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Neue Dimensionen des Hörensvon Stefan Schmöe / Fotos © Thomas Berns
Die wichtigste Person sei der Klavierstimmer Urs Bachmann, war in der Einführung zu hören. Das mögen feingeistige Pianisten zwar für eine Selbstverständlichkeit halten, aber hier liegt der Fall anders: Urs Bachmann musste im Vorfeld dieses Konzerts zehn Flügeln (neunmal Steinway, einmal Yamaha) eine gänzlich neue Stimmung verpassen, und zwar jedem eine andere. Es macht eben einen grundsätzlichen Unterschied, ob man den Ton, den ein Pianist durch das Anschlagen einer Taste erzeugt, ein wenig verschiebt, dabei aber in sich rein lässt, oder ob die drei Saiten, die dabei angeschlagen werden, gegeneinander verschoben werden und so ein Dreiklang, freilich mit eng benachbarten Tonhöhen, erzeugt wird. Und auch, ob in jeder Oktave die gleiche Rückung geschieht, der Oktavabstand als Bezugspunkt also erhalten bleibt, oder die Oktave als solche aufgehoben wird. Auch kann man bestimmte Töne äquidistant, sagen wir: um einen Drittelton verschoben werden, wodurch sich manche Intervalle erhalten, oder durch unterschiedliche, nicht-äquidistante Rückungen auch dies aufgehoben wird. Und dann kann man natürlich entscheiden, ob alle Töne oder nur manche (z.B. nur die schwarzen Tasten) verstimmt werden.
Komponist Edu Haubensak, 1954 in Helsinki geboren und in der Schweiz aufgewachsen, hat seit 1989 zehn verschiedene solcher Stimmungen genauer untersucht, sich darin eingehört und für den Zyklus Große Stimmung jeweils ein Werk zwischen 10 und 24 Minuten Dauer komponiert, wobei die Ordnung chronologisch der Entstehung folgt. Es ist ganz erstaunlich zu hören, wie extrem unterschiedliche Klangwelten aus den unterschiedlichen Stimmungen resultieren. Vereinfacht gesagt: Wenn die einzelnen Saiten eines Tons gegeneinander verschoben werden, dann legt sich eine Art Schleier über die Musik und man betritt eine gänzlich neue Klangwelt. Das verstärkt sich, wenn alle genannten Parameter gleichzeitig verschoben werden, die gewohnte temperierte Stimmung also in jeder Hinsicht aus den Fugen gerät wie in Stimmung VIII: Coro Nuovo. Die Komposition, die dem Ohr die gewohnten Bezugspunkte weitgehend nimmt, erscheint wie aus weiter Ferne. Einzelne Töne beginnen durch die Überlagerung nahe benachbarter Frequenzen zu pulsieren und entwickeln ein völlig neues, dem "sauber" gestimmten Flügel unbekanntes Eigenleben. Bleiben dagegen die Töne in sich rein und auch bestimmte Intervalle "sauber", dann klingt die Musik erst einmal vertrauter, die Verstimmungen treten auf wie eine Aufweitung der Farbpalette.
Haubensaks Kompositionen besitzen mehrteilige oder auch mehrsätzige Form; die sechsteilige Stimmung VII trägt ganz traditionell die Bezeichnung Suite und beginnt mit einem mit Ostinato überschriebenen Satz mit einem entsprechend oft wiederholten Motiv (der letzte Satz trägt dagegen die rätselhafte Bezeichnung Einzeller). An anderer Stelle verwendet Haubensak pentatonische Motive, wodurch ein Anklang an fernöstliche Skalen entsteht, und auch an den Impressionismus wird man mitunter erinnert. Es gibt also durchaus Bezüge zu dem, was man aus dem Konzertsaal gewohnt ist. Die Musik entwickelt aber ihre ganz eigene Logik. Auch wenn keine Takte vorgeschrieben sind und die Ausführenden rhythmisch vergleichsweise frei agieren (statt eines festen Metrums sind Proportionen vorgesehen), spürt man ein Metrum, das sich in etwa am menschlichen Puls orientiert. Große Variationen im Tempo gibt es nicht, was auf Dauer ein wenig ermüdet. Auch in der Notation bleibt Haubensak der Tradition verhaftet: Die anzuschlagenden Tasten sind ganz konventionell im klassischen Notensystem notiert - nur klingen die Töne natürlich anders.
In manchen Kompositionen hat die Musik einen beinahe erzählerischen Gestus, Bei Stimmung IV. Halo man am Beginn Glockenklänge erahnen. Stimmung II Spazio (hier sind die Saiten der Töne unterschiedlich gestimmt) schichtet clusterartige Klangbänder übereinander, verschiebt diese durch den Tonraum und erinnert - das Ambiente der Kokerei Zollverein mag da nachhelfen - an metallische Klänge in Industrieanlagen, und wenn der Klang langsam absinkt, wirkt das ein wenig wie ein sich entfernendes Flugzeug (prompt fliegt auch ein solches über die keineswegs schallisolierte Halle). Stimmung III. Veränderte Luft dagegen wirkt streng organisiert, zu Beginn fast meditativ, geprägt von einzelnen Tönen, im Finale mit einer Art Scherzo-Coda. Haubensaks faszinierender Klangkosmos bietet eine Fülle an Überraschungen. Natürlich ist die Musik fordernd, schon wegen der Länge des Zyklus´ von fast drei Stunden (nach Stimmung V gibt es eine 45minütige Pause). Aber die Musik zieht sofort in ihren Bann. Man beginnt schnell, anders zu hören; die Unterschiede in den verschiedenen Stimmungen sind eklatant, jede Komposition hat ihre eigene Aura, und die Frage, ob ein verstimmter Ton nun "schön" sei, ist schnell obsolet: Die hier aufgebauten - oder soll man sagen: befreiten? - Klangräume besitzen eine unmittelbare Sinnlichkeit.
Drei sehr unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten teilen sich den Zyklus untereinander auf: Thomas Bächli ist der ruhige, sachliche, unaufgeregte Interpret. Simone Keller dagegen hält es nicht auf ihrem Klavierhocker, sie springt den Tönen geradezu entgegen, geht körperlich voll mit. Und Stefan Wirth gibt den eleganten Konzertpianisten, mit einigem Pathos und ausladenden Armbewegungen den Tönen folgend, um dann aus dem Handgelenk überrumpelungsartig Fortissimo-Cluster in den Raum zu schleudern (bei Simone Keller sieht man das schon vorher an der Körperspannung). Auch von diesen Kontrasten lebt das Konzert, eine Übernahme von der pandemiebedingt ausgefallenen Ruhrtriennale 2020 unter der damaligen Intendantin Stefanie Carp. Und doch passt dieses Konzert ganz wunderbar zur aktuellen Triennale, die es ganz sicher zu ihren Höhepunkten rechnen darf.
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ProgrammEdu Haubensak:Große Stimmung I - X (1989 - 2005) für Klavier Jede der zehn Kompositionen erfordert ein Klavier in spezieller Stimmung Deutsche Erstaufführung des gesamten Zyklus Ausführende
Klavier
Klavierstimmungen |
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