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Und wo bitte bleibt die Transzendenz?von Stefan Schmöe
"Die Scheiße", so befand der tschechische Romancier Milos Kundera, "ist ein größeres theologisches Problem als das Böse". Gott habe den Menschen die Freiheit gegeben, gut oder schlecht zu handeln, und damit auch die Verantwortung für das eigene Tun. "Doch die Verantwortung für die Scheiße trägt allein derjenige, der den Menschen geschaffen hat." Als Dante Alighieri rund 650 Jahre zuvor in seiner commedia divina die Wanderung durch Hölle und reinigendem Fegefeuer ins Paradies beschrieb, haben solche Gedanken wohl eine untergeordnete Rolle gespielt. In der mittelalterlichen Theologie mochte Jesus Christus zwar Nahrung zu sich nehmen, aber nicht verdauen. Gleichwohl: Das unappetitliche Problem bleibt, oder um es wieder mit Kundera zu formulieren: "Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung".
Es sei denn, man akzeptiert die menschlichen Ausscheidungen und serviert selbige auf blitzblank poliertem Tablett, den Verdauungsvorgang bzw. dessen Abschluss in Nahaufnahme gefilmt und auf Großleinwand projiziert, einem Festspielpublikum, das sich bei der Ruhrtriennale ja das Besondere erhofft, das es in München, Bayreuth, Salzburg etc. eben nicht geboten bekommt. Kot und Blut - letzteres immerhin medizinisch sanft und korrekt entnommen - dienen zur Gestaltung eines fiktiven Grabsteins, denn natürlich ist die unbedingte Körperlichkeit eng mit der Sterblichkeit verknüpft. Und eigentlich ja auch mit der Geburt, wodurch die Sexualität ins metaphysische Spiel kommt, was an diesem Abend ein wenig irritierend bleibt, denn Männer gibt es nicht. (Bitte jetzt keine Einwände hinsichtlich einer überkommenen Geschlechtervorstellung - das Theater, und in besonderem Maße dieses hier, lebt von der konventionellen Idee einer letztendlich binären Sexualität.) Der Sexualakt bleibt in dieser Produktion ein rein weiblicher. Allein (mit Pinsel, soweit sich das erkennen lässt) oder zu zweit. Die Reduktion auf das Weibliche immerhin schützt vor dem Vorwurf der Pornographie. Trotzdem: Die Ruhrtriennale empfiehlt den Besuch der Veranstaltung für Menschen ab 18 Jahren. Am Ende der Premiere jubeln vor allem diejenigen frenetisch, die ein Akkreditierungsschildchen der Ruhrtriennale um den Hals baumeln haben, während der größte Teil des Publikums in einem Zustand irgendwo zwischen betroffen und benommen höflich applaudiert.
Die Handlung basiert auf einem surrealen Schauspiel der Malerin, Bildhauerin und Schriftstellerin Leonora Carrington (Die wilde und zweifellos intensive Produktion, die in der Rubrik "Tanz / Performance" geführt wird, verdient ein paar Erläuterungen. Verantwortlich ist Florentina Holzinger, 35jährige Wienerin, seit 2011 mit eigenen Produktionen unterwegs, zuletzt 2019 für Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts. ausgezeichnet. "Holzingers Inszenierungen greifen teils Themen des klassischen Balletts auf […], die sie aber mit Elementen aus Akrobatik, Kampfsport, Stunts, Splatter und Sideshow zwischen Unterhaltung, Trash und Hochkultur positioniert", kann man bei Wikipedia nachlesen. So in etwa ist auch das Programm für A Divine Comedy, eine Auftragsarbeit der Ruhrtriennale, und auch wenn neben den Theatern in Kassel und Freiburg sowie der Berliner Volksbühne noch ein paar ausländische Kulturinstitutionen als Koproduzenten beteiligt sind und das Opus seinen Weg durch die internationale Festivallandschaft machen wird, darf man doch fragen, warum die zähe (und zu lang geratene) sprachlastige Eingangssequenz durchweg in englischer Sprache (ohne deutsche Übertitelung) gehalten ist - sicher, das Sprachniveau ist bescheiden und recht leicht verständlich, aber so legt sich ein unangenehm elitärer Schleier über die Produktion (obwohl Holzinger, so schreibt die Triennale in der Kurzbiographie, die Grenzen zwischen Hochkultur und Entertainment verschieben möchte).
