigentlich nur ein Museum ist und im Parkett mit 450 Plätzen und darüber hinaus mit drei Logenrängen ausgestattet ist) gelten können, ist nachvollziehbar.
Das besondere aber ist, dass es dem Intendanten des neu etablierten Bayreuth Baroque Festivals Max Emanuel Cenčić gelungen ist, all das, was er in Athen vorbereitet hatte, auch auf die Bühne zu bringen. Eine nahezu vollständig aufgeführte Barock-Ausgrabung, ohne orchestrale Ausdünnung oder szenische Kompromisse. Das ist heutzutage - ganz unabhängig vom künstlerischen Ergebnis - an sich schon ein echter Coup. Aber es ist auch musikalisch und szenisch ein voller Erfolg geworden!
Max Emanuel Cenčić und Franco Fagioli - der Pate und sein Sohn
Carlo il calvo, dieser Opera-Seria-Dreiakter, ist ein Opernschmuckstück, das nach der Uraufführung 1738 wieder in der Versenkung verschwand und seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr aufgeführt wurde. Der neapolitanische Zeitgenosse Georg Friedrich Händels ist bislang etwas für Enthusiasten vom Schlage einer Cecilia Bartoli oder eben ihres Kollegen Cenčić. Der 43jährige hat sich nicht nur seinen festen Platz in der Riege der Spitzencounter erarbeitet und ihn bislang überzeugend gehalten. Er hat auch schon etliche Beweise für sein Talent als Regisseur abgeliefert (etwa bei den Karlsruher Händelfestspielen) und obendrein in den vergangenen zehn Jahren auch mit seiner Firma Parnassus Arts Production etliche Opera-seria-Schmuckstücke selbst produziert.
Dass er auf der Suche nach einem eigenen Festival war, lag auf der Hand. Nach der exemplarisch gelungenen Renovierung des alten Glanzes von Markgräfin Wilhelmines ehrgeizig, auf Augenhöhe mit Wien oder Dresden errichteten (damals für Bayreuth ziemlich überdimensionierten) Opernhauses, musste sich sein Ehrgeiz geradezu auf dieses architektonische Juwel richten. Die zuständigen Entscheidungsträger und Geldgeber in Bayreuth ließen sich inspirieren, der Weltmarke der Richard-Wagner-Festspiele ein barockes Festival an die Seite zu stellen bzw. im September folgen zu lassen. Die Stadt, der Freistaat und die Oberfrankenstiftung stellen drei Jahre bislang je 1,1 Millionen Euro dafür zur Verfügung.
Kampf und die Macht - wenn sie unter sich sind, regiert die Gewalt.
Es mag wohl auch eine Rolle gespielt haben, dass Cenčić die Toleranz der Denkmalschützer nicht überstrapaziert hat, sondern, dass er - wie jetzt - Wege findet, mit seiner Firma die Produktionen andernorts (diesmal in Athen) vorzubereiten und in wenigen Tagen ins Opernhaus zu übertragen. Die Qualität des Auftakt-Jahrgangs unter den extrem schwierigen Bedingungen des Coronasommers ist das denkbar beste Plädoyer für diese Festspielnovität.
Für Nicola Antonio Porporas (1686-1768) Carlo il calvo ist dieses Opernhaus ein maßgeschneiderter Rahmen. Die moderat aus dem Frühmittelalter in den Anfang des 20. Jahrhunderts verlegte Handlung ist eine charmant kontrastierende Ergänzung zu der Inszenierung der barocken Üppigkeit im Zuschauerraum. Bühnenbildnerin Giorgina Germanou hat die opulente Pracht einer karibischen Villa abgelauscht. Für eine Opulenz, mit der sich genauso gut mediterrane Dekadenz assoziieren lässt. Zumal die Geschichte zwischen den im Zwanzigerjahre-Chic Kostümierten abläuft wie ein Mafia-Film oder eine Telenovela. Über fünf Bruttostunden und in 35 kurzweiligen Szenen. Los ist hier immer was. Nebenfiguren wie die stumme Oma im Rollstuhl etwa, die der Krankenschwester das Essen verweigert und daraufhin von der rabiaten Tochter des Hauses regelrecht abgefüllt wird. Klar, dass die sich dann mit einem laut krächzenden Lacher an der unpassendsten Stelle rächt. Natürlich verschwindet auch mal ein junges Paar hinter den gewaltigen Grünpflanzen und gibt sich da einer Beschäftigung hin, bei der das Grünzeug ordentlich wackelt. Regelrecht übermütig lässt Cenčić die Gesellschaft in Richtung Charleston lostanzen, wenn es auf das lieto fine zu geht. Das er dann mit einer Pointe bricht, bei dem zum diabolischen Gelächter der Patriarch - wie vom Schlag getroffen - vom Stuhl fällt. Etwas subtiler wird die Show, wenn der ehrgeizige Bodyguard den verklemmten Patriarchen ziemlich skrupellos unter Einsatz seines entblößten Oberkörpers zu verführen versucht. Der reagiert erst mit einer scheinheiligen Ohrfeige und küsst dann zurück. Dieser Typ stellt sich als der leibliche Vater des titelgebenden Knaben Karl heraus, um dessen Erbansprüche es den ganzen Abend geht. Er bleibt denn auch bei einer zünftigen Ballerei, zu der ein blitzblanker Oldtimer auffährt, auf der Strecke.
