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Denk-Würdiges im gestreamten FestivalVon Christoph Wurzel / Foto: © Christoph Wurzel Zweimal
bereits erprobt präsentierte das Festspielhaus zwischen dem 13. und 16.
Mai 2021 zum dritten Mal seine virtuelle Form des "Hausfestspiels" und
ging mit einem noch reichhaltigeren Angebot einige Schritte weiter im
Format der gestreamten Konzerte. Von Jasmin Bachmann kompetent
moderiert und interaktiv begleitet durch Beteiligung des medial
zugeschalteten Publikums mit Kommentaren oder Fragen sowie angereichert
durch Interviews mit beteiligten Künstlerinnen und Künstlern und
filmischen Dokumentationen rund um die Konzerte, standen diese vier
Hausfestspiel-Tage erstmals auch unter einem Motto. "Aufbruch in die
Moderne" war nicht allein auf dieses der Pandemie geschuldete neue
Format gemünzt, es war vor allem auf die Zusammenstellung der Programme
bezogen (dreimal in kleiner Besetzung und ein Orchesterkonzert), deren
Musik jeweils auf eigene Weise eine Zeitenwende ankündigt.
Beabsichtigter Nebeneffekt: Es standen zudem Namen von Komponisten auf
dem Programmzettel, die zu Baden-Baden in einer besonderen Beziehung
standen. Hector Berlioz war um die Mitte des 19. Jahrhunderts häufiger
Gast in der Kurstadt. Igor Strawinsky und Olivier Messiaen arbeiteten
intensiv mit dem Sinfonieorchester des damaligen Südwestfunks in
Baden-Baden zusammen.
Von Berlioz stand auf dem Programm des Nachfolgeorchesters, dem SWR-Sinfonieorchester der Liederzyklus Les Nuits d'Été, zauberhaft gesungen von Véronique Gens und vom Orchester duftig und schwebend koloriert. Igor Strawinskys Oktett für Bläser bildete den spritzigen Anfang dieser Konzertreihe. Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44 als kammermusikalischer Durchbruch der Romantik, Arnold Schönbergs Verklärte Nacht, als letzter Reflex des Komponisten auf die späte Romantik (bevor er sich ganz der Atonalität zuwandte), ein selten gespieltes Werk für Harfe, Flöte, Klarinette und Streichquartett von Maurice Ravel, eine von Antonello Manacorda elektrisierend dirigierte Siebte Symphonie von Beethoven und schließlich die lustvoll verspielte Beethoven-Hommage Con brio von Jörg Widmann spannten den Bogen dieses Festivalprogramms in seiner Vielfalt weit aus. In den Künstlergesprächen ließen sich zudem zahlreiche Bezüge zwischen den Werken aufspüren. Es war ganz ein Festival des SWR-Sinfonieorchesters, deren Musikerinnen und Musiker gemeinsam mit den Pianisten Martin Stadtfeld und Bertrand Chamayou auch in den kleineren Ensembles mitwirkten.
