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Lichtdurchflutete Grenzüberschreitungen
Von Stefan Schmöe
Fast 200 Jahre liegen zwischen diesen Komponisten: Die drei Sammlungen der Pièces de Clavecin von Jean-Philippe Rameau wurden zwischen 1704 und etwa 1726 herausgegeben, die beiden Hefte von Claude Debussys Préludes entstanden zwischen 1910 und 1913. Dabei mag Debussy auf die Form des frühbarocken Préludes non mesuré zurückgegriffen haben, eine Präludium ohne Taktmaß, das zu Rameaus Zeiten gerade aus der Mode kam. Was Rameau und Debussy über die Jahrhunderte noch viel mehr verbindet, ist der Bezug auf außermusikalische Bilder: Zwar hat Debussy die sinnstiftenden Titel seinen Kompositionen nachgestellt - Programmmusiken sollen das nicht sein - aber die Assoziationen stellt er in den Raum. Rameau wird mitunter durchaus konkreter, raffiniert malt er in Le Rappel des Oiseaux (Das Erwachen der Vögel) das vielstimmige Vogelkonzert nach. Aber oft sind die Titel - wie bei Debussy - nicht so eindeutig auf die Musik zu beziehen.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
Der 1984 in Island geborene Víkingur Ólafsson stellt die beiden Komponisten nicht nur gegenüber, er verschachtelt sie - im ständigen Wechsel ohne Pause zwischen den Stücken. Im Frühjahr hat er dieses Programm als CD-Einspielung veröffentlicht - da darf man von einem Konzeptalbum sprechen. Das Verfahren erweist sich als ausgesprochen spannend, weil der Pianist keine Angst vor Grenzüberschreitungen hat. Sein Debussy klingt hell und klar, wie von romantischer, ja: "impressionistischer" Unschärfe befreit. So lichtdurchflutet lächelnd hat man das Mädchen mit dem flachsfarbenem Haar selten gehört, keineswegs leichtgewichtig, aber entspannt, mit leichter Hand in Töne gemalt. Ólafsson gelingt es immer wieder, kleinen Melodiepartikeln eine Art staunender Naivität zu geben. Der Steinway klingt unter seinen Fingern hell, durchaus hart (die Musik hat jederzeit rhythmische Kontur, auch da, wo der Pianist das Metrum bewusst verunklart), und Ólafsson kann schillernde Karben schaffen - in Ondine aus dem zweiten Heft der Prélude tun sich vibrierende Klang- und Wasserflächen auf, das ist einer der seltenen Momente, in denen er ein donnerndes Forte (in tiefster Lage) spielt.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
Wird Debussy (Ólafsson spielt noch Auszüge aus Estampes und Children's Corner) durch die Präzision, das Bewusstsein der rhythmischen Strukturen, die Leichtigkeit des Spiels geöffnet in Richtung der Barockmusik, so spiegelt sich das in der Konsequenz, mit der er die Musik Rameaus aus den Konventionen ihrer Zeit befreit und den Komponisten als Visionär feiert. Dazu gehört ein gewisses Maß an Exzentrik (nie klingt Rameaus Musik bei ihm nur gefällig), etwa manche extrem kurzen und harten Staccato-Töne, mitunter sehr langsam ausgespielte Triller, auch bei Rameau die Gewichtung kleiner Figuren (auch wenn Ólafsson eine Passage wie nebenbei spielt, klingt das nach einem ganz bewussten "Nebenbei"), manche überraschenden Pausen oder Tempowechsel. Die tonmalerischen Akkordbrechungen in La Poule (Die Henne) schleudert er mit großer Schärfe in den Raum, aber nie geht eine Note verloren.
Rameau war selbst ein begnadeter Virtuose am Cembalo, und entsprechend schwierig sind einige der Kompositionen. Ólafsson kostet mit stupender Technik so manche vertrackte Linie virtuos aus. Er wählt tendenziell schnelle Tempi, ohne zu überdrehen. Die Akkuratesse seines Spiels ist immer wieder verblüffend. Auf der anderen Seite kann er auch sehr poetisch werden, hier vor allem in einer eigenen Bearbeitung eines Zwischenspiels aus Rameaus letzter Oper Les Boréades, dessen absteigende Tonleitern plötzlich eine Nähe zur Musik von Philipp Glass schaffen (eine CD mit Musik des Amerikaners hat Ólafsson 2017 veröffentlicht). Das ist ein ganz eigener und eigenwilliger Blick auf den französischen Barockmeister, aber Víkingur Ólafsson, zum zweiten Mal nach 2018 beim Klavierfestival Ruhr zu Gast, setzt mit diesem ungewöhnlichen, dabei ebenso spannenden und faszinierenden Konzert sicher einen der Höhepunkte des aktuellen Festivals.
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Klavierfestival Ruhr 2020 Mülheim an der Ruhr, Stadthalle (Theatersaal) 28. September 2020 AusführendeVíkingur Ólafsson, KlavierProgrammClaude Debussy (18621918)Vorspiel zur Kantate La Damoiselle élue (Die Erwählte) (Bearbeitung vom Komponisten) Jean-Philippe Rameau (16831764) Suite in e aus: Deuxième Livre des pièces de clavecin Le Rappel des oiseaux Rigaudon I Rigaudon II et Double Musette en rondeau. Tendrement Tambourin La Villageoise Gigue en Rondeau I Gigue en Rondeau II Claude Debussy (18621918) Jardins sous la pluie aus: Estampes Serenade for the doll The Snow is dancing aus: Children's Corner Jean-Philippe Rameau (16831764) Suite in D aus: Premier Livre des pièces de clavecin Les tendres plaintes Rondeau Les Tourbillons Rondeau LEntretien des Muses Claude Debussy (18621918) Des Pas sur la neige aus: Préludes Heft 1 Jean-Philippe Rameau (16831764) Suite in D aus: Premier Livre des pièces de clavecin La Joyeuse Rondeau Les Cyclopes Rondeaus Entrée pour les Muses, les Zéphyres, les Saisons,les Heures et les Arts aus der Oper Les Boréades (Bearbeitung von Víkingur Ólafsson) Claude Debussy (18621918) La fille aux cheveux de lin aus: Préludes Heft 1 Ondine aus: Préludes Heft Jean-Philippe Rameau (16831764) Suite in G aus: Premier Livre des pièces de clavecin La Poule L'enharmonique Menuets I & II Les Sauvages L'Egyptienne Zugaben: Claude Debussy (18621918) Brouillards aus: Préludes Heft Sigvaldi Kaldalóns (1881 - 1946) Ave Maria Klavierfestival Ruhr 2020 - unsere Rezensionen im Überblick
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