Opulent beschwingt gehts auf das Finale zu
Anfang und Ende bildet eine opulente Tafel, an der sich der ganze Clan versammelt. Mit allen stummen Nebenrollen sind mitunter zwei Dutzend Leute auf der Bühne. An das barocktypische Verwirrspiel des Jeder-gegen-Jeden, das von diversen Liebschaften und Übergriffigkeiten ergänzt wird, nähert man sich am besten über die Verwandtschaftsbeziehungen des Personenverzeichnisses. Die Übertitel zu den Da Capo-Arien und Rezitativen erlauben es aber, während der Vorstellung den Überblick zu behalten. Der titelgebende Carlo ist hier ein Kind, das mit seinen Beinschienen zum Spielball der Erwachsenen wird und kein Wort zu sagen bzw. zu singen hat.
Seine Mutter Giuditta (stimmlich und darstellerisch von einnehmender Präsenz: Suzanne Jerosme), die obendrein die Witwe von Ludwig dem Frommen und mithin die Schwiegermutter des herrschenden Patriarchen Lottario ist, pflegt eine Beziehung zu Berardo, der hier die Position des Familienanwaltes ausfüllt. Bruno de Sá sticht in dieser Partie mit seinen atemberaubenden Sopranspitzentönen hervor. Er ist seinerseits mit Giudittas Tochter Eduige verlobt, die in Nian Wangs Kehle souverän aufgehoben ist. Der sich in erstaunliche Höhen aufschwingende Bruno de Sá verkörpert also eine TV-Serien taugliche Variante des "nichts ohne meinen Anwalt". Aus dem reichlich die Bühne füllenden Personal stehen freilich drei der Herren und eine Dame besonders hervor.
Eine Pointe der Regie: Am Ende fällt der Patriarch tot vom Stuhl...
Das ist zunächst der geschmeidige und höhensichere Tenor Petr Nekoranec als besonders ehrgeiziger Bodyguard Asprando. Der ist so skrupellos, dass er weder vor einem Mord vor aller Augen zurückschreckt, noch davor, die Vorliebe des Clanchefs Lottario für seinen gerne vorgeführten Luxuskörper auszunutzen, um die Machtambitionen des Aufsteigers durchzusetzten. Es ist sozusagen das Salz in der Thrillersuppe. Als Clanchef Lottario hat sich Cenčić selbst im Look eines gealterten Paten inszeniert - als Counter steuert er dessen Partie gewohnt stilsicher bei. Eine Handbreit vor ihm gehen freilich sein Kollege Franco Fagioli und Julia Lezhneva durchs Ziel des Arien-Parkours. Sie sind das Liebespaar, das am Ende zueinander findet und das besonders ausgelassen auf das lieto fine zutanzt. Er ist der (hier natürlich nur relativ) ehrliche Sohn Adalgiso. Sie seine Verlobte Gildippe, übrigens zweite Tochter Giuditta (alles klar?). Der spielwütige Fagioli hat alle Gelegenheit, seine besondere Klasse mit dem Verführungspotenzial der Kastraten von einst vorzuführen und nutzt sie. In dem einzigen, gefühlt endlosen Duett mit Gildippe verschmelzen beider Stimmen in entrückter überirdischer Schönheit. Diese Momente der Innerlichkeit sind der musikalische Höhepunkt des Abends.
Am Pult seines Orchesters Armonia Atenea bewährt sich George Petrou als Spezialist für barocken Drive. Er leitet vom Cembalo aus mit Umsicht und Temperament eine Musik, die wie für diesen prächtigen Saal gemacht zu sein schein. Der künftige künstlerische Leiter der Händelfestspiele in Göttingen ist ein kongenialer künstlerischer Partner für Cenčićs großartiges Festival-Projekt.
FAZIT
Mit dem Auftakt für das neue Barockfestival ist Cenčić und seiner Crew unter schwierigen Rahmenbedingungen ein Coup gelungen. Man kann nur hoffen, dass er sich auch im Nachhinein als Anfang für die zweiten Bayreuther Festspiele auf Weltniveau erweist.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
George Petrou
Inszenierung
Max Emanuel Cenčić
Bühne
Giorgina Germanou
Kostüme
Maria Zorba
Licht
David Debrinay
Choreographie
Dimitria Antonaki
Dramaturgie
Boris Kehrmann
Orchester Armonia Atenea
Solisten
Lottario, Kaiser, Sohn Ludwigs des Frommen und Irmgards
Max Emanuel Cenčić
Adalgiso, Sohn Lottarios
Franco Fagioli
Giuditta, Carlos Mutter
Suzanne Jerosme
Eduige, Giudettas Tochter
Nian Wang
Gildippe, Tochter Giuditta, Adagisos Verlobte
Julia Lezhneva
Berardo, Herzog von Septimanien, Anwalt
Bruno de Sá
Asprando, Giudittas Bodyguard, Carols Vater
Petr Nekoranec
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