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Chopin und die Gespenster der Nacht
Von Stefan Schmöe / Fotos: Peter Wieler
Wenn Grigory Sokolov das Podium betritt, dann hat das etwas wunderbar Altmodisches. Steifer Gang, unbewegliche Mine, die untersetzte Gestalt im Frack. Publikumsscheu ist der inzwischen 71-jährige Russe nicht, er gibt viele Konzerte (beim Klavier-Festival Ruhr ist es sein 23. Auftritt), und seine umfangreichen Zugaben sind legendär. Ausladende Gestik ist ihm fremd, vielmehr ist auch dieser Abend von ungeheurer Konzentration auf das, worauf es ankommt: die Musik, gekennzeichnet. Sokolov spielt Chopin. Und Rachmaninow. Das ist es auch schon (von den Zugaben natürlich abgesehen). Und es ist großartig.
Foto: Peter Wieler / Klavier-Festival Ruhr
Zwei Tage zuvor war beim Klavier-Festival die junge Amerikanerin Claire Huangci zu hören, sehr virtuos, sehr vielfältig in der Gestaltung der Klangfarben. Das kann auch Sokolov, aber er stellt es nicht in den Vordergrund. Wenn der Komponist Fingerfertigkeit verlangt, dann bekommt er die halt, ohne dass Sokolov großes Aufheben darum macht - perlende Läufe zum Zweck, dem Publikum zu gefallen, gibt es nicht, selbst da nicht, wo Chopin das im Sinn gehabt haben mochte. Sokolov spielt auch die technisch komplizierten Passagen nebensächlich, aber sehr genau, überspielt keine Note, nimmt jeden Ton wichtig (aber nicht übergewichtig). Und er denkt vom Klavier her, "pianistisch", weniger orchestral. Das Klangfarbenspektrum ist vordergründig eingeschränkter, weniger effektvoll eingesetzt, aber ungemein fein durchgearbeitet. In Rachmaninows zehn Préludes ist die Vielfalt der Ausdrucksformen phänomenal. Sokolov beschränkt sich auf winzige Zäsuren zwischen den Stücken, hält sie dadurch als Einheit zusammen, vermeidet auch allzu starke Kontraste in den Übergängen. Er will nicht überrumpeln, mehr entwickeln, und das in schillernder Bandbreite. Manchmal scheint er zu staunen, was hier an Feinheiten, an musikalischen Ideen bereit liegt. Man staunt gerne mit.
Zuvor aber Chopin, vier Polonaisen, op. 26/1 und 2, op. 44 und op. 53. Kein zusammenhängender Zyklus, und doch wirken die Werke bei Sokolov als Einheit. Er beginnt die cis-Moll-Polonaise op.26/1 überraschend verhalten, kein Auftrumpfen, sondern ein zurückgenommenes Abtasten, fast introvertiert. Kein Bravourstück, stattdessen ein versonnenes Vor-sich-hin-Spielen. Im Schwesterwerk in es-Moll nimmt er die einleitende Sechzehntelfigur gespenstisch trocken, wie überhaupt so manche Geister durch diese Polonaisen spuken. Es sind Nachtmusiken, und so wird auch die fis-Moll-Polonaise op.44 gerahmt: Unheimliche Klänge zur Einleitung, die das Folgende eintrüben und damit mehr sind als nur eine Einleitung. So lassen sich diese Polonaisen hören als vieraktiges Drama, ein Kampf gegen das Dunkle, manchmal beinahe militärisch Bedrohliche. Das kulminiert in Chopins wohl populärstem Werk dieser Gattung in As-Dur op.53. Auch hier beginnt Sokolov, wie in op. 26/1, überraschend vorsichtig, wieder kein Auftrumpfen. Das hebt er sich für den Schluss auf, quasi eine Siegesgeste, aber um welchen Preis? Zwischendurch gibt es so viel abgründige Figuren im Bass, dass einem angst und bange wird: Ein bitterböser, unbarmherzig strenger Scherzo-Mittelteil, der es in sich hat. Die triumphale Schlussgeste bleibt in diesem Zusammenhang ambivalent, kann und will die Schrecken der Nacht nicht vollständig verdrängen. Eine bewegende, ja: erschütternde Interpretation.
Foto: Peter Wieler / Klavier-Festival Ruhr
Bestechend ist die Stringenz, mit der Sokolov die Musik entwickelt, die nie im Moment verharrt, sondern ein Ziel hat. Die Binnenspannung ist enorm. Da macht es keinen Unterschied, ob eine Komposition hochvirtuos ist oder technisch schlicht wie Chopins choralartiges c-Moll-Prélude op.28 Nr.20, eine der Zugaben. Sokolov beginnt im donnernden Fortissimo, und überhaupt kann Sokolov es auch ordentlich krachen lassen (den Flügel lässt er nach den Chopin-Polonaisen vorsichtshalber nachstimmen, vor Publikum, denn eine Pause gibt es gemäß dem Hygienekonzept nicht), um dann auf faszinierende Weise nach und nach im Nichts zu verschwinden. Auch Steigerungen baut er sorgfältig auf, auch wenn sie schnell von statten gehen. Alles folgt einem Plan, ist aber nicht "verkopft". Stimmungsmalerei hat da wenig Platz. Brahms´ Klavierstück op. 118 Nr. 3 bleibt frei von Sentimentalität, entwickelt sich selbstbewusst und verliert doch nichts von seiner stillen Melancholie. Aber es wird nicht an diese verraten. Chopins Mazurka a-Moll op. 68/2 spielt er mit vielen kleinen Verzögerungen, als öffne er ganz vorsichtig eine Schmuckschachtel von außerordentlichem Inhalt - so wird die musikalische Miniatur zum Wunderwerk. Insgesamt sechs Zugaben spielt Sokolov. Für die meisten Zuhörer hätten es trotz inzwischen zweieinhalb Stunden Konzertdauer auch noch mehr sein dürfen. Keine Frage, es gibt sie, die jungen Pianistinnen und Pianisten, die viel zu sagen haben. Aber der ein bisschen altmodische Grigory Sokolov setzt nach wie vor Maßstäbe.
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Klavier-Festival Ruhr 2021 Philharmonie Essen, Alfried-Krupp-Saal 8. Juli 2021 AusführendeGrigory Sokolov, KlavierProgrammFrédéric ChopinPolonaise cis-Moll op. 26/1 Polonaise es-Moll op. 26/2 Polonaise fis-Moll op. 44 Polonaise As-Dur op. 53 Sergei Rachmaninow Zehn Préludes op. 23 Zugaben: Johannes Brahms: Intermezzo A-Dur aus: Sechs Klavierstücke op. 118/2 Johannes Brahms: Ballade g-Moll aus: Sechs Klavierstücke op. 118/2 Frédéric Chopin: Mazurka a-Moll op. 68/2 Frédéric Chopin: Prélude c-Moll op. 28/20 Alexander Skriabin: Prélude e-Moll op. 11/4 Johann Sebastian Bach/ Bearb. Ferruccio Busoni: Ich ruf zu Dir Herr Jesu Christ BWV 639 Klavierfestival Ruhr 2021 - unsere Rezensionen im Überblick
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