Worum geht es? Eine smarte Moderatorin versetzt sechs Alltagsmenschen in Hypnose; eine junge Frau ist jetzt Dante, und sie wird sich stellvertretend für das Publikum auf die Reise begeben, die Dante in der Göttlichen Komödie unternimmt. Sie wird sich zuvor auch vorstellen, nackt zu sein, wie es schon die Musikerinnen am Bühnenrand sind, einige haben Skelette auf den Rücken geschnallt. (Ach ja, mitten im Leben sind wir natürlich vom Tod umfangen.) Wenn die anderen Hypnotisierten abgehen, ist auch Schluss mit Männern auf der Bühne, dann ist der Abend ganz Sache von unbekleideten Frauen unterschiedlichsten Alters. Was Florentina Holzinger ihren Performerinnen abverlangt, das verschlägt einem allerdings den Atem (und das ist nicht olefaktorisch gemeint): Vom punktgenauen Verdauen über allerlei Stunts, Wälzen in Farbe, Holzhacken, Hürdensprint bis zum, ja, auch den gibt es, Tanz, faszinierend choreographiert vor allem da, wo Formen des barocken Tanzes aufgegriffen und in eine sehr moderne Form überführt werden, das alles beherrschen die Darstellerinnen perfekt. Ein Motorrad dreht seine Runden auf der Bühne, zwei Kleinwagen hängen unter der Decke und zertrümmern am Ende Särge, und zwischendurch führt das Stroboskoplicht zur visuellen Erschöpfung. Per Video erleben wir mit, wie eine tote Ratte präpariert wird. Dazu dröhnt oft eine laute elektronische Maschinenmusik, manchmal gibt es Streicherklänge (oft in glissandierenden Klangflächen). Man Florentina Holzingers Frontalangriff auf Sinne und guten Geschmack des Festspielpublikums als eine modern-theatralische Fortschreibung der barocken Vanitas-Ikonographie verstehen, als einen gewaltigen Totentanz, der in drastischen Bildern, die den Begriff "tabulos" einfordern wollen, die Körperlichkeit vor Augen führt. Entziehen kann man sich dem nicht (es sei denn, man verlässt die Vorstellung frühzeitig - diese Option wählen aber nur einige wenige).
Für so viel Show ist die Botschaft, so denn man eine finden möchte, allerdings ein wenig dünn. Ja, es geht (siehe Programmzettel) um "die nackte Materialität des Seins, und die bekommt man dann auch präsentiert. Dantes Inferno, Purgatorio und Paradiso werden (Feuer! Wollken!) per Videosequenzen angedeutet, aber letztendlich muss Dante einmal mehr als bildungsbürgerlicher Überbau herhalten - die kulturwissenschaftliche Bedeutung seiner Commedia gibt der Produktion, was im Programmzettel als "Bedürfnis nach Transzendenz" bezeichnet wird. Ein nicht unübliches Verfahren in der Kunst. Dass man sich als nicht-binärer männlicher Besucher (Pronomen: er) als unfreiwilliger Voyeur empfindet, das gehört wohl ebenso zum Konzept wie die Lust an Grenzüberschreitung und Tabubruch. Wer am Ende sagt: "Das hat mir gefallen", der tut der Produktion vermutlich Unrecht, denn das ist keine hilfreiche Kategorie. Milan Kundera propagiert ein "ästhetisches Ideal" für eine Welt, "in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existiere sie nicht", und gibt diesem einen Namen: Kitsch. Florentina Holzinger zeigt demnach, was sich unter der glatten Oberfläche des Kitsches befindet, und kalt lässt einen das nicht. Ob man das nicht auch ohne diese Divine Comedy auch immer schon wusste, das ist eine andere Sache.
Mit Lust an der Provokation und ästhetischer Zerstörungswut, die mitunter nach Selbstzweck aussieht, führt Florentina Holzinger weibliche Körperlichkeit und damit irgendwie auch Sterblichkeit vor. Ein paar tolle Bilder gibt es dabei auch. Oft nervig, aber jedenfalls keine Produktion, die einen unbeteiligt lässt.
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Produktionsteam
Konzept, Regie
Bühne
Dramaturgie
Dramaturgie Ruhrtriennale
Real Choreografie
Licht
Video
Technische Leitung
Darsteller / PerformerFoxxy AngelAmanda Bailey Linda Blomqvist Renée Copraij Beatrice Cordua Paige A. Flash Alba Gentili-Tedeschi Noam Gorbat Ria Higler Florentina Holzinger Susanne Jablonski Steffi Laier Annina Machaz Courtney May Robertson Audrey Merilus Xana Novais Maja Osojnik Bärbel Schwarz Anna Tierney Linnéa Tullius Miranda van Kuilenburg Isabelle Volckaert weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2021 - 2023 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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