Berlioz-Büste vor dem Festspielhaus in Baden-Baden Das einzige Werk des 2. Abends und zugleich kammermusikalisches Hauptwerk war zweifellos Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du Temps - einmalig in mehrfacher Hinsicht und enigmatisch in seiner Aussage. Daher war diese Aufführung als Erklärkonzert angelegt. In einem ersten Durchgang näherte sich SWR-Musikredakteur Rafael Rennicke gleichermaßen sachlich fundiert wie subjektiv inspiriert in kommentierten charakteristischen Ausschnitten diesem außergewöhnlichen Werk, das man anschließend in ganzer Länge umso intensiver aufnehmen konnte - "Musik für das denkende Ohr" gleichsam, entsprechend einem Satz von Messiaens Schüler Pierre Boulez. Sein Quartett auf das Ende der Zeit schrieb Olivier Messiaen in der existenziellen Ausnahmesituation als Krieggefangener in einem deutschen Lager bei Görlitz. Gemeint ist das Ende der Zeit im apokalyptischen Sinn, allerdings nicht als furchterregende Untergangsphantasie, sondern im erlösenden Sinn einer Transzendenz in die Zeitlosigkeit, die der tiefgläubige Katholik Messiaen als Ewigkeit Jesu verstand. Anhand einer Druckgrafik von Albrecht Dürer hielt Rennicke dem Publikum jene Szene vor Augen, die Messiaen in reinen Klang fasste, die Erscheinung des Engels, der das Ende der Zeiten verkündet, wie sie der Komponist aus der Geheimen Offenbarung des Johannes entnahm. Der Gesang der Vögel und die Visionen der aufgehobenen Zeit bilden die Grundmotive des Stücks, die Messiaen Musikern in die Noten schrieb, die mit ihm das Lagerdasein teilen mussten: je einem Klarinettisten, Geiger, Cellisten und sich selbst als Pianisten - eine Quartettformation, wie sie den fast unglaublichen Umständen geschuldet war, in der der Lagerleiter selbst immerhin soviel Menschlichkeit besaß, dem Komponisten das Notenpapier zu besorgen. Von der ersten Aufführung im bitterkalten Januar 1941 in einer Baracke dieses Lagers ist überliefert, wie überwältigt das "Publikum", d. h. die Mitgefangenen, von dieser Musik gewesen sein muss. War für Messiaen selbst Musik schon ein "Überlebensmittel" schlechthin (Rennicke), so mögen seine damaligen Zuhörer die Kraft und den Zauber seiner Musik ebenso als Stärkung in dieser hoffnungslos erscheinenden Situation empfunden haben. Der Klarinettist Dirk Altmann, der Geiger Christian Ostertag, Frank-Michael Guthmann, Violoncello und Bertrand Chamayou am Klavier gestalteten die acht Sätze dieses Werks zu einem Wunderwerk aus höchst subtil gestalteten Klängen und differenziert in ihrem jeweils charakteristischen Ausdruck. Im ersten Satz entstand aus den Vogellauten in Violine und Klarinette, dem Gazeschleier des Cellofageoletts unterlegt von fast schwebenden Klavierakkorden eine gleichsam ätherische Atmosphäre, im folgenden Satz folgte als Kontrast die Erscheinung des Engels in all seiner Kraft und Dramatik. Dirk Altmann gestaltete den dritten Satz, "Abgrund der Vögel" meisterlich in seiner schroff wechselnden Dynamik aus extremen Höhen und abgründigen Tiefen und dem expressiven Wechsel zwischen Leise und Laut. In der Mitte als vierter Satz folgte ein weltlich spielerisches, fast unterhaltsames Intermezzo. In schier endloses Fließen der Melodie und intensives Glühen des Klangs fasste in gedehntem Zeitmaß der Cellist Frank-Michael Guthmann den musikalischen Gedanken der "Ewigkeit Jesu" im fünften Satz. Apodiktische, homophone Klangblöcke gemahnten an die apokalyptischen sieben Trompetenfanfaren im sechsten Satz, wogegen im folgenden Satz das Wirbeln, Flirren und Verweben der Klänge den Tanz der Regenbögen eindrücklich machte. Zum Abschluss führte Christian Ostertag in einem empfindsamen Violinsolo die Musik behutsam in extreme Höhen, um sie dort verklingend gleichsam in die Unendlichkeit zu überführen. Eine phänomenale Aufführung dieses phänomenalen Werks! Und auch jenen, welche die Religiosität des Komponisten vielleicht nicht teilen, mag sich - auch trotz des nur virtuellen Erlebens - die spirituelle Kraft dieser Musik ganz unmittelbar vermittelt haben. Fazit:
Das
Festspielhaus hat mit dieser durchdachten Programm-Konzeption, die auch
entschlossen in die Moderne führt, einen verheißungsvollen Weg
beschritten, der für Baden-Baden nach vielen Jahren mit mehr oder
weniger konventionellen Programmen einen wirklichen Aufbruch bedeutet.
Und ein noch Tipp: Man lasse sich das Angebot besonders dieses, aber auch der übrigen Konzerte des dritten Baden-Badener Hausfestspiels als Video im Internet nicht entgehen (über die Homepage des Festspielhauses).
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Das Programm:
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- Fine -