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Kumpelhafter Wahnwitz
Von Stefan Schmöe
Als der Verleger Anton Diabelli 1819 diverse Komponisten bat, für einen Sammelband doch bitte eine Variation über einen von ihm selbst komponierten, recht derben Walzer zu schreiben, da machte Ludwig van Beethoven bekanntlich sein eigenes Ding - gleich 33 Variationen wurden daraus, Beethovens letztes großes Klavierwerk und gleichzeitig jede Menge Sprengstoff. Zum 250. Geburtstag Beethovens haben sich eine ganze Reihe von Institutionen zusammengetan und Diabellis Idee erneut aufgegriffen: Elf Komponisten, Rodion Shchedrin (geboren 1932) ist der älteste, Johannes Maria Staud (*1974) der jüngste, haben jeweils eine neue Variation verfasst. Natürlich interessiert sich keiner davon für Diabelli, sie alle arbeiten sich geradezu rührend an Beethoven ab. Dessen aberwitzige Konstruktions- und Dekonstruktionsprinzipien werden durchaus originell in der musikalischen Sprache des 21. Jahrhunderts aufgegriffen. Oder doch mehr des 20. Jahrhunderts? Diabelli bat seinerzeit das 11jährige Wunderkind Franz Liszt um einen Beitrag; hier sind die jüngsten Beteiligten ja schon in einem gesetzten Alter, dass Mozart und Schubert (der übrigens auch eine Variation beisteuerte) gar nicht mehr erlebten.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
Mit Lera Auerbach hat es genau eine Frau in den erlauchten Kreis geschafft, aber da sie in der hier gewählten Reihenfolge den Auftakt macht, stiehlt sie den männlichen Kollegen ein wenig die Schau, weil manche Prinzipien ziemlich durchgängig von allen oder doch den meisten verwendet werden: Die Weitung des Tonraums hin zu den extremen Lagen etwa, gerne direkt gegeneinander gestellt; das Herauskristallisieren eines (möglichst banalen) Motivs, das mit Bedeutung aufgeladen wird; der Einsatz bruchstückhafter Erinnerungsmomente. Brett Dean, Christian Jost und Jörg Widmann bringen rockige oder jazzige Elemente ein, Widmann (der den Schlusspunkt setzt) irrlichtert ein wenig anbiedernd durch die Musikgeschichte mit vielen scheinbar falschen Tönen und kommt irgendwann beim Radetzky-Marsch an, nicht ohne Humor; Toshio Hosokawa lässt Fragmente des Walzers auf sympathisch entspannte und entschlackte Art in Cluster auslaufen. Das alles hat seinen Reiz. Rudolf Buchbinder hat die Neukompositionen mit einigen ausgewählten Beiträgen aus Diabellis originalem Album auf CD eingespielt - aber Schubert, Liszt, Czerny & Co. fehlen in diesem Konzert, das auf 70 Minuten (ohne Pause) verkürzt wurde, um den Hygienevorschriften gerecht zu werden. Und weil nur 100 Zuhörer in den Saal dürfen, spielt Buchbinder zweimal, um 17 Uhr und um 21 Uhr (das hier besprochene Konzert ist das spätere). Ein Kraftakt.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
Buchbinder schlägt dann bei Beethovens Diabelli-Variationen ein hohes Tempo an, rast mit großer Geste über so manche Note hinweg, wobei es auf Details nicht weiter ankommt. Die Lautstärke bewegt sich weitestgehend zwischen Mezzoforte und Forte, Differenzierungen werden mehr angedeutet als ausgespielt, und mitunter stolpert Buchbinder in die Schlusstakte einer Variation hinein, als sei er selbst überrascht, dass sie schon zu Ende ist. Immer wieder überrumpelt er den Hörer, etwa mit den plötzlichen Schroffheiten der 22. Variation, die Mozarts Don Giovanni zitiert und bei der Buchbinder die harmonischen Brüche dem Publikum geradezu hinschleudert, um bereits in die Schrecksekunde hinein die nächste Attacke zu starten. Nicht nur hier, wo man sofort wieder Jörg Widmanns Zitier- und Collagetechnik im Ohr hat, funktioniert das gedankliche Zusammenspiel mit den Neukompositionen und die damit verbundene Horizonterweiterung gut. Das Konzept des Diabelli-Projekts geht auf.
Im Programmheft (das vorab digital versendet wurde; in gedruckter Form gibt es das nicht) kokettiert der inzwischen 73jährige, ebenso agil wie eloquent auftretende Pianist damit, schon am Beginn seiner Karriere den Spitznamen "Monsieur Diabelli" erhalten zu haben - Buchbinder kennt seinen Beethoven nicht nur in- und auswendig, es klingt in seinem Spiel auch eine Verbindung mit, als machten sich der Ludwig und der Rudi, Kumpane im Geiste, über die Jahrhunderte hinweg gemeinsam einen großen Spaß, rollen in den Variationen die Musikgeschichte auf und greifen ihr vor, da darf bei Beethoven Bach ebenso anklingen wie Liszt (und zwar der späte). Und da ist jede Menge schöpferischer Wahnsinn im Spiel, der sich nicht weiter um Kleinigkeiten wie eine Verzögerung hier oder einen Akzent dort schert. So sitzt man am Ende des Parforceritts benommen da, während der charmante Österreicher Blumen hygienetechnisch korrekt von einem Roboter, konstruiert von der Ruhr-Universität, überreicht bekommt - Bochum präsentiert nebenbei auch als moderner Wissenschaftsstandort. Buchbinders Beethoven indes kümmert sich auch nicht um Kategorien wie modern oder altmodisch. Der sprengt die Zeiten und lässt den Rest der Musikgeschichte alt aussehen.
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Klavierfestival Ruhr 2020 Bochum, Anneliese Brost Musikforum Ruhr 4. Juni 2020 AusführendeRudolf Buchbinder, KlavierProgrammAnton Diabelli (1781-1858)Walzer in C-Dur Neue Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli (2020) Lera Auerbach (*1973) Diabellical Waltz Brett Dean (*1961) Variation for Rudi Toshio Hosokawa (*1955) Verlust Christian Jost (*1963) Rock it, Rudi! Brad Lubman (*1962) Variation for R. B. Philippe Manoury (*1952) Zwei Jahrhunderte später Max Richter (*1966) Diabelli Rodion Shchedrin (*1932) Variation on a Theme of Diabelli Johannes Maria Staud (*1974) A propos de Diabelli Tan Dun (*1957) Blue Orchid Jörg Widmann Diabelli-Variation Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli op. 120 Die „Neuen Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli“ sind ein Kompositionsauftrag von Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Brucknerhaus Linz, Centro Nacional de Difusión Musical Madrid, Gewandhaus zu Leipzig, Fundação Calouste Gulbenkian Lissabon, National Centre for the Performing Arts Peking, Palau de la Música Catalana Barcelona, Philharmonie de Paris, Stars of the White Nights Festival St. Petersburg, Stiftung Klavier-Festival Ruhr und Tonhalle-Gesellschaft Zürich, gefördert durch die Ernst von Siemens-Musikstiftung. Klavierfestival Ruhr 2020 - unsere Rezensionen im Überblick
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