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Poesie und Klarheit
Von Stefan Schmöe
Wenn man an der Glen Gould School studiert hat, dann darf man sich wohl kleine Extravaganzen erlauben: Jan Lisiecki nimmt sich für die Aria aus Bachs Goldberg-Variationen manche rhythmische Freiheiten, die man wohl bei Chopin erwartet, die bei Bach schon ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein erfordern. Leider bleibt es bei der Aria, dem Thema aus Bachs Variationen, und hier als Zugabe nach einem reinen Chopin-Programm gespielt. Ein wenig manieriert klingt das, sicher, aber sehr spannend. Prompt bereut man, nicht auch den zweiten Abend von Jan Lisiecki "gebucht" zu haben, am Tag darauf mit einem anderen Programm in der Essener Philharmonie. Der gerade einmal 25-jährige Kanadier, Sohn polnischer Eltern (daher die unerwartete Aussprache seines Namens, "Lischetzki"), macht deutlich, warum er bereits zum siebten Mal beim Klavierfestival Ruhr auftritt.
Foto: Peter Wieler / Klavier-Festival Ruhr
Dabei gibt sich Lisiecki weder im Auftreten noch in seiner bemerkenswerten Chopin-Interpretation so, dass man das als "extravagant" bezeichnen wollte, im Gegenteil: Der ideale Schwiegersohn, bescheiden und eloquent, wobei: die knallroten Schuhsohlen haben Pfiff (sage keiner, das habe nichts mit der Musik zu tun: Damit betätigt er subtil und sehr genau bedacht das Pedal). Und bei Chopin findet er stilsicher die Balance zwischen einer verträumt-poetischen Grundhaltung und doch klarem Zugriff. Dem Steinway entlockt er weiche, ungemein delikate und nuancierte Töne, aber eben auch die harte, leicht unterkühlte Brillanz. Da verliert sich einer nicht in verträumter Poesie, von der es jede Menge gibt, sondern begegnet Chopin mit einem klaren Plan.
Foto: Peter Wieler / Klavier-Festival Ruhr
Manchmal fehlt noch ein Moment an Abstand und Abgeklärtheit. Die sieben Einleitungstakte der f-Moll-Ballade Nr. 4 op.52 finden keinen Anschluss und bleiben isoliert; aber solche Momente bleiben die Ausnahme. Lisiecki versteht es immer wieder, in der linken Hand, also der Begleitstimme, Spannung aufzubauen, wodurch sich die Melodiestimme ziemlich frei entfalten kann, und doch bleibt der große Bogen gewahrt. So zeigt sich die Basslinie im c-Moll-Nocturne op. 48/1 ziemlich unbeeindruckt von dem, was drumherum auch an kraftvollen Ausbrüchen passiert, und hält das Stück zusammen.
Die Klangdisposition zwischen Hauptstimme und Begleitung ist genau ausgehört und fein abgestimmt. Lisiecki inszeniert unaufdringlich, aber wirkungsvoll die Harmoniewechsel, so etwa im Es-Dur-Nocturne op.27/2, und im Schwesterwerk in b-Moll (op.27/1) zaubert er einen unwirklich schönen, weltentrückten Schluss hin. Betörend schön gelingt auch das poetische fis-Moll-Nocturne op.48/2.
Virtuosität setzt Lisiecki weitgehend im Sinne der Klangfarbe ein, nicht zu Bravourzwecken. Zum Abschluss aber führt er dann doch Fingerfertigkeit vor, nicht auftrumpfend, aber doch mitreißend: Andante spinato et Grande Polonaise brillante Es-Dur op. 22 führt nicht ohne Grund das "brillant" im Titel. Das Stück bekommt Leichtigkeit, Klarheit und Esprit. Eigentlich ist das, obgleich im Programm ausgewiesen, schon die Zugabe zu den Nocturne. Aber dann noch, als echte Zugabe, die eingangs erwähnte Bach-Aria. Allein auf Chopin festlegen will Lisiecki sich an diesem Abend wohl doch nicht.
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Klavierfestival Ruhr 2020 Konzerthaus Dortmund 8. Juni 2020 (17 Uhr und 20:30 Uhr) (hier besprochen ist das Konzert um 20:30 Uhr) AusführendeJan Lisiecki, KlavierProgrammFrédéric Chopin:Ballade Nr. 4 f-Moll op. 52 Nocturnes op. 27 Nr. 1 cis-Moll Nr.2 Des-Dur Nocturnes op. 9 Nr.1 b-Moll Nr.2 Es-Dur Nocturnes op. 48 Nr. 1 c-Moll Nr.2 fis-Moll Nocturne Nr. 1 e-Moll op. posth. 72 Andante spianato et grande polonaise brillante op. 22 Zugabe: Johann Sebastian Bach: Aria aus den Goldberg-Variationen BWV 988 Klavierfestival Ruhr 2020 - unsere Rezensionen im Überblick
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