Zoff in der Metro
Von Joachim Lange
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Foto von Jean-Louis Fernandez
Das sommerliche Aix-en-Provence hat seit der Eröffnung des neuerbauten Grand Théâtre de Provence 2007 mit der Walküre auch seine Wagner-Programmschiene. In diesem Jahr mit Sir Simon Rattle und dem Londoner Symphonieorchester, dessen Chefdirigent er seit 2017 ist, im Graben, einer standfest sicheren Besetzung auf der Bühne und Simon Stone als Regisseur; für Bühne und Kostüme sorgen Ralph Myers und Mel Page.
Musikalisch ist diese Tristan-Rechnung im Großen und Ganzen auch aufgegangen. Man hatte den Eindruck, dass die Musikfreunde nach einem ausgefallenen Live-Jahrgang 2020 in diesem Jahr (unter Maske und ohne Abstand platziert, da hält man es wie Salzburg) besonders dankbar für große Oper waren.
Einladung zum Dinner (Vorspiel)
Die Schwedin Nina Stemme ist seit vielen Jahren eine der Isolde-Interpretinnen schlechthin und imponiert auch in dem knapp 1400-Plätze-Haus mit ihrer Leuchtkraft und Diktion. Auch der Australier Stuart Skelton ist ein Tristan aus der kleinen Riege der Hochleistungstenöre, die mit dieser Isolde mithalten können. Beide bringen viel Rollenerfahrung mit und wirken wohltuend ausgeruht. Vor allem sie sind ein Hörgenuss. Die übrige Mannschaft vom bewährten Marke des Franz-Josef Selig über den sportiven Kurwenal von Josef Wagner bis zur flippigen, manchmal etwas zu scharfen Brangäne von Jamie Barton kann sich das Ensemble nicht nur hören lassen, es wird auch immer gehört. Dafür sorgt Simon Rattle, dem Tristan und Isolde seit Jahrzehnten vertraut ist. Er nimmt Kirill Petrenko den (Münchner) Referenz-Tristan der Saison sicher nicht ab und touchiert auch nicht die narkotische Wirkung, die Wagners Ausnahmewerk im abgedeckten Graben des Bayreuther Festspielhauses erreichen kann. Aber es ist ein handfester, sozusagen weltzugewandter Tristan-Klang, der der Banalisierung des Grenzüberschreitenden durch die Inszenierung standhält und den Abend mitunter im Alleingang rechtfertigt. Diverse blecherne Lautsprechereinspielungen des Chores ließen sich sicher noch nachbessern. Aber man ist heutzutage ja schon froh, wenn die Orchester in angemessener Besetzung spielen.
Liebe im Büro (2. Aufzug)
Der 1983 in Basel geborene Simon Stone hat weithin bejubelte Meriten vor allem mit Stückeüberschreibungen im Schauspiel erworben. In Aix-en-Provence mischten sich jetzt (hier durchaus unüblich) veritable Buhsalven in den Beifall. Wohl vor allem, weil er bei seinem Versuch, seine Methode auf den Tristan zu übertragen, immer wieder gegen einen offenbar ausgeprägten horror vacui aninszeniert und damit eher sein Misstrauen gegenüber dieser Musik ausstellt. In der Ouvertüre wuselt das gesamte Personal des Stückes im Luxusloft mit Panoramablick über die Dächer (von Paris?) bei einem Abendessen mit feierlichem Anlass durcheinander. Sieht aus wie ein Stück von Yasmina Reza: Ehepaar lädt ein, Eifersüchteleien brechen aus usw. Der ganze erste Aufzug bleibt in diesem Raum gefangen, nur der Ausblick wechselt zu wogendem Meer wie der Blick aus der Kabine eines Luxusliners.
Sink hernieder, Nacht der Liebe
Der zweite Akt wechselt in ein Großraumbüro - offensichtlich der Firma Marke. Wegen Homeoffice sind die 18 Arbeitsplätze schnell geräumt fürs nächtliche Treffen von Isolde und Tristan. Wenn dann die Nacht der Liebe herniedersinkt, illustriert Stone diese singuläre Liebesszene. Während die Musik sagt, was zu sagen ist, um das Grenzüberschreitende zu imaginieren, fängt Stone an, nach und nach mit vier Paaren die große Utopie einer Liebe jenseits des störenden Tageslichtes zu demontieren. Von ganz jung und überschwänglich mit Sex auf dem Chefschreibtisch, mit reinplatzendem Kind der Frau und aufkreuzendem Ehemann, bis zur Gattin, die ihren Mann im Rollstuhl notfalls mit Sauerstoff versorgt. Der Clou dieser Lesart, bei der rein technisch immer irgendwas fein detailliert Ausgedachtes passiert, ist dann der Krimi in der Metro im dritten Akt. Da fährt Stone mit seinen Protagonisten ganz wortwörtlich unter der Oper durch. Es ist eine Geisterfahrt in der Alltagsbanalität in einem Waggon der Pariser Metrolinie Nr. 11. Mit zwei herausgeputzten potenziellen Opernbesuchern und dem bunt gemischten Publikum, samt Mikrodramen, wie es in der Metro halt so ist. Im Dunkeln, mit Halt an diversen Stationen, aber auch mit Blick auf Meer und Berge. Und mit der Endstation Châtelet. Operá wäre zwar ein hübscher Kalauer gewesen, aber da hätte man umsteigen müssen. In der Metro und mit der Inszenierung.
Beziehungsaus in der Metro
Bei dieser abenteuerlichen Fahrt ist es so, dass die von Anfang an eifersüchtige Gattin (Isolde) das Handy ihres immer Ausschau nach anderen Frauen haltenden Gatten (Tristan) kontrolliert und ihn erst vom smarten Sitznachbarn (Melot) abstechen lässt, dann aber nach ein paar Stationen wieder zusteigt und, als Gipfel der Banalisierung, zum Liebestod ihrem Mann den Ehering zurückgibt, um mit ihrem Lover an der Endstation einfach auszusteigen. Liebestod als Beziehungs-Aus bei eifersüchtigem Großstadtpaar. Banaler geht es nicht. Und weiter weg von der Musik auch nicht.
Stone hat viel Mühe auf das illustrierende Drumherum verwendet, lässt meist auch da etwas passieren, wo es nicht nötig ist, ja sogar stört. Dabei schert er sich nicht um die innere Logik seiner Überschreibung im Detail. Vor allem vermeidet er es geradezu panisch, sich auf Wagners Utopie einzulassen. Zu allem, was man hört, sagt die Szene: Das kann nicht sein. Man hört "Höchste Lust" und sieht den Metro-Bahnsteig im Zentrum von Paris. Das sollte nicht sein.
FAZIT
Musikalisch lohnte diese exzellent besetzte Produktion in Aix-en-Provence. Sie kollidierte aber mit der zwar detailgenauen, aber in ihrer Banalisierung trivialen Parallelgeschichte.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Simon Rattle
Inszenierung
Simon Stone
Bühne
Ralph Myers
Kostüme
Mel Page
Licht
James Farncombe
Video
Luke Halls
Choreographie
Arco Renz
Chor
Levi Hammer
Rupert Dussmann
Estonian Philharmonic Chamber Choir
London Symphony Orchestra
Solisten
Tristan
Stuart Skelton
Isolde
Nina Stemme
Brangäne
Jamie Barton
Kurwenal
Josef Wagner
König Marke
Franz-Josef Selig
Melot
Dominic Sedgwick
Ein Hirt / Stimme eines jungen Seemanns
Linard Vrielink
Ein Steuermann
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